E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Reihe: EDITION BLAU
Nentwich Change Ringing
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-85869-880-3
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Londonjournal
E-Book, Deutsch, 184 Seiten
Reihe: EDITION BLAU
ISBN: 978-3-85869-880-3
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein halbes Jahr London! Wie ein Schüler oder Student darf er in die Stadt, die ihm seit jeher Sehnsuchtsort ist. Vom Eastend aus zieht es ihn an die Themse, in die Parks, nach St Paul’s zum Evensong. – London sehen, London hören, Mensch im Freien sein. Er sucht nichts und findet. Jeden Tag. Bald hat er eigene Wege, eigene Orte und mit Jogging im Victoria Park, Cheesecake bei Rinkoff und dem Twentyfive nach Ilford sogar so etwas wie ein ambulantes Zuhause. Allenthalben Demos. »Wenn Burkafrauen zum Straßenbild gehören, gehören sie zum Straßenbild«, notiert er. Alltag heißt für ihn, den Zaungast, Ereignis, heißt, sich der Bauweise der Kathedralen hinzugeben, in der Tate Modern das Licht von Turner, die Wolken von Constable zu sehen. Alles zählt.
Andreas Nentwichs Journal Change Ringing ist ein Wechselspiel zwischen Brexit und Gothic Revival, zwischen der Metropole und einem inneren Koordinatensystem, zwischen Lichttagen, Grüntagen und solchen ohne Kompass. Immer ist Veränderung, und immer ist Vergänglichkeit. Das Altern sitzt im Nacken. Aber da ist der große Versuch, Wirklichkeit in der eigenen Sprache sichtbar und fühlbar werden zu lassen.
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2. März. Ich gehe zum ersten Mal zur Stepney City Farm, einem Ökobauernhof, auf dem Schulklassen und Erwachsene mitarbeiten oder sich den Lebenszyklus eines Huhns erklären lassen können. Der Flyer sagt es konkurrenzlos schön: »Improving lives through farming«. Gemüsebeete, Obstbäume, Gänse, Ziegen, Esel, Schweine. Beim Joggen habe ich gesehen, dass sie samstags einen Bauernmarkt haben. Nach dem Einkauf sitze ich in der Sonne und trinke einen Cappuccino. Kinder, natürlich, Familien. Aber auch junge Städter, die zwischen den Beeten und Gattern herumgehen. Ein Mann Anfang dreißig, der Informatiker sein könnte oder Geografiedozent, krault einen der beiden Esel hinter den Ohren. Ich sehe, er ist weit weg. Zwei schwarze Schweinchen, die noch nicht wissen, dass sie später einmal als glückliche Koteletts vorn am Markt verkauft werden, schmatzen sich in den Matsch, eine schmale, dunkelhaarige Frau schaut ihnen träumerisch zu. Wenn man bei den Eseln steht und sich nach Osten dreht, sieht man einen Ziegenhintern, hölzerne Gatter und Baracken, bunte Wimpel, blühende Büsche und hinter den noch winterlichen Bäumen den zinnenbewehrten Turm der tausendjährigen Kirche St Dunstan. Auch sie ist ein Landei in ihrem halbversunkenen Friedhof, für jeden Dreh geeignet, in dem eine typisch englische Dorfkirche gebraucht wird. Rund um das rurale Idyll mein seit Jahrhunderten nicht mehr ländliches Quartier, das im Zweiten Weltkrieg stark zerbombt war und heute ein disparates Aussehen hat. Hugenotten, Juden und Iren haben hier gelebt, bis sie sich Besseres leisten konnten, jetzt sind es die Bangladeshis. Eines der Hochhäuser von Stepney möchte mit aufs Handyfoto. Gleich danach in St Dunstan and All Saints. Die Orgel steht unten beim Eingang im nördlichen Seitenschiff. Der Organist zeigt einem jungen Mann und einer jungen Frau etwas am Spieltisch, sie haben Spaß, in Verständnis heischendem Übermut schaut die Frau zu mir hin. Der Raum ruht fest in der Ehrwürdigkeit eines zeitlosen Perpendicular. Ich sehe einen Kreuzweg, zwei mit schwerem Brokat behängte Altartische, ein Adlerpult. Aber was mich nach vorn zieht, ist die Glasmalerei des großen Chorfensters, die den Gekreuzigten zeigt. Fin de Siècle, denke ich, Art nouveau, Ausläufer des Präraffaelitismus. Delikat abseitig sind die drei beherrschenden Farben Grün, Purpurrot und Gelb, sparsam eingesetzt, die ganze Szene fast ornamental, gezwungen in Symmetrien, nur der athletisch-fleischige Körper des Mannes am Kreuz wirkt dreidimensional. Wie ein Heros von Füssli oder ein Dämon von Blake sieht er aus, ein luziferischer Lichtgott. Kein Menschensohn. Das Kreuz, vor dem er mehr zu schweben scheint, als dass er an ihm hinge, fluoresziert in hellem Grün. Es scheint seinerseits zu schweben. Purpurrot leuchtet der Lendenschurz des Gekreuzigten, ein stoffreiches, kunstvoll drapiertes Gebinde, und purpurrot ist der Umhang, der ihm über die Schultern fällt und vorn am Hals verknüpft ist. Es ist ein Königskleid, aber ich sehe, mutwillig inzwischen, Höllenflügel hinein. Als Sieger, gemeint ist: segnend, hebt der Christkönig die Arme zum Querbalken, noch in der Pose des Gekreuzigten, doch im Begriff, sich gen Himmel abzustoßen. Frappierend ist sein Gesicht: Bartlos zeigt es den weichlich-spöttischen Mund eines lasziven Dandys. Ein Antlitz ohne Güte. Erst als ich unmittelbar vor dem Altar stehe, bemerke ich, dass das grüne Kreuz nicht schwebt, sondern aus einem Turm, dem von St Dunstan, herauswächst und die Glasmalerei an ihrem unteren Rand doch eine tiefenräumliche Dimension besitzt. Hinter der Kirche erstreckt sich das Wegenetz des Parks, dessen Abschluss heute die Stepney City Farm bildet, dann folgt eine Stadtvedute: Man erkennt Gaskessel und, fast monochrom in Grau und Braun mit wenig Weiß und Grün, zerstörte Häuser, verbrannte Erde. Hier unten in der Hölle auf Erden geht es ohne heilige Symmetrien, dem Toten hat der Künstler Leben eingehaucht. Die Ruinen bringen mich aber auch nicht aus dem Fin de Siècle heraus und auf die richtige Spur: nämlich die des »Blitz« – der deutschen Bomben, die 1940 und 1941 auf Stepney und den ganzen Osten von London fielen. Dass die Glasmalerei entsprechend danach entstanden ist, nämlich 1949, ein halbes Jahrhundert später, als ich vermutet habe, finde ich erst beim Recherchieren heraus. Ihr Schöpfer heißt Hugh Easton und hat auch in Westminster Abbey und der Kathedrale von Durham Spuren hinterlassen. In England hält man Stilen, die man einmal für vernünftig und schön befunden hat, gern die Treue, und der Präraffaelitismus und seine Kinder mit ihrer Freude an klaren Linien und zweckfreiem Ornament waren nicht weniger prädestiniert als Early English, Perpendicular, Decorated und georgianischer Klassizismus, etwaige Sehnsüchte nach Internationalem Stil und anderen kontinental-modischen Ungemütlichkeiten bewältigbar zu halten. Noch einmal täuscht mich die ingeniöse Epochenunbekümmertheit, bei der Glasmalerei über dem Marienalter im rechten Seitenschiff. Eingepasst ins Stabwerk des Fensters und ornamental gefasst von einem grünenden Blätterkranz, der mit Tudorrosen besteckt ist, zeigt sie ein Kindheit-Jesu-Idyll. Maria streckt die Arme nach dem Kind aus, das eben die ersten Schritte tut und der Mutter entgegenwackelt, unter den Füßen gehobeltes Holzgewöll. Ein Fenster in der gezimmerten Wand blickt auf Pinien und eine bläuliche Bergkette, unter ihm steht der Arbeitstisch des Zimmermanns Josef mit Beil, Zange, Winkelmaß und Holzvorräten. Das Kind ist blond, nackt und bleich wie der Heros am Kreuz, zu dem es reifen wird. Flämisch-blond ist auch das wallend gelockte Haar der Mutter, die über einem Purpurkleid den meerblauen Mantel trägt. Feierlich kräuselt sich sein liliengeschmücktes Innenfutter heraus, nur das Fensterglas hält die Stoffflut davon ab, illusionistisch in den Raum zu wehen. Das Gebilde ist vollkommenes Art nouveau: linear und schwelgerisch, aseptisch und morbid und so wunderbar tief in der Farbe, wie es nach dem Mittelalter tatsächlich erst die Künstler dieser Stilrichtung wieder beherrschten. Auch das Marienfenster hat Easton gemacht, ein halbes Jahrhundert nach der Zeit, in der er kaum geboren war. Auf dem Kontinent wäre es trotzig-blasser Nachhall geworden, Ideologie. Hier erscheint es in seiner ganzen Manieriertheit und Dekadenz rotwangig-gesund – immer noch echt, soweit die Echtheit des Art nouveau eben reicht. Immer schon falsch war dagegen die kleine Gipsmadonna. Ich entdecke sie auf einem Kasten rechts neben dem Marienaltar. Hellblau und weiß liegt sie auf den Knien und himmelt süß, wie in einer italienischen Kirche. Es sieht aus, als würde sie den Gerberastrauß anbeten, der neben ihr platziert ist. Auf der Website der Gemeinde, die auch die benachbarte Stepney City Farm zu den befreundeten Institutionen zählt, lese ich später, dass St Dunstan zu Modern inclusive Anglo Catholic gehört, einem Zweig der Church of England. Wir sind offen für alle, heißt das, vorurteilsfrei, gendersprachlich, verdammen nicht die Homosexualität, direkt danach aber sind wir so katholisch wie möglich. Vielleicht, denke ich, ist es das: andere Uhren, Linksverkehr, linkskonservativer Trieb am anglikanischen Stamm, Land hinter den Spiegeln. So katholisch wie möglich, vorher aber entschiedenst Church of England: erotische Exaltiertheiten wie das Keuschheitsjoch, auch sonst alles Unvernünftige pragmatisch abgeworfen, das Schöne und Zeremonielle aber in die Sprache der glorreichsten aller Nationen transferiert, die liturgischen Gewänder geistvoll abgewandelt und dem Marienkult rechts in der Ecke immer frische Blumen hingestellt. Nach dem Brexit von Rom 1531. 3. März, Regensonntag, draußen Krähenkrächzen. Beim Joggen im Grau kam mir die Lust auf Musik. Ich habe die falschen CDs mitgenommen. Zu wenig Kammermusik, zu wenig Impressionistisches. Statt Schumann hätte ich jetzt lieber Mendelssohn da. Mir ist nach Flimmern, milchigem Licht, kühlerer Innigkeit. Zu Hause lege ich wieder die Canticles mit den Chören von St Paul’s Cathedral auf, die ich mir, schon nach wenigen Tagen gegen meine Prinzipien verstoßend, im Bannkreis eines Evensongs dann doch gekauft habe. Ein guter Kauf. Ich höre das Benedictus von Malcolm Archer und spule dann zur Nummer acht, dem Coronation Te Deum von William Walton, und am Ende wieder zum Anfang zurück, bis dieser Eintrag geschrieben ist. Ich hatte immer gedacht, William Walton schreibe dicke, schwerfällige Musik, allein deswegen, weil sein Name so seltsam schneckenhaft eingerollt ist und keine arielhaften Aufschwünge verheißt wie etwa: Benjamin Britten. In den »London Love Stories« des Evening Standard werden Maleeka und Abdullah Yusuf aus Hackney vorgestellt. Maleeka, 23, ist Vollzeitmutter und Hausfrau, Abdullah, 30, Multitrader. Auf dem Foto, das die Liebenden zeigt, sitzen sie Hand in Hand auf einem kleinen Sofa. Der schwarz gelockte Abdullah lächelt über seinem üppigen Kinnbart. Er trägt einen blauen Kaftan und braune Wildlederschuhe. Maleeka schmiegt...