E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Murata Das Seidenraupenzimmer
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8412-1953-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1953-4
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der neue Roman nach dem Bestseller 'Die Ladenhüterin'.
Japans Erfolgsautorin Sayaka Murata erzählt in ihrem Roman die Geschichte zweier Außenseiter, von Natsuki und ihrem Cousin Yu, die sich jung verlieben und gemeinsam gegen eine Welt verbünden, die besonders Natsuki nicht nur Gutes will. Nur im alten Farmhaus der Familie, in dem früher die Seidenraupen ihren Dienst verrichteten, sind sie glücklich, denn sie sind beieinander. 20 Jahre später geht Natsuki an diesen Ort zurück ...
'Sehr lustig, aufregend beunruhigend und vollkommen überraschend.' Sally Rooney über 'Die Ladenhüterin'.
Sayaka Murata wurde 1979 in der Präfektur Chiba, Japan, geboren. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie bereits mehrere Auszeichnungen. Ihr Roman 'Die Ladenhüterin' gewann 2016 mit dem Akutagawa-Preis den renommiertesten Literaturpreis Japans und war in mehr als einem Dutzend Ländern ein großer Erfolg.
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1
Inmitten der hohen Berge von Akishina, wo meine Großeltern lebten, ließ die Nacht sogar am helllichten Tag noch ihre Splitter zurück.
Während wir die steile Gebirgsstraße hinaufkurvten, blickte ich aus dem Fenster in das dichte schwankende Blätterwerk, das die Äste bis zu ihren äußersten Spitzen bedeckte. Im Wald herrschte schwärzeste Dunkelheit. Wie immer verspürte ich den Drang, meine Hände hinaus in die Schwärze zu strecken, die wie die Farbe des Weltraums war.
Neben mir rieb meine Mutter meiner Schwester Kise den Rücken.
»Geht es denn, meine Kleine? Hach, das Kind verträgt diese Fahrerei durchs Gebirge einfach nicht. Hier in Nagano sind die Straßen auch besonders schlimm.«
Mein Vater hielt wortlos das Steuer umfasst und ging möglichst langsam und vorsichtig in die Kurven, während er ständig in den Rückspiegel nach meiner Schwester sah.
Ich war schon in der fünften Klasse, konnte mich also um mich selbst kümmern. Damit einem beim Autofahren nicht übel wurde, musste man auf eine Stelle vor dem Fenster starren. Seit ich das in der zweiten Klasse entdeckt hatte, wurde mir auf den gebirgigen Straßen in Nagano nicht mehr schlecht. Im Gegensatz zu mir benahm meine zwei Jahre ältere Schwester sich wie ein Kleinkind, und meine Mutter musste ihr auf der ganzen Fahrt durch die Berge den Rücken massieren.
In steilen Serpentinen führte die Straße bergauf, so dass ich am Druck auf meinen Ohren spürte, wie ich dem Himmel allmählich näher kam. Großmutters Haus lag fast im Weltraum.
In dem Rucksack, den ich auf der Brust trug, hatte ich einen aus Origamipapier gefalteten Zauberstab und eine verzauberte Puderdose. Ganz oben saß mein Freund Pyut, von dem ich diese magischen Gegenstände bekommen hatte. Das Syndikat des Bösen hatte Pyut mit einem Bann belegt, deshalb konnte er die menschliche Sprache nicht sprechen, aber er schützte mich vor Reisekrankheit.
Niemand in meiner Familie wusste davon, aber ich war ein Magical Girl. In dem Jahr, als ich in die Schule gekommen war, war ich Pyut im Supermarkt am Bahnhof begegnet. Er lag am Rand eines Stands mit Stofftieren, und ich kaufte ihn als Neujahrsgeschenk. Als ich mit ihm nach Hause kam, gab er mir zu verstehen, er wolle, dass ich ein Magical Girl würde, und gab mir die Zaubersachen. Pyut kam vom Planeten Pohapipinpopopia, wo sie wussten, dass die Erde in großer Gefahr war, und Pyut war von der Zauberpolizei seines Sterns mit dem Auftrag, die Menschen zu retten, zur Erde geschickt worden. Seither beschützte ich als Magical Girl mit ihm unseren Planeten.
Der Einzige, der mein Geheimnis kannte, war mein Cousin Yu, und ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Denn wir kamen nur einmal im Jahr zu Obon – zum Ahnenfest – zusammen.
Ich trug mein bestes T-Shirt, es war dunkelblau mit Sternenmuster. Ich hatte es extra für heute von meinem Neujahrsgeld gekauft und sorgfältig noch mit dem Preisschild im Schrank aufbewahrt, um es heute zum ersten Mal zu tragen.
»Achtung, jetzt geht es noch mal besonders stark um die Kurve«, kündigte mein Vater die vor uns liegende enge Biegung an, die wir auch sogleich im Wageninneren spürten.
Meine Schwester bedeckte stöhnend ihren Mund und beugte sich nach vorn.
»Mach die Fenster auf, damit Luft reinkommt«, befahl meine Mutter. Mein Vater gehorchte sofort, und das Fenster vor mir fuhr herunter. Ein feuchtwarmer Wind strich mir übers Gesicht, und der Duft von Blättern strömte in den Wagen.
»Geht’s, Kind?«, jammerte meine Mutter.
Ohne etwas zu sagen, schaltete mein Vater die Klimaanlage aus. »Die nächste Kurve ist die letzte.«
Bei dieser Ankündigung betastete ich unwillkürlich meine Brust unter dem T-Shirt und spürte durch den BH die kleine Erhebung, die es dort im letzten Jahr noch nicht gegeben hatte.
Ob ich mich seit der vierten Klasse verändert hatte? Yu war genauso alt wie ich. Wie würde er mich finden, wenn wir uns wiedersahen?
Gleich würden wir bei meiner Großmutter ankommen, wo mein Geliebter auf mich wartete. Mir wurde heiß, und meine Haut prickelte, weshalb ich mein Gesicht in den Fahrtwind hielt.
Yu war mein Cousin und mein Geliebter.
Seit wann ich so empfand, wusste ich nicht. Ich hatte Yu geliebt, lange bevor er mein Geliebter wurde. Jeden Sommer sahen wir uns zu Obon bei den Großeltern und waren beste Freunde. Und auch wenn Yu nach dem Ahnenfest wieder nach Yamagata und ich nach Chiba zurückmussten, vergaß ich nie, dass es ihn gab. So etwas wie sein Schatten blieb mir stark und dunkel im Gedächtnis, und ich sehnte mich das ganze Jahr nach ihm. Ein richtiges Liebespaar waren wir aber erst seit der dritten Klasse.
Unsere Verwandten hatten das Flüsschen, das durch die Reisfelder floss, mit einigen Steinen gestaut, so dass wir Kinder darin planschen konnten. Die Strömung war recht stark, so dass sie mir einmal die Beine wegzog und ich rücklings ins Wasser fiel.
»Natsuki! Du musst aufpassen! Die Strömung ist in der Mitte doch viel stärker als am Rand«, hatte Yu gerufen und mir aus dem Wasser geholfen. Das hatte ich auch in der Schule gelernt, aber nicht bedacht, dass es genauso für kleine Wasserläufe wie diesen galt.
»Hier ist es zu reißend. Lass uns woanders spielen.«
Ich stieg aus dem Bach, nahm mein Handtäschchen, das ich sorgfältig auf den Steinen abgelegt hatte, schlüpfte in meine Badeschlappen und machte mich noch im Badeanzug auf den Weg zum Haus. Die kleine Tasche, die sich in der Sonne erwärmt hatte, fühlte sich an wie etwas Lebendiges. Während ich am Reisfeld entlangschlappte, hörte ich Yus Schritte hinter mir.
»Natsuki, warte doch.«
»Lass mich!« Komischerweise war ich in dem Moment irgendwie gereizt. Yu lief zu mir und riss eine kleine Pflanze aus dem Boden, die er sich zu meiner Bestürzung in den Mund steckte.
»Yu, das kannst du doch nicht essen! Du kriegst Bauchweh!«
»Keine Angst. Das ist Knöterich, den kann man essen. Hat mir Onkel Teruyoshi beigebracht.«
Vorsichtig schob ich mir das Blatt, das Yu mir reichte, in den Mund.
»Boah, ist das sauer!«
»Sauer, aber lecker.«
»Wo hast du das gefunden?«
»Knöterich wächst hier überall.«
Wir grasten nun den ganzen Hang hinter dem Haus nach dem Knöterich ab, den wir dann einträchtig nebeneinandersitzend verzehrten.
Mein nasser Badeanzug klebte unangenehm auf der Haut, aber der Knöterich schmeckte unheimlich lecker.
»Zum Dank, dass du mir den gezeigt hast, verrate ich dir jetzt ein Geheimnis«, sagte ich, nun wieder bester Laune.
»Was denn für ein Geheimnis?«
»Ich bin in Wirklichkeit ein Magical Girl und kann mit meiner verzauberten Puderdose und meinem Zauberstab zaubern.«
»Was denn zaubern?«
»Alles Mögliche! Das Coolste ist der Zauber gegen die Feinde.«
»Was für Feinde?«
»Normale Leute können die nicht sehen, aber es gibt viele davon. Böse Hexen oder Gespenster, die mache ich fertig und beschütze so die Erde.«
Ich holte Pyut aus meinem Täschchen, das ich mir über den Badeanzug geschlungen hatte, und erzählte Yu, dass Pyut zwar mit gewöhnlichen Augen gesehen nur eine weiße Plüschmaus sei, in Wirklichkeit jedoch ein Abgesandter der Polizei von Pohapipinpopopia. Und ich den Stab und die Puderdose von ihm hätte.
»Natsuki, du bist toll«, sagte Yu ernst, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. »Nur weil du die Erde beschützt, können wir hier in Frieden leben.«
»Genau.«
»Und was ist dieses Pohapipindingsbums für ein Stern?«
»Das weiß ich auch nicht. Es ist vertraulich, meint Pyut.«
»Ach so.«
Yu sah mich neugierig an. Der fremde Planet schien ihn mehr zu interessieren als meine Zauberkünste.
»Was guckst du denn so?«
»Also … das erzähle ich jetzt auch nur dir: Ich bin wahrscheinlich ein Außerirdischer.«
»Was!?«, rief ich bestürzt.
»Ja«, fuhr Yu mit ernster Miene fort. »Mitsuko sagt immer: Yu, du bist ein Außerirdischer. Ein Raumschiff hat dich hier in Akishina ausgesetzt.«
»Wirklich?«
Mitsuko war Yus Mutter. Sie war eine hübsche Frau, die jüngste Schwester meines Vaters und damit meine Tante. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine erwachsene Frau, die ähnlich scheu war wie Yu, bei so etwas log oder Witze darüber machte.
»Außerdem liegt in meiner Schublade ein Stein, den ich nicht selbst gefunden und hineingetan habe. Er ist pechschwarz, flach und glänzend und hat eine Form, die ich noch nie gesehen habe. Also frage ich mich, ob es nicht ein Stein aus meiner Heimat sein könnte.«
»Also bin ich ein Magical Girl, und du bist ein Außerirdischer? Wahnsinn!«
»Aber ich habe keinen richtigen Beweis so wie du, Natsuki …«
»Doch, du hast bestimmt recht. Vielleicht ist deine Heimat ja der Planet Pohapipinpopopia? Wie cool, dann wärst du ja vom selben Stern wie Pyut!« Aufgeregt beugte ich mich vor.
»Wenn das wirklich stimmt, möchte ich irgendwann dorthin zurück.«
Yus Ankündigung erschreckte mich so sehr, dass mir beinahe die magische Puderdose aus der Hand fiel.
»Du willst also zurück …?«
»Immer wenn wir zu Obon herkommen, halte ich heimlich Ausschau nach dem Raumschiff. Aber ich habe noch nie...