Muschg | Löwenstern | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 331 Seiten

Muschg Löwenstern

Roman
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-406-63952-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 331 Seiten

ISBN: 978-3-406-63952-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In seinem neuen Roman erzählt Adolf Muschg die Geschichte von Hermann Ludwig von Löwensterns (1777–1836) Versuchen, nach Japan zu gelangen. Der Balte hatte im Auftrage des russischen Zaren an Adam von Krusensterns erster Weltumseglung teilgenommen und kennt auch die dramatischen Ereignisse des zweiten russischen Versuchs unter Wassili Golownin, der mit dessen Gefangenschaft in Japan endet.
Golownin hat über dieses Abenteuer geschrieben. Löwensterns eigenes Lebensabenteuer, das um "die Entdeckung" eines Landes kreist, das sich seit Jahrhunderten abgeschottet hat, führt ihn selbst in eine prekäre Gefangenschaft, aus der ihn nur die Liebe wieder befreien kann. Im Zentrum des Romans steht die leidenschaftliche, extreme Liebesgeschichte Löwensterns mit Nadja, die auf vielfältige Weise mit den Protagonisten dieser Geschichte – realen historischen Figuren – verbunden ist. Diese Liebe stellt alles infrage und auf den Kopf, Rollen, Gefühle, Sprache und Erotik. Löwensterns geheime Geschichte hat ihn zu Aufzeichnungen inspiriert, die auf verschlungenen Wegen in Adolf Muschgs Hände gelangt sind. Japan als Projektion und Erlebnis ist auch ein Lebensthema Muschgs. In diesem spannenden, auf historischen Tatsachen beruhenden Roman liefert Muschg zugleich ein Vexierbild über das Spiel zwischen dem Eigenen und dem Fremden.

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II
Paris. Das Duell
  1 Exzellenz,
Ihr Brief hat mich sehr überrascht. Wer hätte gedacht, daß Sie sich nach fünfundzwanzig Jahren noch an das Kind erinnern, das Sie im Mai 1777 in St. Johannis aus der Taufe gehoben haben. Es hat meinem Vater Spott und Häme eingebracht, daß er sich erlaubte, einen Mann wie Sie für diesen Dienst in Anspruch zu nehmen. Ihre Erhebung in das hohe Staatsamt stand bevor und rückte das Löwensternsche Familienfest ins schiefe Licht einer gewissen Spekulation. Gott hat unsern Stamm zwar ordentlich wachsen lassen, aber den Boden, auf dem er gedeihen soll, nicht ebenso vermehrt. So habe ich ihn als Seeoffizier wohl oder übel verlassen und dabei meine Grenzen kennengelernt; um auf Wasser zu gehen, dazu gehört eine andere Statur. Ich bin viel herumgekommen und ebensooft gestrandet, vorzugsweise im Hafen. Es kommt vor, daß ich mich mit fünfundzwanzig schon zu alt fühle für das Leben, das ich mir als Bub vorgenommen habe. Bin ich noch ein freier Mensch oder nur noch einer, den nichts und niemand mehr hält? Auf Ihre Protektion, Exzellenz, habe ich nie gebaut. Auch scheitern möchte ich lieber auf eigene Rechnung, als auf jemandes Kosten mein Glück zu machen, oder durch jemandes Gnade. Sogar mein Bruder Woldemar hat es aus eigener Kraft geschafft – immerhin zum General im Korsakowschen Korps. Er wurde gerade zurückerwartet, als ich, nach sechs Jahren Dienst auf englischen Schiffen, wieder einmal bei meiner Sippe einkehrte. Ich wettete, daß er mich nicht mehr kannte, und verabredete mit den Schwestern, sie sollten mich als englischen Offizier in Zivil vorstellen, der in Rasik vorgesprochen habe, um dem Helden von Zürich Respekt zu erweisen. Die Komödie gelang, Woldemar erkannte mich nicht, war aber beflissen, mir nicht nur in bestem Englisch zu antworten, sondern auch sein taktisches Genie vor Augen zu führen. Nun sind die Unsern leider bei Zürich im zweiten Anlauf so tüchtig geschlagen worden, daß sie über alle Hügel flohen und dabei sogar ihre Kriegskasse zurückließen. Aber dem guten Woldemar genügten seine taktischen Siege so sehr, daß er meine Fragen als Beleidigung der russischen Ehre empfand und den unverschämten Gast forderte. Ich nahm den Handschuh in britischer Ruhe auf und trieb die Sache so weit, daß wir uns am nächsten Sonnenaufgang in der Taxusallee wirklich mit der Pistole in der Hand gegenüberstanden. Da erst warf sich mein gutes Malchen schreiend ins Mittel und gab mich dem Bruder zu erkennen. Das Lachen, zu dem Woldemar sich aufraffte, war nicht eben herzhaft, und die Waffe in seiner Hand zeigte mir deutlicher als viele Worte, wie es um mein Heimatrecht in Rasik stand. Nun kommt mir das Englische in der Tat leichter über die Lippen als meine deutsche Muttersprache – vom Russischen zu schweigen, das ich nie beherrscht habe; denn in guter Gesellschaft haben wir natürlich Französisch gesprochen. Zur Sprache des Feindes ist sie für mich nie geworden, außer im Mund des dümmsten russischen Adels. Sie haben Dringenderes zu tun, als diesen Brief zu lesen. Als Regent zweier Majestäten haben Sie immer Wichtigeres zu tun gehabt, als sich um meine Existenz zu kümmern. Darum überwältigt es mich ein wenig, daß Sie mich plötzlich bemerken; daß Sie meinen Brief in Cobbett’s Political Register zur Kenntnis nehmen, den ich nicht einmal gezeichnet habe, und daß Sie mir eine Verwendung anbieten. Oder habe ich nicht recht gelesen? Wofür glauben Sie, mich verwenden zu können? Und, wenn Sie mir den unverfrorenen Zusatz erlauben: mit welcher Vollmacht? Sie haben sich nach dem Unfall des Zaren selig aller Ämter entschlagen und auf Ihre Güter zurückgezogen, aus freien Stücken, wie es heißt; ich will es glauben. Aber wie könnte der junge Zar, dem Sie endlich auf den Thron Katharinas geholfen haben, auf die Dauer Ihre Dienste entbehren, Ihren Rat? Arrêtez de jouer – reignez! Damit sollen Sie den jungen Mann hochgerissen haben, als er vom Ende seines Vaters erschüttert, von der Herrschaft, die ihm mehr drohte als blühte, geknickt war. Meine Pariser Freunde zitieren das mot mit Ehrfurcht, und dazu gehört bei Franzosen allerhand. Was hat es, aus solchem Mund, zu bedeuten, daß Sie mir eine Verwendung anbieten? Doch könnten Sie es tun, wenn Sie über mich nicht längst Bescheid wüßten? Sie kennen ja sogar meine Adresse im Angleterre, von der ich bis vor kurzem selbst nicht gewußt habe. Der Nachtportier, der mir Ihren Brief zusteckte, sagte: Aber schweigen Sie und händigen Sie mir Ihre Antwort persönlich aus. Was ist er für eine Persönlichkeit? Das ist etwas viel des Unerhörten; wozu wollen Sie mich verwenden? Und wie kann ich Ihnen signalisieren, wofür ich nicht zu gebrauchen wäre? Vorweg, Exzellenz: mir droht ein gewisser Termin. Ich habe wieder mit Pistolen um die Ehre Rußlands anzutreten, und wieder gegen einen Kontrahenten, der unter Ehre etwas anderes versteht als ich. Nur handelt es sich diesmal nicht um einen Scherz unter Brüdern. Fürst Fjodor Tolstoi, noch nicht zwanzig, hat schon mit siebzehn sein erstes Duell ausgetragen, mit Todesfolge für den Gegner, und trifft den Vogel im Flug. Auch darin unterscheiden wir uns, entschieden zu meinem Nachteil. Der Fall, der mir naturgemäß auf der Seele liegt, droht, die Möglichkeit meiner Verwendung stark zu begrenzen. Doch reden wir von meinem Pamphlet. Warum läßt jemand, ein Niemand wie ich, einen Brief über große Politik in Cobbett’s Political Register drucken? Wofür will er bürgerlich gutstehen, wenn auch nicht gerade mit seinem Namen? Aber welchen Namen hätte ich mir gemacht? Seit Iwan dem Schrecklichen greift Rußland nach Sibirien, bis an die Grenze des Großen Ozeans; seit einigen Jahrzehnten greift es nach dem nördlichen Amerika, und seine Hand wird immer blutiger. Die Kälte des Herzens macht sie unempfindlich gegen einheimische Völker, die sie noch erbarmungsloser drückt als das eigene. Wenn der Zar zehntausend Werst von Petersburg entfernt überhaupt ein Geschäft hat: muß er es von Schindern besorgen lassen, die Menschen die Haut über die Ohren ziehen wie Zobeln den Pelz? Das heilige Rußland soll sich eine Grenze setzen, die nicht jeder Lump oder Schuft ungestraft überschreiten kann, und zur Zeit sind nur solche robust genug dafür. Es ist nicht nötig, daß wir Naturvölker mit der Knute bekehren; daß wir nichts verbreiten als Feuerwasser, Geschlechtskrankheiten und die Barbarei des schnellen Rubels. Bevor sich Rußland bis nach Amerika vergrößert, muß es in der Zivilisation angekommen sein. Die Neue Welt verlangt mehr alten Anstand. Doch der Ausgangspunkt meiner Zuschrift, Exzellenz, war eine private Erschütterung. Im vergangenen Sommer traf ich vor der Isaakskathedrale einen Mann mit Holzbein, den ich für einen Tataren oder Kalmyken hielt; einen Bettler jedenfalls, dem ich ein paar Kopeken zuwarf. Darüber schien er so erschrocken, daß er aufstehen wollte, schneller, als sein Gehwerkzug erlaubte. Ich mußte ihn halten, sonst wäre er gestürzt. Danach verbeugte er sich tief. Ich fragte, was ich denn für ihn tun könne, denn er war abgemagert bis auf das Skelett und fahl wie der Tod. Er verbeugte sich wiederum so heftig, daß ich nicht erriet, ob das ja oder nein zu bedeuten hatte, und fragte, wie er heiße. Er flüsterte einen russischen Namen und fügte hinzu: Aber ich bin Japanese. – Wie kommen Sie nach Petersburg? – Ich bin ein Schiffbrüchiger auf den Alëuten, viele Russen retten mich, denn Gott will mich leben lassen. – Welcher Gott? fragte ich. – Ihr und mein Gott im Himmel, sagte er, er sei gelobt. – Warum sind Sie nicht in Ihr Vaterland zurückgekehrt? – Gott will es nicht, und meine Landsleute auch nicht. Dann bin ich ein Gefangener. – Und hier sind Sie frei? – Ich erfahre unendliche Wohltaten. Sein japanesischer Name war Koichi, Fischer aus der Provinz Ise. Und wovon lebte er jetzt? Ich habe die Ehre, Lehrer zu sein. – Was lehren Sie denn? – Meine Sprache, sagte er, in Irkutsk. – Wer lernt Japanesisch in Irkutsk? – Meine russischen Freunde, auf Geheiß der großen Kaiserin, sie empfängt uns und befiehlt Professor Rakusuman, eine japanische Akademie zu gründen, in Petersburg. Jetzt ist sie in Irkutsk, und Professor Rakusuman erlaubt uns zu unterrichten. Von dieser «Akademie» hatte ich noch nie gehört, doch den Namen Laxmann erriet ich zur Not, denn die Aussprache des Japanesen war höchst befremdlich. Noch verwirrender war sein Umgang mit Zeitformen, dem Vorher und Nachher von Ereignissen; er tauchte alles gleichmäßig in sein dürftiges Präsens, das vielleicht mit seiner überbordenden Frömmigkeit zu tun hatte. Für seine Augen ruhte jede Zeit gleichmäßig in Gottes Hand, und ich mußte mir Folge und Zusammenhang selbst zusammenreimen. Ich wußte, daß ein Laxmann als noch junger Mann Japan besucht hatte, im Auftrag der Zarin Katharina, und als ersten Schritt zu weiteren Handelsbeziehungen einige schiffbrüchige Japanesen...


Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u.a. von 1970–1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003–2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane 'Im Sommer des Hasen' (1965), 'Albissers Grund' (1977), 'Das Licht und der Schlüssel' (1984), 'Der Rote Ritter' (1993), 'Sutters Glück' (2004), 'Eikan, du bist spät' (2005) und 'Kinderhochzeit' (2008), wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis und der Grimmelshausen-Preis. Unter dem Titel 'Wenn es ein Glück ist' erschienen 2008 Gesammelte Liebesgeschichten Muschgs. Seine essayistischen Werke beschäftigen sich u.a. mit 'Literatur als Therapie?', Gottfried Keller, Goethe und Japan.



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