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E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Neudecker Boxenstopp

Roman
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-10884-7
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-10884-7
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die malerische Kulisse Portugals. Das Dröhnen der Boliden auf der Rennstrecke von Estoril. Und eine Frau, die mit einer männerdominierten Wirtschaftswelt kollidiert.

Als erfolgreiche Fernsehmoderatorin wird sie häufig für Marketing-Events gebucht. Diesmal soll sie gleich einen ganzen Monat für die Präsentation eines luxuriösen Sportwagens zur Verfügung stehen. Autos haben sie nie interessiert, doch die Aussicht ist verlockend: Das neue Modell wird auf der ehemaligen Formel 1-Rennstrecke im portugiesischen Estoril den Vertragshändlern aus der ganzen Welt vorgeführt. Sie akzeptiert. Und damit beginnt ein Sturz in die Katakomben des Big Business – dorthin, wo sich die Grenzen von Geld, Gier, echten Gefühlen und glitzernden Oberflächen verwischen. Denn im Zentrum wirtschaftlicher Macht gelten eigene Gesetze.

Christiane Neudecker, für ihre klare, atmosphärische Prosa vielfach ausgezeichnet, gelingt mit "Boxenstopp" ein literarischer Trip in die Abgründe der Wirtschaftswelt, ins marode Innere unserer Gesellschaft: poetisch, zornig, hochaktuell.

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Als ich endlich einen Lichtumriss erkennen kann, muss viel Zeit vergangen sein. Ich laufe schneller, schiebe mich aus der Maueröffnung hinein in das geräumige, kreisrunde Brunneninnere. Das Licht hier unten ist fahl, draußen muss sich der Himmel zugezogen haben. Grau und verhangen spannt er sich hoch über mir über den Brunnenrand. Es scheint zu regnen, überall tropft es. Ich trete in die Mitte des Schachts, auf den eingelassenen, achtzackigen Stern, und lasse die Tropfen auf meinen Körper fallen.

Ich weiß nicht, worauf ich warte. Mein Haar ist schon ganz feucht. Ich lege den Kopf in den Nacken und sehe aufwärts. Die Steinmauer ist rundum mit Moos und grünem Farn überzogen, aus den Mauerritzen quellen Farne und lange, giftgrüne Unkrautfäden. Im spiralförmigen Lauf perlen die Regentropfen über die Wendeltreppe, die Stufen verflüssigen sich.

Einen Moment lang schließe ich die Augen. Ich stelle mir vor, wie das gewesen sein muss – hier gefangen zu sein, als einer der Novizen, der nicht weiß, wie er entkommen soll. Das Merkwürdige daran ist: es fühlt sich bekannt an. Ich kenne diese Starre, diese Ausweglosigkeit. Das Verharren.

Aber ich muss hier nicht bleiben. Ich kann gehen. Das habe ich endlich begriffen.

Draußen blendet mich die Sonne. Überrascht blinzele ich in den klaren Himmel. Es regnet tatsächlich nicht. Als würde im Brunnen ein anderes Wetter herrschen, eine andere Gesetzmäßigkeit. Die Luft hier draußen ist frühlingswarm. Ich atme tief ein und beuge mich über den Brunnenrand. Ein letztes Mal sehe ich bis tief hinab auf den blinkenden Grund. Ich fühle mich leicht. Als hätte ich dort unten etwas zurückgelassen.

Als ich aus dem Garten zurück auf die Straße trete, bleibe ich kurz stehen. Ich halte mein Gesicht in die Sonne, reibe meine ausgekühlten Hände. Dann laufe ich los, abwärts, vorbei an störrisch aufragenden kleinen Häusern und überquellendem Grün, zurück zum Palácio Nacional. Erst gehe ich langsam, dann immer schneller, bis ich fast zu hüpfen beginne.

Ben lehnt an der hell strahlenden Fassade des Palácio. Sein schwarzes T-Shirt und seine schwarzen Jeans zeichnen ihn scharf von der weißen Fläche ab. Die dunklen Haare sind ein wenig länger geworden, sie fallen ihm vom Scheitel bis an den oberen Rand der dunkel getönten Sonnenbrille. Ein breites Grinsen legt sich über sein Gesicht, als er mich entdeckt.

Ich habe bestanden.

Mit meinem rechten Fuß kickte ich die Splitter des P7-Scheinwerfers über den Boden der Werkstatt. Das Glas verfing sich in meiner Sohle und zerknirschte unter meinem Tritt. Ich stand mit dem Leiter Produktmarketing vor einem aufgebahrten, gestauchten P7. Der Mechaniker sah uns nicht an. Kopfschüttelnd starrte er auf den verformten Wagen vor ihm. Der Kotflügel und die Beifahrertür waren eingedrückt, die Airbags ausgelöst. Den Unterboden konnte ich von hier aus nicht sehen, aber anscheinend hatte sich die komplette Struktur verzogen. Für mich sah das Ganze nicht so schlimm aus, ein leichter Blechschaden vielleicht, aber der Mechaniker schien zutiefst erschüttert. Er nahm sein Schneyder-grünfarbenes Basecap vom Kopf und drehte es in seinen Händen. »Totalschaden«, sagte er dann. Und setzte nach: »Vierfach-Einschlag.« Neben mir atmete der Leiter Produktmarketing scharf aus.

»Die Händler«, sagte er, als wir über die sonnenbeschienene Rennbahn zurück zu unserem Pitstop-Eingang schlenderten, »mit ihren Privatautos trauen die sich nichts, aber hier fahren sie wie die letzten Idioten.« Der siebte Wagen sei das bereits, das koste die Firma ein Vermögen. »Wir haben zwei Komplettausfälle kalkuliert, höchstens drei.« Er stöhnte. »Die Russen«, sagte er, »die Russen sind die Schlimmsten.«

Ich breitete vor unserer Box meine Privatjacke auf den sonnenwarmen Boden und achtete beim Hinsetzen darauf, dass mein kurzes Kostüm nicht mit dem Asphalt in Berührung kam. Bis zu unserem nächsten Auftritt war noch fast eine halbe Stunde Zeit, wir befanden uns in der Pause zwischen der zweiten und dritten Produktworkshop-Wiederholung der sechsten Welle. Der dreiundzwanzigste Workshop lag also vor uns – der dreiundzwanzigste Auftritt, die dreiundzwanzigste Anmoderation der immer gleichen Videoeinspieler, zum dreiundzwanzigsten Mal die Frage: »Wie hat es Schneyder Motors wieder einmal geschafft, dass beim neuen P7 umfangreichste Mehrausstattungen mit einem Minimum an Gewichtszunahme einhergehen?« Ich hatte längst gelernt, mit den Zeitverzögerungen zu arbeiten. Mit den minimalen Verschiebungen, die sich in den leer bleibenden Blicken der Zuschauer abzeichneten, bis sie über die Headsets die Übersetzung unserer Worte souffliert bekamen. Noch immer moderierten wir alles auf Deutsch – wir seien schließlich, so argumentierte man bei Schneyder Motors, ein urdeutscher Konzern und berühmt für unsere deutsche Effizienz. Das deutsche Gütesiegel werde also mit der deutschen Sprache als Firmensprache unterstrichen. Deshalb wurde auch mein Kostüm nicht den kulturellen Gepflogenheiten der Gäste angepasst. Bisher hatte mich das nicht weiter gestört. Aber jetzt, bei der sechsten, der arabisch/nordafrikanischen Welle, kam mir das unangemessen vor. Eine der Araberinnen in den eingebauten, kleinen Übersetzerkabinen trug eine Burka. Unterseher soll einen Wutanfall bekommen haben, als ich Saumverlängerungen für meinen Minirock einforderte.

»Wie hältst du das aus?«, sagte ich und lehnte meinen Rücken gegen das Rolltor. Der Leiter Produktmarketing sah mich verwirrt an. »Was meinst du?« »All das hier. Den Ton. Das Testosteron. Wer arbeitet, muss auch trinken

Er lachte, in seinen Wangen vertieften sich die Grübchen. Dass er Ziehkind des Konzerns sei, sagte er. Ganz jung habe er dort angefangen, direkt nach dem Studium. Und habe eben schnell lernen müssen, sich Überlebensstrategien zurechtzulegen. Er ließ sich neben mich auf die Jacke sinken und kramte eine Schachtel Zigaretten aus seinem Jackett.

»Weißt du, was ich tue, wenn einer von denen mich anbrüllt?« Er sah mich erwartungsvoll an und steckte sich eine seiner filterlosen Zigaretten in den Mundwinkel. Ich schüttelte den Kopf. Er ließ das Feuerzeug aufflammen und zog. Dann senkte er seine Stimme: »Ich trete einfach zur Seite.« Ich musste schmunzeln, aber er hob die Hand mit der frisch angezündeten Zigarette. Perfektioniert habe er diese Technik bereits, fuhr er fort. Es sei die einzige Möglichkeit. Widerworte würden ohnehin nicht geduldet. Also trete er einen Schritt beiseite und lasse das Geschrei an sich vorüberrollen. Früher habe er sich dazu ziemlich auffällig abwenden müssen, das habe den Zorn der Chefs nur vergrößert. Inzwischen reiche eine kleine, nahezu unmerkliche Verschiebung der Körperachse. Und was die Partys betreffe – er lehnte sich an mich und flüsterte: »Ich verschwinde.« »Was?« Irritiert sah ich ihn an. »Das kann nicht sein«, sagte ich und wedelte die Wolke aus Rauch beiseite, die er mir ins Gesicht geblasen hatte. »Ich habe dich dort gesehen«, insistierte ich, »du warst immer einer der Letzten.« Er fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare und grinste.

Er erklärte es mir erst später an diesem Tag: er und Kayserts Sekretärin haben einen Deal. Sie tanzen gemeinsam zu Beginn des Abends einmal an Kaysert vorbei. Dann gehen sie schlafen, getrennt. Drei- bis viermal stellen sie sich den Wecker in diesen Nächten, je nach Dauer der jeweiligen Club7-Party. Er spritzt sich Wasser auf das Hemd, sie verschmiert ihr Make-up mit Öl. So wirken sie verschwitzt, wenn sie wieder auf der Tanzfläche sind. Sie sind eingespielt, sie sind gut. Bisher hat niemand etwas bemerkt. Und das Wichtigste: in der letzten Schicht bleiben sie immer bis zum Schluss. »Das«, sagte er, »ist alles, was zählt.«

Eine der Tänzerinnen steckte ihren Kopf aus dem Eingang. »Sie kommen«, sagte sie und deutete auf eine Gruppe von Leuten, die am Kontrollturm einem abgedunkelten VIP-Bus entstieg. Langsam näherten sie sich uns. Ihre weißen, langen Gewänder schleiften über die Rennstrecke, der Boden schien unter ihrem fließenden Vorwärtskommen zu flirren. Im Gegenlicht der warmen Spätsommersonne wirkten sie einen Augenblick lang wie die orientalische Fata Morgana einer steinernen Wüste aus Asphalt.

Neben mir erhob sich der Leiter Produktmarketing. Seine Muskeln waren angespannt, sein Blick auf einen fixen Punkt geheftet. »Das gibt es nicht«, sagte er und ließ seine halb aufgerauchte Zigarette auf den Boden fallen. Seine Stimme klang erschrocken, sein Körper versteifte sich.

»Er kommt doch nie zu den Workshops«, sagte er, den Blick noch immer geradeaus gerichtet. »Wer?«, fragte ich. Ich hatte gerade meinen rechten Schuh abgestreift und tastete die Außenseite nach einer verbliebenen, durchstechenden Glasscherbe des P7-Scheinwerfers ab. Der Leiter Produktmarketing sah zu mir herunter, er musterte mich, sein Gesichtsausdruck war plötzlich ungeduldig. Er riss mir den Schuh aus der Hand. Mit einem Ruck zog er den Splitter aus der Sohle.

Die Melodie schwebte durch das Studio. Der Klang der ersten Geige schwang in der Luft nach, wurde getragen von den wehmütigen Tonfolgen der zweiten Geige, der Bratsche und des Cellos. Es lag eine Weite in dieser Melodie, eine Offenheit, ein Versprechen. Die weichen Auf- und Abwärtsläufe durchzogen den Raum. Ich saß im abgeblendeten Licht auf meinem Talksofa und rührte mich nicht. Eine der Kameras war noch auf mich gerichtet, ich konnte, ohne mich ihr zuzuwenden, das rote Aufnahmelicht leuchten sehen. Meine Hände hatten zu zittern begonnen und ich konnte nur hoffen, dass meine Fassungslosigkeit, mein sich zusammenziehendes, plötzlich so schnell schlagendes...


Neudecker, Christiane
Christiane Neudecker, geb. 1974, studierte Theaterregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Berlin. Seit 2001 arbeitet sie international mit dem Künstlerkollektiv phase7 zusammen, u.a. für die KI-Oper »Chasing Waterfalls«, die 2022 in der Semperoper Dresden und auf dem New Vision Arts Festival Hongkong Premiere feierte. Für ihre Romane und Kurzgeschichten erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und erhielt ein begeistertes Presseecho.



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