E-Book, Deutsch, 239 Seiten
Mynarek Eine Jugend im Osten des Dritten Reiches
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7427-0806-9
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 239 Seiten
ISBN: 978-3-7427-0806-9
Verlag: neobooks
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Hubertus Mynarek, Autor
Autoren/Hrsg.
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Viertes Kapitel
Die Versöhnungsversuche ehemaliger Hitlerjungen mit Polen
Aber kehren wir wieder zu Konkreterem zurück. Wir schreiben inzwischen das Jahr 2007. Und siehe da: Die alte Marine-HJ marschiert wieder! Natürlich nicht in Uniform und nicht im Marschschritt. Aber immerhin: lm Jahr 2007 macht sich eine Delegation aus Westdeutschland nach Groß Strehlitz in Oberschlesien auf. Ihr gehören frühere Schüler des dortigen Gymnasiums Johanneum am Annaberg an, die während der Nazizeit diese Schule besuchten und jetzt in Westdeutschland wohnen. Unter ihnen wieder die Crème de la Crème, die letzten Überlebenden der glorreichen Marine-HJ, sechs an der Zahl, zusammen mit ihrem einstigen „Kapitän“ oder „Admiral“, der es sich nicht nehmen lässt, mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit mitzumachen, nachdem er es in den vorausgegangenen Jahren nach dem Untergang des Reiches doch lieber vorgezogen hat, das inzwischen polnische Schlesien nicht zu besuchen. Es hätte – unmittelbar nach dem Krieg – Unannehmlichkeiten für ihn geben können.
Aber jetzt, da so viel Zeit vergangen und die deutsch-polnische Versöhnung auf dem Boden Schlesiens voranzutreiben ist, darf doch er nicht fehlen. Und das Datum für den Besuch von Groß Strehlitz, in dem er zwar nicht geboren ist, aber ein paar Jahre seiner Jugendzeit verbracht hat, ist günstig. Denn eine solche Versöhnung ist in Polen ohne die katholische Kirche nicht denkbar. Und diese feiert gerade im Sommer 2007 feierlich und ergiebig das Jahrhundertjubiläum der Erbauung der Kirche des hl. Laurentius (polnisch: éwietego Wawrzynca) in Groß Strehlitz. Also werden die Honoratioren aus Westdeutschland gleichermaßen feierlich sowohl von der polnischen Geistlichkeit der Stadt als auch vom Direktorium des nunmehr polnischen Gymnasiums herzlich zu verschiedenen Feiern und Begegnungen eingeladen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn man sich vergegenwärtigt, dass bei diesen Anlässen die einstigen Elitären von der nationalsozialistischen Marine-HJ dem polnischen Direktor, den polnischen Lehrern des Gymnasiums gegenübersaßen und überaus herzlich mit ihnen palaverten. Nein, die ersteren haben ja auch nicht die polnische Intelligenz bekämpft, dazu waren sie auch noch zu jung, genossen sie doch die Gnade der späten. Geburt. Aber feststeht, dass die Nazis gern die ganze polnische lntelligencja vernichtet hätten, und dieser Direktor und dieser Lehrer Nachfahren dieser „lntelligencja“ sind. Wie hätten sie wohl reagiert, wenn sie die Vergangenheit derer, die ihnen da gegenübersaßen, gekannt hätten?
Fast noch komischer wirkt der neue Schulterschluss der ehemaligen jungen Braunen mit der Kirche. In der Nazizeit gingen sie alle samt nicht in sie. Das schien ihnen zu gefährlich, konnte Nachteile in vielerlei Hinsicht nach sich ziehen. Jetzt aber übernachten manche von ihnen sogar im Pfarrhaus der Groß Strehlitzer Geistlichkeit, bewohnen das luxuriöse Hotel in Groß-Stein nahe Groß Strehlitz, das der Diözese Oppeln gehört. Es wird das herzlichste Einvernehmen zwischen der Kirche am Ort und diesen Ehemaligen manifestiert, ja regelrecht demonstriert.
Klar, Letztere haben sehr schnell kapiert, welche Macht die Kirche nach dem Krieg wieder repräsentiert, nachdem sie sich vorher durch Widerstand gegen Hitler keineswegs hervorgetan hatte. Gerade der Breslauer Erzbischof, Kardinal Bertram, hat immer wieder devote Grüße und Glückwünsche an Hitler gesandt, hat noch nach dessen Selbstmord eine Totenmesse für ihn zelebriert. Bald nach dem Krieg etablierte sich in Deutschland trotz der vom Grundgesetz befohlenen Trennung von Staat und Kirche wieder eine neue Staatskirche, ein neuer Kirchenstaat.9
Leute also, die im Hitler-Staat nolens volens gelernt haben, vor der Macht einzuknicken, sich ihr zu beugen, sich vor ihr zu fürchten, tragen diesen Machtkomplex nun weiterhin in sich und spüren sofort mit großer Sensibilität, wer heute die Macht hat, an den Schalthebeln der Macht sitzt. Sie sehen, dass es kein Politiker in Deutschland wagen würde, es sich mit der Kirche zu verderben. Sie, die in der Perspektive der langen und vielfältigen Weltgeschichte der Religionen die unheilvollste Biografie hat, ist zur höchsten moralischen Autorität vieler Staaten avanciert. Auf jeden Fall, wenn auch auf unterschiedliche Weise, in Deutschland und Polen. Die Wahl Karol Wojtylas zum Papst hat in Polen, die von Ratzinger hat in Deutschland die enge Bindung zwischen Staat und Kirche nochmals verstärkt. Also weiß jeder deutsche und polnische Konformist und Opportunist: „Mit der Kirche muss man sich gut stellen.“ Also haben auch unsere ehemaligen „Heiden“ aus der Nazizeit schnell registriert, was die Stunde geschlagen hat und machen dementsprechend überhaupt nichts Offizielles mehr ohne die Kirche.
Ich empfand es als geradezu lächerlich, dass bei allen Klassentreffen der ehemaligen Schüler des Groß Strehlitzer Gymnasiums, die man in Westdeutschland veranstaltet, nun stets ein katholischer Priester dabei sein musste, der eine feierliche Messe und Predigt für die hielt, die in der Nazizeit alles andere als fromm oder christlich gewesen waren, jetzt aber offensichtlich ohne den alles gutmachenden oder zum Besten wendenden Segen des Pfarrers nicht mehr leben und ihre Treffen feiern können oder wollen.
Sie sind alle fromm und kirchlich geworden, weil der Trend heute in Deutschland und Polen prokirchlich ist. Damals war er eben anti-kirchlich, da konnte man ja nicht anders, als seine „immer schon vorhandene“ Prokirchlichkeit vor den Nazis zu verstecken. Übrigens sind die Frauen der ehemaligen Schüler des Groß Strehlitzer Gymnasiums in ihrer Mehrzahl heute noch bigotter und kirchenfreundlicher als ihre Männer, obwohl sie in der Nazizeit nicht selten über die Stränge schlugen und oft keineswegs brave Lämmer im Sinne der kirchlichen Moral, insbesondere der Sexualmoral waren.
Natürlich meldet sich obendrein mit zunehmendem Alter die Religiosität in ihnen wieder, freilich eine recht primitive. Sie stellt den Braven den Himmel, den Bösen die Hölle in Aussicht. Und das, was man für den Lohn im Himmel tun muss, ist nicht schwer und besteht in äußerlichen Werken (Gottesdienstbesuch jeden Sonntag, Sakramentenempfang). Auf die innere Gesinnung wird kaum geachtet, die kann man ja auch nicht registrieren und in stolzen kirchenoffiziellen Statistiken präsentieren.10 Hinzu kommt das Überlegenheits- und Auserwähltheitsgefühl bei vielen, weil man doch der einzig wahren, allein seligmachenden Kirche angehört, der Kirche, die über Heil und Unheil der Menschen entscheidet und deshalb „zu Recht“ eine so bestimmende Rolle in der Gesellschaft spielt. Dabei ist jede Religion, die für die Kontaktnahme des Menschen zum Göttlichen Priester als Mittler, als „Zwischenstation“ braucht, eine niedrigere Form und Stufe der Religion.
Da ich bei diversen Klassentreffen mehrfach, aber keineswegs aufdringlich meine Kritik an der nunmehr herrschenden „wunderbaren“ Harmonie zwischen den „Ehemaligen“ und der Kirche sowie ihren Geistlichen äußerte, hielt mir ein ehemaliger Napola-Schüler entgegen: „Das ist nicht gut, dass du dich mit deinem Kirchenaustritt gegen die Macht der Kirche gestellt hast. Jede gerade regierende oder mitbestimmende Macht ist Ordnungsmacht. Sich dagegen zu stellen, ist dumm und bringt nur Nachteile. Außerdem ist es sozial schädlich.“
Ein anderer früherer Mitschüler, inzwischen promoviert, schämte sich schon ein wenig, dass er noch der hierarchisch-autoritären, „unfehlbaren“ Kirche anhing. lm Beisein seiner Frau erklärte er mir, er trage sich mit dem Gedanken, zur altkatholischen Kirche überzutreten, da diese wenigstens die Unfehlbarkeit des Papstes negiere. Wie von der Tarantel gestochen, empörte sich da seine Frau: „Du trittst mir doch nicht so einer lächerlich kleinen Sekte wie der der Altkatholiken bei. Du bleibst in der großen, weltweit geachteten katholischen Kirche!“ Sie muss ihren Mann danach noch monatelang bearbeitet haben, denn beim nächsten Klassentreffen – direkt vor der Messe, zu deren Zelebration man wieder einen Priester aufgetrieben hatte – zischte er mir zu, ich sei ja doch verdammt, weil ich an den Segnungen und Gnaden der Kirche nicht mehr teilhaben könne. Kein Zweifel, seine Ehefrau hatte ganze Arbeit geleistet! Man sieht aber auch, was dieser Frau imponierte. Nicht etwa eine tiefere, innerliche Religiosität oder Spiritualität, die diese Kirche vorzuweisen hätte, sondern deren Macht und machtvolles Auftreten in der Öffentlichkeit, ihr gesellschaftlicher Einfluss, ihr monumentaler Pomp und dergleichen mehr Äußerlichkeiten.
Ein anderer ehemaliger Mitschüler wies vor mir in unüberbietbarer Naivität darauf hin, dass ja nicht alles falsch sein könne, was er im Religionsunterricht der Schule und in den zwei Semestern seines abgebrochenen Theologiestudiums gelernt und gehört habe. Dieser Mensch traf tatsächlich den Kern der Sache! Denn ich hatte ein ums andere Mal bemerkt, dass eine weltanschauliche oder religionsphilosophische oder vergleichende religionsgeschichtliche, ja jede tiefere Diskussion mit meinen ehemaligen Schulkameraden völlig fehl am Platz war, sie waren in religiösen und philosophischen Dingen total ahnungslos, geradezu infantil. Sie hatten nach ihrer „Rückkehr“ zum Katholizismus, nach dem Zwischenstadium der Nazizeit, diesen nicht etwa studiert, vertieft, inhaltlich besser kennengelernt, sondern sich ihm lediglich deshalb zugewandt, weil sie, natürlich unbewusst, noch immer in den Kategorien der Macht und der Herrschaft dachten und bemerkt hatten, dass die Kirche über gehörigen Einfluss verfügt, eine der bestimmenden neuen „Ordnungsmächte“ ist, mit denen man sich gut stellen, denen...