Nessler | Kindheitserinnerungen am Rande der Geschichte | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

Nessler Kindheitserinnerungen am Rande der Geschichte


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-347-35818-8
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

ISBN: 978-3-347-35818-8
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Biographische Zeitzeugentexte aus einer längst vergangenen aber sehr entscheidenden Umbruchszeit: Eine Textsammlung, deren Ziel es ist, eine erlebte Vergangenheit in einer kaum noch vorstellbaren Welt bei den Nachkommen nicht dem Vergessen zu überlassen. Historisch spielen die Texte am Rande der deutschen Geschichte. Sie zeigen, wie die totalitäre nazistische Herrschaft und deren Kriegsfolgen im örtlichen, kleinbürgerlich familiären Raum erlebt wurden. Die einzelnen Texte fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen, das von der Geburt des Schreibers (1932) bis zum Tod seiner Mutter (1955) reicht und dabei nicht nur die verschiedensten Lebensphasen und Sachbereiche berührt, sondern auch zu Beobachtungen führt, die zu einem Nachdenken bis in die Gegenwart Anlass sein können.

Dr. phil. Bernhard Nessler, geb. 1932, Studium der Philosophie, Germanistik und Romanistik, Lehrtätigkeit am Gymnasium und in der Lehrerfortbildung, freier Autor, Veröffentlichungen zur Philosophie sowie Übersetzungen und Lyrik, lebt in Freiburg i. Br.
Nessler Kindheitserinnerungen am Rande der Geschichte jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2. Die Kindheit in der Meersburger Unterstadt

I. Das Geburtshaus

Meine Eltern wohnten ursprünglich in Meersburg in der Unterstadt in der Spitalgasse. Sie hatten ein Haus direkt hinter dem Strandcafé. Es war nur wenige Schritte vom Schiffshafen, von der Seestraße und vom Seeufer entfernt. Es hatte drei Stockwerke. Im Erdgeschoss war nach einem Umbau der Kuhstall und daneben der Aufgang zum Wohnbereich. Aufgrund der Seenähe und der Höhe des Wasserspiegels gab es keinen Keller. Im 1. Stock befand sich unsere Wohnung. Sie bestand aus der Küche, dem Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern. Meine Eltern, mein ältester Bruder Rudolf, meine Schwester Marianne, ich und auch noch mein jüngerer Bruder Siegfried wohnten bis 1936 also da. Im Stockwerk über uns war die Wohnung von Onkel Johann, dem Bruder meines Vaters mit seiner Familie.

Das Haus hatte mein Vater 1924 von seiner Mutter geerbt. Sein Vater, Rudolf Neßler, war zuvor in Ausübung seines Berufs als markgräflicher Güteraufseher beim Traubenhüten angegriffen und so stark verletzt worden, dass er aufgrund seiner Verletzungen starb. Vater glaubte den Angreifer zu kennen. Doch es gab keine Zeugen, und so wurde der Fall juristisch niemals aufgeklärt und auch sozial in keiner Weise bereinigt.

Vater hatte infolge dieses Todes als der älteste Sohn der Familie, nicht nur die väterliche Landwirtschaft und die Anstellung beim Markgrafen zu übernehmen, sondern auch die Fürsorge für die verwitwete Mutter und die teilweise noch unmündigen Geschwister. Er erbte dafür das Elternhaus, doch nur einen Teil des unter den Geschwistern aufgeteilten väterlichen Grundbesitzes. Er gründete unter diesen Voraussetzungen seine eigene Familie und stand so in seinen jungen Jahren persönlich vor einer komplizierten Aufgabe, die er bei einem sehr bescheidenen Einkommen und nach dem Gebot damaliger Wertvorstellungen auf jeden Fall zu erfüllen hatte. Diese jugendliche Familienerfahrung hat ihn fürs Leben geprägt und gewiss dazu geführt, dass verantwortliches Handeln in seinem Umfeld für ihn in allen Lebensphasen zur entscheidenden Maxime wurde. Dieses Umfeld war in erster Linie die eigene und die geschwisterliche Familie, aber dazu gehörten auch seine Verpflichtungen im markgräflichen Rebgut und über den familiären und beruflichen Sektor hinaus sein Engagement in der katholischen Kirchengemeinde und das Eintreten für die junge Demokratie in der Zentrumspartei in der Weimarer Zeit und nach dem Krieg in der CDU und die Übernahme von Leitungsfunktionen in verschiedenen landwirtschaftlichen Vereinen.

Ich bin in diesem Haus im 1. Stock, im Schlafzimmer der Eltern, am 20. Mai 1932 zur Welt gekommen. Wie ich später herausbekam, war es an einem Freitag in der Woche vor Pfingsten - eine Hausgeburt, wie es damals üblich war. Ich habe in den ersten Lebensjahren im Zimmer mit meinen Geschwistern geschlafen. Ich erinnere mich noch an meine Eisenbettstatt mit dem abklappbaren Seitenteil sowie an die in der Mitte durchgelegene Matratze auf einem wie ein Kettenhemd zusammengehäkelten Metallrost. Und ich erinnere mich an Krankheitstage in diesem Bett, die nicht enden wollten. In Fieberträumen taumelte ich durch Landschaften auf der Zimmertapete: Aus dem violetten kleinblumigen Tapetenmuster krochen Hexen, schwebten zur Decke hin und zogen mich aus dem Bett. Klar vor Augen ist mir auch noch unsere Stube mit ihrer dunkelgrünen Tapete und dem Schreibtisch meines Vaters, den er als Güteraufseher des Markgrafen ja immer schon brauchte, etwa für die wöchentlichen Taglohnabrechnungen für die Rebarbeiter. Verstärkt durch die dunkelbraunen Möbel, herrschte in diesem Raum eine bedrückend düstere Stimmung. Aus der Gasse, auf die hinaus das Fenster ging, kam niemals Sonne ins Zimmer. Doch man konnte ja mit wenig Schritten zur Seestraße gehen und hatte dort je nach Wetter und Jahreszeit bald ruhig, bald stürmisch bewegt, die Weite des Sees vor Augen bis hinüber in die Schweiz und bis zu den Alpen.

Besonders interessant war es für mich, als ich schon etwas älter war, an der Schiffslandestelle die Ankunft und die Abfahrt der Schiffe zu beobachten und zu schauen, ob man einen der Ankömmlinge kannte. Es gab schon die „Hohentwiel“ und die „Zähringen“, zwei dickbauchige, einstöckige Raddampfer, die mit ihren roten Schaufelrädern das Wasser aufwühlten und immer mit einer gewissen Schwerfälligkeit an der Hafenmauer anlegten. Als ich erstmals mit der Mutter nach Konstanz durfte, wo sie ihre größeren Einkäufe machte, war für mich die große Sensation auf dem Schiff die Dampfmaschine, die vom Innendeck aus im Bauch des Schiffes frei einsehbar war. Unermüdlich bewegten sich die beiden Kolbenstangen her und zurück und wieder her und zurück und bewegten das Schiff offenbar über die Schaufelräder wie mit zwei riesigen Armen.

Mit der Familie des Onkels war ich gewiss nur wenig zusammen, obwohl das erste Foto, das es von mir gibt, und das einzige in meinem Geburtshaus, in seiner Wohnung aufgenommen wurde. Die beiden Familien verstanden sich nicht. Es gab Erbstreitigkeiten. Vor allem aber: Die beiden Mütter konnten sich nicht leiden und haben sich später, nachdem die beiden Familien an verschiedenen Orten wohnten, niemals besucht.

II. Das Unterstadtmilieu

Da ich in der Unterstadt geboren und in den ersten kindheitlich prägenden Jahren dort aufgewachsen bin, war ich eigentlich ursprünglich nicht einfach nur ein Meersburger, sondern auch ein Unterstädtler. Nicht wenige Leute, die ebenso da wohnten, bestanden auf dieser speziellen Identität. Die Unterstadt war mein Kindheitsmilieu, und sie war das Milieu, in das die Eltern mit allem, was sie waren und unternahmen, voll integriert waren. Es war schon aufgrund der belastenden familiären Situation und der schwierigen Nachkriegsprobleme nach dem 1. Weltkrieg für die Eltern zwar nie die beste aller möglichen Welten, aber für sie und ihre Kinder das Zuhause. Vater war daselbst aufgewachsen, und das Haus, in dem wir wohnten, war ursprünglich schon sein Elternhaus gewesen, das er zusammen mit einem Scheunenhaus auf der anderen Straßenseite und einem Rebgrundstück an der Ausfallstraße Richtung Uhldingen geerbt hatte. Jeder Winkel und alles, was da geschah, war in gewisser Weise Eigentum und vertraut ebenso wie die Leute, die da wohnten und wo einer dem anderen seinen Dienst erwies. Ob die Vorfahren Urmeersburger waren, ist nicht mehr auszumachen. Möglicherweise ist ein Urahne „Neßler“ als „Schwabenkind“ nach Meersburg gekommen und hat hier, als Meersburg schon ein bekannter Weinort war, mit mühevoll zu bearbeitenden Weinbergen, als Rebarbeiter sein Auskommen gefunden. Doch nicht die Herkunft, sondern das gelebte Dasein begründet die Identität.

Es ist ein Jammer zu sehen, wie heute dieser Stadtteil zu einem bloßen Konsumviertel vor allem für Tagestouristen verkommen ist. Es gibt kaum noch alt Eingeborene und nichts Althergebrachtes mehr. Die Häuser sind modernisiert. Vor allem sind die großen Dachgaupen mit ihren Flaschenzügen verschwunden. Und es gibt fast nur noch Andenkenläden und Fastfoodlokale und Trinkbars für den augenblicklichen Genuss. Für die Bürger der Stadt war die Unterstadt lange der wichtigere Stadtteil. Sie ist ja buchstäblich auf Sand gebaut. Die südliche Hälfte ihres Areals wurde im 14. Jh. aufgeschüttet. Diese Aufschüttung hat es erlaubt, eine Marktstraße mit zwei Toren anzulegen. Engagierte bürgerliche Anstrengungen führten zur Verleihung des Marktrechts und etwas später des Stadtrechts. Ein sehr starkes bürgerliches Engagement machte also aus dem vorherigen unbedeutenden Fischer- und Rebleutedorf am Burgabhang eine Stadt. Es gab hier in der Spitalgasse das Ortsspital. Die mächtigen Bischöfe von Konstanz, die als Burgbesitzer zunächst am Ort nur als Gäste präsent waren, honorierten trotz immer wieder aufflackernden Streitigkeiten mit der Bevölkerung diese Entwicklung durch die Errichtung etwa der Unterstadtkapelle, die lange Zeit ein selbständiges religiöses Zentrum war, auch noch neben der Stadtpfarrei in der Oberstadt. Als sich die Bischöfe in der Reformationszeit aus Konstanz nach Meersburg zurückzogen und in der Oberstadt ihre Verwaltungsgebäude und Paläste errichteten, bezogen die Prälaten selbstbewusst ihr Domizil in der Unterstadt im Gebäude des heutigen Hotels Schiff.

Soviel nur vage zur Vorgeschichte der Unterstadt. Als ich geboren wurde, war sie immer noch ein sehr selbständiger und durch ein lebhaftes bürgerliches Leben geprägter Stadtteil. Hier gab es alle Geschäfte, die man brauchte, und meistens sogar mehrfach. „Läden“ sagte man, nicht Geschäfte. Das Wort „Laden“ bezeichnete ursprünglich das Auslagebrett eines Verkaufsstandes, also einen Ort, wo der Käufer sieht und prüft, was er kaufen will, nicht so sehr den Ort, wo der Verkäufer mit seinen Artikeln Geschäfte macht. Der...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.