Naylor | Die Frauen von Brewster Place | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Naylor Die Frauen von Brewster Place

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-293-31132-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-293-31132-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Tropfende Rohre, quietschende Türen, kaputte Aufzüge. Brewster Place, das ist die Straße mit den Schlaglöchern und der Mauer am Ende, hinter der man die schicken Gegenden der amerikanischen Großstadt nur erahnen kann. Mattie Michael und Etta Johnson wohnen schon ewig hier, und sie wissen absolut alles, was in den Häusern der anderen so passiert. Kiswana Browne nervt mit ihren Black-Power-Parolen; Cora Lee kriegt in der Hoffnung auf morgen immer mehr Kinder, und die zwei Neuen irritieren die anderen mit ihren verstohlenen Zärtlichkeiten. Die Gerüchteküche brodelt und treibt den Geruch von Begierde und Fürsorge, von Hoffnung und Verzweiflung durch die Straße. Gloria Naylor erzählt furios und einfühlsam von diesen Frauen und mit ihnen von den schwarzen Frauen Amerikas.

Gloria Naylor (1950-2016), geboren in New York, studierte Anglistik und African-American Studies. Ihr Debütroman Die Frauen von Brewster Place erschien 1982, weitere Romane und Erzählungen folgten. Ihr vielschichtiges Werk kreist um das Leben Schwarzer, um ihre Kämpfe und Hoffnungen, in einer Welt, in der Weißsein alles bedeutet. Für ihre Werke erhielt sie u. a. den American Book Award und den National Book Award. Sie unterrichtete Literatur und Kreatives Schreiben an verschiedenen amerikanischen Universitäten.
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Dämmerung


Brewster Place war das illegitime Kind mehrerer heimlicher Treffen zwischen dem Stadtrat des Sechsten Bezirks und dem Generaldirektor der Unico-Wohnungsbaugesellschaft. Letzterer musste dringend den Polizeichef des Sechsten Bezirks loswerden, da dieser zu ehrlich war, Bestechungsgelder anzunehmen, und daher beharrlich gegen die Spielkasinos vorging, die dem Direktor gehörten. Der Stadtrat seinerseits wollte, dass die Wohnungsbaugesellschaft ihr neues Einkaufszentrum auf dem Grundstück seines Cousins im Norden der Stadt errichtete. Sie trafen sich, machten Vorschläge, handelten miteinander und arbeiteten Schritt für Schritt die Erfüllung ihrer jeweiligen Wünsche aus. Dann kamen sie nachträglich noch überein, auf einem Stück wertlosen Bodens in dem schlimm übervölkerten Bezirk vier Doppelwohnblocks zu errichten. Das würde dazu beitragen, die seitens der irischen Bevölkerung zu erwartenden Proteste anlässlich der Entlassung des Polizeichefs abzuschwächen; und da die Stadt die Kosten übernähme und der Stadtrat den Bau beim kommenden Wahlkampf für seine Kandidatur um das Bürgermeisteramt nutzen konnte, würde es beiden Männern nicht schaden. Und so wurde, in einem klammen, rauchgeschwängerten Raum, Brewster Place gezeugt.

Drei Monate später wurde das Balg in der Stadtverwaltung geboren, und da im Dunkeln blieb, wer die wirklichen Eltern waren, trat zwei Jahre später die halbe Gemeinde zu seiner Taufe an. Alle applaudierten stürmisch, als der lächelnde Stadtrat eine Flasche Sekt an der Ecke eines der Häuser zerschellen ließ. Er war vor lauter ohrenbetäubenden Hurrarufen kaum zu hören, als er mit Tränen in den Augen erklärte, das Mindeste, was er tun könne, sei mitzuhelfen, für alle ihre patriotischen Jungs, die aus dem Großen Krieg auf dem Weg nach Hause seien, einen Platz zu schaffen.

Als Brewster Place noch jung war, hatten die grauen Backsteine der Häuser einen mattsilbernen Ton. Die Straße war zwar nicht gepflastert – nach einem schweren Regen musste man bis zu den Knöcheln im Schlamm waten, um nach Hause zu kommen –, doch sie hatte etwas Vielversprechendes. Die Stadt wuchs und florierte; es gab Pläne, nördlich der Straße einen neuen Boulevard zu bauen, und es sah so aus, als sollte Brewster Place Teil der Hauptverkehrsader der Stadt werden.

Die Gegend um den Boulevard entwickelte sich zu einem wichtigen Geschäftsviertel, doch um den Verkehr steuern zu können, mussten einige der Nebenstraßen durch eine Mauer abgeriegelt werden. In der Stadtverwaltung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen: Viele kämpften für diese kleinen Versorgungsadern, wissend, dass es hier um den Lebenssaft ihres Viertels ging; für Brewster Place jedoch setzte sich niemand ein. Dort lebten jetzt lauter Leute, die ohne politischen Einfluss waren; Leute mit dunklen Haaren und sanft getönter Haut – Menschen mediterraner Herkunft, die in gutturalen, murmelnden Lauten miteinander sprachen und ausländische Lebensmittel in die Läden des Viertels brachten. Die älteren Anwohner nahmen Anstoß an dem beißenden Geruch kräftiger Käse und geräucherter Fleischwaren, der nun in der Luft des Viertels hing. So also wurde die Mauer gebaut und Brewster Place zu einer Sackgasse. Bei dieser Taufe gab es keine Menschenmenge, sie fand um drei Uhr morgens statt, als Mrs Colligans Sohn, der betrunken nach Hause torkelte und die Existenz der Mauer vergessen hatte, seine Nase daran blutig schlug und sich dann an den neuen Backsteinen übergab.

Brewster Place – die Sackgasse – hatte in ihren mittleren Jahren der zweiten Generation weniger zu bieten, tat aber für sie, was sie konnte. Im Zuge des sogenannten WPA-Arbeitsbeschaffungsprogramms wurde die Straße schließlich gepflastert, und eine neue Wohnungsbaugesellschaft übernahm die Hypothek, die auf den Häusern lag. Von den zentralen Aktivitäten der Stadt abgeschnitten, entwickelte die Straße einen ganz eigenen Charakter. Die Menschen dort hatten ihre eigene Sprache und ihre eigene Musik und ihre eigenen Regeln. Sie waren stolz auf die Tatsache, dass Mrs Fuellis Laden der einzige in der Stadt war, in dem man scungilli und grüne fettuccine bekommen konnte. Doch Mrs Fuelli brach es das Herz, als ihr Sohn aus dem Krieg kam und sich nicht in Brewster Place niederließ, und auch der Sohn ihrer Cousine nicht, oder der ihrer Nachbarin aus dem zweiten Stock. Und es gab Söhne, die überhaupt nicht wiederkamen. Brewster Place trauerte mit diesen Müttern, denn auch die Straße hatte Kinder verloren – durch den Ruf eines komfortableren Lebens und aus Angst vor jenen Kindern, die heute die Straße bevölkerten, einst Fremde, jetzt aber alles, was sie besaß. Brewster Place wurde mit Mrs Fuelli und den wenigen alt, die nicht mehr wegziehen wollten oder konnten.

Ein Jahr bevor die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Sache »Brown gegen die Schulbehörde von Topeka« das ganze Land wieder in zwei Lager spaltete, kam die sogenannte Integration auf den gebeugten Schultern eines untersetzten, braunhäutigen Mannes nach Brewster Place, der als Hausmeister und Gebäudemanager angestellt worden war. Er zog ins Souterrain von Nummer 312, und wenn er nach seinem Namen gefragt wurde, pflegte er zu antworten: »Nennen Sie mich einfach Ben.« Und das war alles, was bis zu seinem Tode von ihm in Erfahrung gebracht wurde. Es gab kaum Protest dagegen, dass er im Block wohnte, denn es hatte sich bald herumgesprochen, dass er ein anständiger Farbiger war, der niemals irgendwem zu nahe trat. Und wenn der Vermieter nichts als ein Postfach in einer anderen Stadt war, und die Heizung leckte, oder der Abfluss verstopft war, oder die Arthritis einen daran hinderte, die Eingangsstufen zu kehren, war es angenehm, jemanden an der Hand zu haben, der sich um diese Dinge kümmerte, selbst diesen Mann mit seinem merkwürdigen Haar und seiner merkwürdigen Haut, dessen Atem schal nach Alkohol roch.

Ben und die mediterranen Bewohner von Brewster Place wurden aus der Ferne recht vertraut miteinander. Sie lernten, dass er, wenn die melancholischen Klänge von Swing Low, Sweet Chariot sie weckten, einen seiner morgendlichen Saufanfälle hatte, und dass es an diesem Tag keinen Sinn hatte, ihn um irgendetwas zu bitten – er würde einen mit seinen Jawolls nur zur Verzweiflung treiben und dann doch nicht auftauchen. Und er lernte, dass sie ihm mit kalten und argwöhnischen Blicken begegneten, wenn er ohne Schraubenschlüssel oder Besen in der Hand an ihre Tür klopfte, ganz egal wie groß die Mengen selbst gekochter Gemüsesuppen und Honigkuchen waren, die die alten Damen – voll Mitgefühl wegen seines frauenlosen Daseins mit der Zunge schnalzend – ihm sonst vorbeibrachten. Warum Ben trank, erfuhr nie jemand. Die Aufmerksameren unter ihnen konnten vorhersagen, wann wieder einmal eines dieser frühen Besäufnisse fällig war; immer an dem Morgen, nachdem der Briefträger die Stufen zum Souterrain von 312 hinabgestiegen war. Und wenn sich jemand am nächsten Tag nahe genug heranwagte, konnte er hören, wie Ben etwas von einer untreuen Frau und einer hinkenden Tochter vor sich hin brummelte, oder war es eine hinkende Frau und eine untreue Tochter? Keiner konnte sie je auseinanderhalten. Wenn sie sich die Mühe gemacht hätten zu fragen, hätte er es ihnen wahrscheinlich erzählt. Nach einer Weile stieg der Briefträger nicht mehr die Stufen hinunter; Ben aber trank immer noch. 

Ben und seine Sauferei wurden allmählich zu einem Teil von Brewster Place, genau wie die Mauer. Bald schien es dumm, die Existenz des einen oder des anderen zu hinterfragen – sie waren einfach da.

Und sie waren das Erste, was die dritte Generation von Brewster Place zu Gesicht bekam. Langsam hatten sie den Block erobert und den Exodus der noch übrigen Südländer vorangetrieben. Brewster Place frohlockte über diese »afrikanischen« Kinder mit ihren vielen Hautfarben, die sie im Alter hatte. Sie arbeiteten so schwer wie die Kinder ihrer Jugend, waren so leidenschaftlich und hinsichtlich ihrer Gerüche, ihres Essens und ihrer Regeln so verschieden vom Rest der Stadt wie die Kinder der mittleren Jahre. Sie klammerten sich an die Straße und akzeptierten verzweifelt alles an ihr. Denn alles war besser als die elenden Südstaatengebiete, aus denen sie geflohen waren. Anders als ihre anderen Kinder – das wusste Brewster Place – würden die wenigen, die für immer fortgingen, eher die Ausnahme als die Regel sein, denn sie waren gekommen, weil sie keine andere Wahl hatten, und würden aus ebendiesem Grund auch bleiben.

Besonders liebte Brewster Place mit der Zeit ihre farbigen Töchter, die – beherzten Geistwesen gleich – sich durch den Verfall schlugen und versuchten, daraus ein Heim zu machen. Muskatfarbene Arme stützten sich auf Fenstersimse, knorrige Ebenholzbeine trugen die Last von Einkäufen zwei Treppen hoch, und safranfarbene Hände hängten feuchte Wäsche auf die Leinen in den Hinterhöfen. Ihr Schweiß mischte sich mit dem Dampf aus brodelnden Töpfen voll geräuchertem Schweinefleisch und Suppengrün und umkräuselte den scharfen Geruch von Essigspülungen und Paris-Night-Parfum, der, wo sie zusammenstanden, die Straße durchzog – schön gewachsene, rundbäuchige Frauen mit hohem Hintern, die beim Lachen den Kopf zurückwarfen und, die Hände in die Hüften gestemmt, starke Zähne und dunkles Zahnfleisch zeigten. Sie verfluchten, piesackten, verehrten und teilten sich ihre Männer. Ihre Liebe...


Naylor, Gloria
Gloria Naylor (1950–2016), geboren in New York, studierte Anglistik und African-American Studies. Ihr Debütroman Die Frauen von Brewster Place erschien 1982, weitere Romane und Erzählungen folgten. Ihr vielschichtiges Werk kreist um das Leben Schwarzer, um ihre Kämpfe und Hoffnungen, in einer Welt, in der Weißsein alles bedeutet. Für ihre Werke erhielt sie u. a. den American Book Award und den National Book Award. Sie unterrichtete Literatur und Kreatives Schreiben an verschiedenen amerikanischen Universitäten.

Koch-Grünberg, Sibylle
Sibylle Koch-Grünberg (1947–2020) übersetzte aus dem Englischen, unter anderem Werke von Tillie Olsen, Jill Tweedie und Terence McKenna.



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