E-Book, Deutsch, 263 Seiten
Nacke / Tannert Der Mittagsmörder
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86913-160-3
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 263 Seiten
ISBN: 978-3-86913-160-3
Verlag: ars vivendi
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Petra Nacke wuchs in Norddeutschland auf. Später zog sie nach Nürnberg und studierte Theaterwissenschaften und Literaturgeschichte in Erlangen. In München absolvierte sie am Performing Arts Center eine Ausbildung in Schauspiel, Gesang und Tanz. Heute lebt sie wieder in Nürnberg - als freie Autorin, Moderatorin, Rezitatorin und Sängerin. Seit 1997 ist sie feste freie Mitarbeiterin des Bayerischen Rundfunks. 2002 erhielt sie mit dem Ensemble Feinton den Kulturförderpreis der Stadt Nürnberg. Elmar Tannert wurde 1964 in München geboren. Nach einer kaufmännischen Ausbildung studierte er Musikwissenschaft und Romanistik. Von 1991 bis 2003 war er in verschiedenen Berufen tätig. Ab 1994 erfolgten erste Veröffentlichungen seiner Kurzgeschichten in diversen Zeitungen. Seit 2003 ist er freier Schriftsteller und arbeitet u.a. für den Bayerischen Rundfunk und bei der Abendzeitung Nürnberg. Für seine literarischen Arbeiten erhielt er 1999 den Kulturförderpreis der Stadt Nürnberg sowie des Freistaates Bayern, 2001 den Kulturförderpreis des Bezirks Mittelfranken.
Autoren/Hrsg.
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Sehr geehrter Herr Hirschmann, ich würde Ihnen im Rahmen meiner Diplomarbeit gerne ein paar Fragen zum Themenkomplex Mittagsmörder stellen ... und so weiter und so fort ... mit freundlichen Grüßen, Corinna Metzner.
»Themenkomplex Mittagsmörder« – wie sich das schon anhört. Aber genau so denken diese Psychologen. Als würde die ganze Welt nur aus Komplexen bestehen. Vielleicht tut sie es mittlerweile auch. Die Welt ist verrückt geworden, ist doch wahr. Wer nicht mindestens einmal in seinem Leben bei so einem Kopfklempner gewesen ist, gilt heutzutage als nicht ganz normal, und wer keine Urschreitherapie oder irgendeinen anderen Kokolores gemacht hat, ist rückständig. Heute nennt man lebhafte Kinder hyperaktiv und stopft sie mit Tabletten voll, wer sich mal ordentlich mit dem Hammer auf die Hand haut, lässt sich anschließend wegen eines Hammertraumas krankschreiben und psychologisch behandeln, und jeder Zweite bekommt einen Breakdown oder ein Burnout oder sonst einen amerikanischen Quatsch, wenn er mal ein paar Überstunden mehr machen muss.
Wir haben auch gearbeitet – und wie wir gearbeitet haben! Den Damen und Herren bei ver.di würden die Ohren klingeln, wenn sie sich mal anhören würden, was ich ihnen über die Dienst- und Urlaubszeiten von Journalisten in den Sechzigerjahren erzählen könnte. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Jetzt geht es ja erst einmal um »jugendliche Serienmörder und Amokläufer« und um den »Mittagsmörder«. Den hat sie wahrscheinlich im Internet gefunden, da findet man ja alles Mögliche. Warum suchen sich diese jungen Frauen eigentlich immer solche Themen aus? Mord und Totschlag und Blut und kranke Köpfe. Als ob es keine anderen Dinge gäbe, mit denen sich so ein junges Ding beschäftigen kann!
Christine war da ganz anders. Die hat es nie gern hören wollen, wenn ich ihr von Verbrechen oder Gewalttaten erzählt hab, und davon gab es damals wirklich mehr als genug. Sie hat dann meistens nur gesagt: »Peter, unser Fall reicht mir für den Rest des Lebens!«
»Unser Fall«! Deshalb hat sie sich von dem Ordner auch nie trennen wollen. Für Christine ist der Mittagsmörder immer »unser Fall« gewesen, weil wir uns genau an dem Tag zum ersten Mal begegnet waren, an dem sie ihn gefasst haben. Am 1. Juni 1965. Ich hab mich oft gefragt, ob ich ihr auch begegnet wäre, wenn es an diesem Tag nicht geregnet hätte. Wenn niemand einen Regenschirm dabeigehabt hätte. Wenn er sich noch weiter den Weg freigeschossen hätte. Mit einem Regenschirm haben sie ihn niedergeschlagen, mitten auf der Breiten Gasse, nachdem er im Brenninkmeyer den Hausmeister erschossen und anschließend wahllos durch die Gegend geballert hatte. Zwei Kunden sind dabei getroffen worden. Genauso gut hätte Christine in der Schusslinie stehen können.
Man soll sich nicht solche Gedanken machen. Man soll überhaupt nicht in der Vergangenheit wühlen. Was geschehen ist, ist geschehen, aus und vorbei. Im Guten wie im Schlechten. Warum hab ich mich bloß breitschlagen lassen? Warum hab ich dieser Psychotante nicht einfach gesagt, dass ich keinen Sinn darin sehe, die alten Kamellen noch einmal aufzuwärmen. Dass ich keine Lust habe, in der Mottenkiste zu kramen. Dass ich mich sowieso nicht mehr gut erinnern kann, schließlich liegt das alles schon mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Ich könnte es jetzt noch tun, ich könnte sie jetzt gleich anrufen und den Termin für morgen absagen. Man kann es sich schließlich anders überlegt haben.
Und was wird sie dann denken? Dass ich dement bin – bestenfalls. Wahrscheinlich eher, dass ich ein Mittagsmördertrauma habe, das behandelt werden muss. Oder dass ich etwas zu verheimlichen habe? Ich habe nichts zu verheimlichen. Und ich habe auch ganz gewiss kein Trauma. Mit der Erinnerung klappt es nicht mehr so gut. Aber das ist bei den vielen Details, die damals eine Rolle gespielt haben, auch kein Wunder. Die ganze Affäre hat sich schließlich mitsamt Prozess über mehr als sieben Jahre hingezogen. Wer kann sich da noch an alles erinnern?
Den Ordner hat Christine angelegt. Nach dem Urteil, nach dem unwiderruflichen »lebenslänglich« für den Mittagsmörder, ist sie ins Archiv marschiert und hat sich von unserer Neubert alle Artikel von Anfang an raussuchen lassen. Also ab dem Überfall in der Tuchergartenstraße. Der erste ist vom Samstag, 23. April 1960: Zwei blutige Verbrechen: Mord und Doppelmord. Das ist kurz vor meinem Einjährigen gewesen, das weiß ich noch. Im Mai 59 hab ich als Volontär angefangen. Und genau in dem Jahr ist es ruhig gewesen in Nürnberg. Oder sagen wir: Normalbetrieb. Ärger mit Halbstarkenbanden, Zoff im Valka-Lager, das kurz vor seiner Auflösung stand.
Kein Vergleich mit dem Jahr vorher, 1958. Erst der Gefängnisskandal. Da hat sich halb Deutschland über den fidelen Nürnberger Knast totgelacht. Jeden Tag konnte man neue Storys lesen über Häftlinge, die sich Callgirls bestellt haben oder mit nachgemachten Schlüsseln fröhlich raus- und reinspaziert sind, oder über Aufseherinnen, die sich gern mal für ein Schäferstündchen mit in die Zelle eingeschlossen haben. Über Häftlingsehefrauen, die ganz besonders nett zu den Aufsehern waren, um dadurch die Haftbedingungen für ihre Ehemänner spürbar zu erleichtern. Und danach kam dann eine ganze Serie von Mord und Totschlag. Eifersuchtsdramen, Familientragödien. Erschossene Ehefrauen, erstochene Söhne. Das ganze Jahr hindurch.
Deshalb hatte ich mir den Job auch ganz anders vorgestellt. Die Kollegen haben mich immer aufgezogen. Vor allem der Ruckriegel und der Hofbeck. »Hirschmann, du hättest schon längst bei uns anfangen sollen«, haben sie immer gesagt, »dann wäre den Nürnbergern einiges erspart geblieben. Seit du da bist, ist in Nürnberg Ruhe eingekehrt, richtig fad ist es geworden.«
Und dann plötzlich kurz nacheinander die Messerstecherei auf dem Volksfest und die Schüsse in der Tuchergartenstraße.
Am Tag nach dem Messermord, am Freitag, haben sie mich noch mal zum Volksfest geschickt. Die Stimmung einfangen, Besucher interviewen nach dem Motto »Sie trauen sich noch aufs Volksfest?«. Mit den Festwirten reden, mit den Polizisten. Solche Jobs haben mir immer Spaß gemacht. Nah dran am Geschehen, an den Menschen. Aber an dem Freitagabend kam ich näher ran, als mir lieb war. Ich bin kaum eine Viertelstunde wieder in der Redaktion zurückgewesen, da ist der Hofbeck reingestürzt und hat gesagt, ich soll mitfahren, in der Nordstadt hat es einen Raubmord gegeben, da war es schon weit nach acht – so viel zu Arbeitszeiten.
Eigentlich wollte ich mich an diesem Abend ja mit dieser kleinen Blonden treffen, wie hieß sie noch gleich – Erika? Elke? Irgendwas mit E jedenfalls. Den Artikel hatte ich in der Straßenbahn schon vornotiert. Nur noch schnell in die Maschine hacken und dann Feierabend. Ein bisschen um die Häuser ziehen. Vielleicht auch noch mal zum Volksfest raus. Oder in ein Tanzcafé. Da ist man noch viel tanzen gegangen, damals. Zum Kerzinger, wenn man sich’s leisten konnte, in den Bamberger Hof oder ins Trocadero. Alles in der Luitpoldstraße. Wenn man sich die heute so anschaut ... bloß noch Striplokale und Pornoläden.
Die günstigere Variante war das Astoria in Gostenhof. Und natürlich die Humboldtsäle, quasi gleich bei mir ums Eck. Wenn man sich noch näherkommen wollte, ist man ins Kino. Was anderes war auch gar nicht drin.
Ich darf gar nicht an mein erstes möbliertes Zimmer in der Wirthstraße denken und an die Vermieterin, die alte Brettschneider – Heimatland! Die Witwe Brettschneider vergess ich mein Lebtag nicht. Ihr Mann ist Wehrmachtsoffizier gewesen und 1944 im Osten gefallen. In jedem zweiten Satz von ihr ist »mein Karli« vorgekommen. Wenn sie Sülze aufgetischt hat, hat sie immer gesagt: »Des is fei die vom Staudinger am Aufseßplatz. Die hat mei Karli immer besonders gern g’habt!« Deshalb bin ich um die Sülze nie rumgekommen. Ich glaub, ich wär sofort rausgeflogen, wenn ich die Sülze verweigert hätte. Das konnte ich mir einfach nicht erlauben. Schließlich hab ich ja auch profitiert von ihrem Karli. Im Winter hab ich einen Mantel von ihm getragen, den sie mir großherzig geliehen hatte. »Der Mantel vo meim Karli, der sichd doch no schäi! Und Sie ham doch fast die Statur vo meim Karli!« Ihr Karli muss ein Bär von einem Mann gewesen sein. Ich hab erbärmlich ausgesehen in dem Mantel. »Aber dass S’ mer fei gut drauf aufpassen, gell!« Mein eigener Mantel war mir geklaut worden. Im Humbser Bräustübl. Das weiß ich noch, da war die letzte Straßenbahn längst weg, und ich bin mitten in der Nacht ohne Mantel bei null Grad und einem eisigen Ostwind vom Plärrer in die Wirthstraße rübergelaufen.
Und natürlich: keine Damenbesuche, Herrenbesuche nur bis 21 Uhr. Aber wen hätte ich auch einladen sollen in dieses Kabuff? Zehn Quadratmeter, ein alter Sekretär, ein Stuhl, ein Schrank und eine Schlafcouch. An was anderes war gar nicht zu denken bei meinem Volontärsgehalt, davon konnte man weiß Gott keine großen Sprünge machen. Und dann – es gab ja sowieso nicht viel, war ja alles kaputtgegangen und vieles immer noch nicht wieder aufgebaut.
Dabei war Nürnberg den anderen zerbombten Städten mehr als eine Nase lang voraus, wenn es um den Wiederaufbau ging. Es war seinerzeit eine Sensation und wirkte wie Balsam auf der Seele, als die Stadt von oberster Stelle gelobt wurde, weil ihre Aufbauleistungen richtungsweisend seien. Und was haben wir uns, trotz Freude und Stolz über dieses Lob, darüber amüsiert, dass der damalige Bundeswohnungsbauminister...




