E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Nagelschmidt Nur für Mitglieder
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7550-5062-9
Verlag: MÄRZ Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7550-5062-9
Verlag: MÄRZ Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
86 Stunden ?Sopranos? in 11 Tagen - da, wo andere Urlaub machen. Thorsten Nagelschmidt erzählt mit Witz, Tiefgang und schonungsloser Offenheit vom Versuch, seinem alljährlichen Unglück zu entkommen. Seit Langem überfallen den Autor und Musiker Thorsten Nagelschmidt in der Vorweihnachtszeit Depressionen. Seine Familie besucht er zu dieser Zeit schon seit über 20 Jahren nicht mehr. Stattdessen bilden Partys und Exzesse ein probates Mittel zur Ablenkung. Die Depression aber ließ sich dadurch nie aufhalten, allenfalls verzögern. Um den Bann zu brechen, beschließt er, die Feiertage in einem All-Inclusive-Hotel auf Gran Canaria zu verbringen. Mehr noch: Er wird den Eskapismus auf die Spitze treiben und endlich die berühmteste Serie der Fernsehgeschichte gucken. Die ?Sopranos?, alle 7 Staffeln am Stück, 8 Stunden täglich, 11 Tage lang. In der Tradition von Foster Wallaces Kreuzfahrt-Reportage ?Schrecklich amu?sant, aber in Zukunft ohne mich? begibt sich Nagelschmidt freiwillig in eine Extremsituation, um perso?nlich, kulturgeschichtlich und nicht ohne Humor zu ergru?nden, was es mit diesen Nicht-Orten der Urlaubsindustrie und dieser vielleicht seltsamsten Zeit des Jahres auf sich hat. ?Nur fu?r Mitglieder? ist Thorsten Nagelschmidts Analyse der Einsamkeit in Zeiten der Abschottung. Eine Fluchtbewegung nach innen - und nicht zuletzt eine große autobiografische Erkundung der eigenen Abgru?nde. »Oh, the pressure we put on ourselves this time of the year ... - I call it Stressmas.« (Dr. Melfi, The Sopranos)
Autoren/Hrsg.
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Tag 1
Freitag, 15.12.
»Durch die Straßen weht der Winterhauch / Glitzernde Sterne, ein funkelnder Rauch / Weihnachtlich strahlt die Stadt so schön / Ein neues Jahr, voller Hoffnung, wird entsteh'n. Wir wünschen Ihnen und Ihren Lieben ein besonders schönes Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue –«
Ich sperre das iPhone, lege es auf den Tisch und nehme einen Schluck Kaffee. Das morgendliche Büfett im La Palapa ist fast so umfangreich wie das beim Dinner gestern Abend, eine schmale Karte auf dem Tisch bietet zusätzliche Kaffeespezialitäten an, Eierspeisen und Smoothies. Der Himmel ist bewölkt, die Luft frisch. Ein Blick auf die Uhr: kurz nach zehn. Vor gut einer Stunde habe ich die Augen aufgeschlagen und mein erster Gedanke war: Scheiße, verpennt. Der zweite: Nun mach mal halblang, das ist hier ist schließlich immer noch so was wie Urlaub. Oder?
Die neun Stunden Schlaf haben gutgetan und waren wohl auch nötig. Meinem Vorhaben aber, um Punkt neun vorm Fernseher zu sitzen und bis zum Mittagessen drei Folgen zu schaffen, hänge ich schon jetzt hinterher. Andererseits, wenn ich mir nur schnell das Brötchen und mein Rührei reinpfeife, dabei die ersten Notizen erledige, mich anschließend zurück auf die 7010 begebe und einen späten Lunchslot um, sagen wir, 14 Uhr buche – ein rascher Blick in die Barceló-App, die späteste Option wäre 14:30 Uhr –, dann könnte das noch hinhauen.
Und was ist meine heutige Freizeitaktivität?
Ach ja, das Meer. Das Meer kann ich nicht ausfallen lassen, da muss ich hin. Am besten gleich nach dem Mittagessen, so kann ich das zusätzlich als Verdauungsrunde und also quasi-sportliche Aktivität verbuchen.
Puh. Gerade erst hier und schon die ganze Zeit am Rechnen. Vermutung: Durch die permanente Planerei nehme ich mich als handelnd wahr. Selbstwirksamkeit, you can't beat the feeling. Gleichzeitig verschaffe ich mir damit einen sicheren Abstand zum Hier und Jetzt. Ich bin dieser Situation nicht ausgeliefert, denn im Kopf bin ich schon längst schon woanders.
Doch so plausibel das auch klingt, so suspekt ist mir diese Selbstanalyse, kaum habe ich sie niedergeschrieben. Zu schlüssig. Zu einfach. Einbauküchenpsychologie.
Auf dem Weg zurück zum Hauptgebäude kommt mir das skandinavische Pärchen entgegen, das mir bereits gestern Abend beim Dinner aufgefallen ist. Ein Mann und eine Frau, beide Mitte zwanzig, groß, engelsblond und vor Gesundheit nur so strotzend. Die Frau und ich hatten kurz Blickkontakt, als ich reinkam, und dann noch einmal am Büfett. Nun schauen beide zu Boden, tun beschäftigt, als hätte ich sie bei etwas ertappt. Dem späten Frühstück vielleicht? Ihrer hemmungslosen Langschläferei im Urlaub oder der nur Minuten zurückliegenden Gutenmorgennummer, auf die ihre rosigen Wangen hindeuten? Oder schämen sie sich etwa, hier gesehen zu werden? Weil sie eigentlich viel zu jung und zu hip sind für diese Art des Urlaubs? Erst als ich ihnen auf dem schmalen Pfad Platz mache und Hallo sage, erwidert der junge Mann meinen Blick. Ein unverbindliches Lächeln, dann marschiert er weiter seiner Partnerin hinterher.
Wenigstens auf Guest Experience Manager Alvaro ist Verlass. In einem kobaltblauen und schon wieder unverschämt gut sitzenden Anzug kommt er mir in der Lobby entgegen und erkundigt sich nach meinem Befinden: »How is everything so far, Sir?«
»Fine«, sage ich, »all good«, und erst als die Worte meinen Mund verlassen, werde ich der wortwörtlichen Übersetzung der deutschen Wischiwaschiformulierung Alles gut gewahr.
GEM Alvaro aber scheint zufrieden. Lächelnd legt er die Handflächen vor der Brust zum Namasté-Gruß zusammen: »I'm very glad to hear that, Sir.«
Auch wenn es sein Job sein mag, das zu sagen: Ich glaube ihm. Weil ich ihm glauben will. Eine kurze Pause, in der ich jeglichem sich aufdrängenden Gesprächsvertiefungsansatz widerstehe und mir einhämmere, die Floskeln jetzt einfach mal Floskeln sein zu lassen, dann kommt auch schon der Lift, um mich der Situation zu entheben. Kurz bevor die Türen sich schließen, sehe ich, wie GEM Alvaro sich den Nächsten zuwendet, zwei mit beachtlichem Rollkoffergetöse in die Lobby stürzenden Männern mittleren Alters.
Es ist bereits nach halb elf, als ich, eine Fernbedienung in jeder Hand, Fernseher und DVD-Player einschalte. Episode 2 von Staffel 1, 46 Long, auf Deutsch: Verwandte und andere Feinde, geht genau 49 Minuten und 37 Sekunden und muss damit eine der kürzeren Folgen der Serie sein. Von einer der Bars unten dringt leise Klaviermusik zu mir hoch. Ich versuche, das Geklimper auszublenden oder es als angenehmes, windspielartiges Hintergrundgeräusch zu verbuchen, doch schon nach wenigen Minuten bin ich so kribblig und nervös, dass ich aufspringe und die Balkontür zuziehe, zur Sicherheit auch gleich den Vorhang. Nun hocke ich in einem abgedunkelten Verschlag und schaue einer Gruppe schlecht gekleideter Männer dabei zu, wie sie im verrauchten Hinterzimmer eines Stripclubs bei laufendem Fernseher Geld zählen, Hanteln stemmen und Witze reißen, während da draußen, nur eine kurze Aufzugfahrt entfernt, das Versprechen von Sommer, Sonne und frechen All-Inclu-Drinks lockt.
Aber gut, dafür bin ich nicht hier. Ich bin hier, um fernzusehen. Und um irgendwas daraus zu machen.
Nun noch einmal das Intro und der Titelsong der britischen Band Alabama 3 mit der auf die amerikanische Bluestradition verweisenden Anfangszeile »Woke up this morning …«, der mit der zweiten Textzeile »… got yourself a gun« eine mir für diese Serie sofort programmatisch erscheinende erste Amtshandlung des Tages folgt. Nachdem die beiden Nachwuchsgangster Christopher Moltisanti und Brendan Filone einen Truckfahrer um seine Lieferung von – ja: DVD-Playern erleichtert haben, kommen wir langsam zur Geschichte von Tonys Mutter Livia, einer alleinstehenden, schrecklich larmoyanten und immer schusseliger werdenden 70-Jährigen, die ihrem Sohn unentwegt passiv-aggressive Sprüche drückt und die von diesem, nachdem sie aus Versehen beim Ausparken eine Bekannte übergemangelt hat, in einem Seniorenheim untergebracht wird, einem der gehobeneren Sorte. Die dominante und von der im Jahr 2000 verstorbenen Nancy Marchand eindrucksvoll gespielte alte Schachtel aber hat an allem etwas auszusetzen.
»No matter what I do, I feel guilty«, erklärt Tony Soprano seiner Therapeutin dann auch in der nächsten Sitzung, und dass er sich wie ein ungrateful fuck fühle, hier zu sitzen und sich über seine little old lady zu beklagen, die schließlich a good woman sei. »She put food on the table every night«, sagt er, und ich komme nicht umhin, an meine eigene Mutter zu denken und an meine latenten Schuldgefühle wegen des Weihnachtsfestes, dem ich mich in diesem Jahr zum bereits 21. Mal in Folge verweigere.
Im Jahr 2000 gab es den ersten Bruch. Ich war in diesem Herbst von Rheine nach Münster gezogen und hatte so einen weiteren Abstand zwischen mich und meine Familie gebracht. In diesem Jahr fiel Weihnachten für mich komplett aus, denn wir waren mit der Band unterwegs. Unsere Auftritte organisierte ich damals noch selbst, und es war mir gelungen, eine Tour zu buchen, die uns vom 23. bis einschließlich 31.12. für neun Konzerte durch Deutschland, Dänemark und Tschechien führen würde.
Im Vorjahr hatte mein Bruder sich an Heiligabend noch auf eine der üblichen Law-and-Order-Nazi-Diskussionen eingelassen, wie es in meinem Tagebuch lapidar heißt, während ich später am Abend von meiner damaligen Freundin zusammengeschissen wurde, nachdem ich mir im Feuerzangenbowlenrausch an einer Kerze in ihrer WG das Haupthaar angezündet hatte, Zitat: Fand ich irgendwie lustig.
Dieses Jahr sollte all das der Vergangenheit angehören, und wie so oft war die Band das Ticket raus. Nach einem Tourauftakt im AJZ Neumünster spielten wir am 24.12. im Ungdomshuset, einem besetzten Haus im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro. In dem Gebäude hatten sich schon Gestalten wie Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und Wladimir Iljitsch Lenin herumgetrieben, im Jahr 1910 war dort die Zweite Internationale Sozialistische Frauenkonferenz abgehalten worden, auf der Zetkin sich für die Einführung eines Internationalen Frauentags starkmachte. Legendäre Gemäuer also, die sich aber mittlerweile in keinem guten und nur bedingt winterfesten Zustand befanden. Kurz nach unserer Ankunft fiel für mehrere Stunden der Strom aus und nachts wurde es so kalt, dass wir, statt den uns zugedachten Schlafraum zu nutzen, lieber mit dem an der Straße parkenden Mercedes-Benz-Transporter vorliebnahmen, den wir für die Tour angemietet hatten und in dem es zwischen Fahrerkabine und Ladefläche eine geräumige Sitzecke mit Tisch und ein breites Bett gab. Ausstattungsmerkmale, die für uns, die wir sonst in engen Pkw oder schrottigen Bullis von Konzertort zu Konzertort reisten, ein schier unvorstellbarer Luxus waren. Zu sechst und in der Horizontalen wurde es zwar doch recht eng und Geld hatten wir mit unserem Auftritt vor ein paar Dutzend Eingeweihten natürlich auch keins verdient – eher zahlten wir bei der weiten Anreise noch drauf –, doch das war mir egal. Hauptsache weg von zu Hause, Hauptsache weg von Weihnachten.
Heiligabend in...