Neudecker Sommernovelle
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15386-1
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-641-15386-1
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist der Sommer, den sie nie vergessen werden. In ihren Ferien arbeiten zwei 15-jährige Schülerinnen auf einer Vogelstation direkt am Meer. Bei flirrender Hitze streifen sie über die Nordsee-Insel und lauschen den Trillergesängen der Austernfischer, sie trinken eisgekühlte Limonade, zählen Silbermöwen am Himmel und führen Kurgäste durch das schillernde Watt. Doch dann holt eine Realität sie ein, mit der sie nicht gerechnet hatten. Denn was geschieht, wenn man sich mitten in der Lebenslüge eines anderen Menschen befindet?
Pfingsten 1989: Lotte und Panda wollen die Welt verändern. Es ist die Zeit kurz vor der Wende, in der es für Jugendliche in der BRD vor allem Nord und Süd gab, nicht aber Ost und West. Deutschland liegt noch im Schatten der Wolke von Tschernobyl und jedes Gewitter bringt sauren Regen. Die beiden Freundinnen sind sich einig: Sie wollen handeln. Gemeinsam mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe aus Rentnern und Studenten leisten sie ökologischen Dienst in einer skurrilen Vogelstation. Da ist etwa Hiller, der vogelbesessene Pensionär, der Panda in sein Herz schließt und ihr beibringt, das Meer zu deuten und den Himmel zu lesen. Er fasziniert sie mit seiner Liebe zur Literatur und taucht mit ihr ein in die Legende von Rungholt, der tief in der Nordsee versunkenen Stadt. Lotte nähert sich dem attraktiven Julian an, der sie für erwachsener hält, als sie tatsächlich ist. Langsam aber fügen sich die Eigenheiten der Station zu einem entlarvenden Mosaik zusammen. Und den Mädchen stellt sich die Frage, wie viel Idealismus man sich als Erwachsener eigentlich bewahren kann.
Mit leuchtender Erzählkraft entführt Christiane Neudecker ihre Leser an die stürmische Nordsee, hinein in die Turbulenzen des Erwachsenwerdens – und in die Magie eines unvergesslichen Sommers.
Autoren/Hrsg.
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Das Meer, das Meer
Es gibt diese Sommer nur in der Kindheit oder in der Jugend. Oder im Übergang vom einen zum anderen. Ich habe nie wieder so etwas erlebt. Dabei war jener Sommer eher ein Frühling. Und er dauerte nur zwei Wochen lang.
Die Hitzewelle muss schon vor Pfingsten begonnen haben. Die Luft war durchzogen von Salzdunst und vom Duft aufspringender Dünenrosen, sie vibrierte unter dem Summen der Bienen, dem Knistern im Sand verdorrender Schalentiere. Auf den Salzwiesen wucherte der Strandflieder und von den aufgeheizten Feldern quollen die grellgelben Rispen des Labkrauts, das wir für Raps hielten, bis auf die Bohlenwege hinauf. An manchen Tagen hob der sommerwarme Wind von den Dünen ganze Schleier aus Flugsand ab, die sich bei den Wattführungen um unsere nackten Knöchel schlängelten. Wenn wir inmitten der Sandverwirbelungen stehen blieben, sahen wir ein Flimmern über der Ebene und die in der Ferne vorüberziehenden Schiffe zerflirrten vor unseren Augen zu Luftspiegelungen. Wir stellten uns so die Wüste vor. Wir suchten, das versicherten wir uns gegenseitig, Kamele am Horizont.
Die Vogelstation lag an der Nordspitze der Insel. Das Haus sah von jeder Seite anders aus. Wenn man westlich über den Deich kam, duckte es sich in die Böschung hinein. Es schien dann kleiner zu sein als es wirklich war, ein störrisches, niedriges Gebäude mit Ausbuchtungen und verschachtelten Anbauten. Die Inselbewohner sagten, es sei viel zu dicht am Wasser gebaut. Schon damals hatte die Insel begonnen, im Meer zu versinken. Immer wieder brachen an der offenen Seeseite ganze Erdschollen aus den Klippen heraus und stürzten in die Brandung. Abrutschende Gärten mussten mit Pfählen gestützt werden, das Rote Kliff durften wir nicht betreten. Aber die Deichseite der Insel hielt. Eine Springtide habe es zwar schon oft gegeben, erzählte uns der Professor, mehrere Sturmfluten, einen Dammbruch sogar, doch die Station habe immer standgehalten. Wir nickten und stellten uns vor, wie das aufgepeitschte Meer durch den berstenden Deich gerollt sein musste. Lotte malte, wenn wir frei hatten, Bilder davon. Das Haus lugte darauf aus den Wellen heraus, es blickte mürrisch und hielt die Fensterläden missmutig verklappt. Leere Vogelreusen tanzten auf Schaumkämmen, die befreiten Vögel stachen hoch hinauf in den zerfurchten Himmel. Ich saß neben Lotte im sonnenbeschienenen Gras, ich aß Äpfel, die ich bis auf den Stiel abnagte, ich kaute Gehäuse und Butzen, schluckte Kerne und betrachtete Lotte und beneidete sie. Ich selbst konnte nicht malen. Ich beobachtete, wie ihre Hände das Papier glatt strichen, wie sie den Stift zu klaren Linien ansetzte, wie sie mit wenigen Umrissen dem Gebäude seinen Charakter gab. Zu Hause saßen wir in Kunst nicht nebeneinander. Dass sie zeichnen konnte, wusste ich trotzdem. Immer wieder hielt die Kunsterzieherin ihre Bilder in die Höhe. Lotte habe, erklärte die Lehrerin der Klasse, einen Blick für die Dinge. Und das stimmte. Es war der beste Winkel, von dem aus man sich der Vogelstation nähern konnte.
Als wir anreisten, kamen wir über die Hafenstraße. Wir sahen zuerst den riesigen, zubetonierten Parkplatz, an dessen Rand die gelbe Telefonzelle stand, von der aus wir, mit unzähligen Zehn-Pfennig-Münzen ausgestattet, alle zwei Tage unsere Eltern anrufen würden, immer im Wechsel, weil sie sich untereinander verständigen würden, dass es uns gutging. Wahrscheinlich sahen wir auch die Bretterverschläge mit den fettverschmierten Stehtischen davor. Die verbeulten Mülltonnen, an denen sich zerrupfte Krähen mit Möwen um Fischabfälle zankten. Die Wand aus ausrangierten, übereinander getürmten Bojen und Gummireifen, weit hinten am Hafenrand. Und hoch aufragend, mitten auf der weiten Asphaltfläche: den Kran, von dem aus sich ab Pfingstsonntag die Bungeespringer in die Tiefe fallen lassen würden. Das Haus entdeckten wir, als wir aus Sebalds Auto stiegen, nicht sofort. Dabei war es nicht zu übersehen.
Unsere Anreise dauerte lang. Es war ein später Donnerstagabend, an dem uns unsere Mütter in Süddeutschland zum Nachtzug brachten. Wir hätten müde sein müssen, aber wir waren es nicht. Allein schon die Tatsache, dass wir für den letzten Freitag vor den Ferien von der Schule befreit waren, hielt uns wach. Wir liefen hin und her, wir beugten uns am Bahnsteigrand vor und zurück, spähten den sich kreuzenden Linien der Schienen nach. Wir sehnten das Aufleuchten der kreisrunden Lokscheinwerfer in der Dunkelheit herbei, wir lachten, gestikulierten, sprachen durcheinander. Auch Lottes Mutter konnte nicht aufhören zu reden. Immer wieder fragte sie uns, ob wir alles hätten, ob wir uns freuten. Immer wieder griff sie nach der herumtänzelnden Lotte, fuhr ihr mit der freien Hand durch die braunen Locken. Nur meine Mutter stand still und aufrecht zwischen uns, die Zigarette zitterte in ihrer schmalen Hand. Das Lächeln, um das sie sich so bemühte, glitt aus ihrem erschöpften Gesicht. Sie sprach mich nicht an, bis der Zug einfuhr. Erst als ich meinen blauen Rucksack durch die enge Tür hob, sagte sie leise: »Vielleicht solltest du nicht fahren. Nicht jetzt.« Ich stockte kurz. Dann tat ich, als hätte ich sie nicht gehört, und stieg ein.
Dass die Kühe schwarz-weiß werden würden, je nördlicher wir kämen, flüsterte ich Lotte zu, als wir schließlich in unsere Schlafsäcke gehüllt nebeneinanderlagen und zu den Umrissen der am Fenster vorüberwischenden Baumkronen hinaufsahen. Wir hatten ein Abteil für uns alleine gefunden, hatten unsere Taschen und Rucksäcke verstaut, die orangefarbenen Sitze zu einer durchgehenden Fläche ausgezogen und die Vorhänge zum Gang mit Sicherheitsnadeln ineinander verhakt. Meine schwarzen Stiefel hatte ich neben mich gelegt und mit den Schnürsenkeln an meinem Handgelenk festgebunden. Es waren echte Docs, auf die ich das ganze letzte Jahr lang gespart hatte. Meine Mutter fand sie furchtbar klobig und unmädchenhaft, aber ich war noch nie auf etwas, das mir gehörte, so stolz gewesen. Ich liebte das grobe Profil und die geriffelten Abdrücke, die ich im Winter damit im Schnee hinterlassen konnte. Und wenn ich irgendwo saß und nachdachte, konnte ich stundenlang die einzelnen Stiche der gelben Naht betrachten. Nur manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich statt der Achtloch- lieber die Zehnloch-Variante hätte wählen sollen, aber ich wollte nicht versehentlich mit einem Skinhead verwechselt werden.
Eine Kuh-Verwandlung sei das, fuhr ich fort und versuchte mich schläfrig an den lateinischen Begriff zu erinnern, eine amtliche Meta-, Metamordings. Immer mehr schwarz-weiße Kühe jedenfalls, erklärte ich gähnend und tastete mit den Fingern nach dem beruhigend glatten Leder meiner Schuhe, würden jetzt da draußen auftauchen und sich unter die Braunkühe mischen – bis schließlich, ganz oben an der Küste, ein kompletter Farbwechsel vollzogen sei.
Ich sah mich als Expertin. Einen Osten gab es damals für uns nicht, er tauchte auf unserer inneren Landkarte kaum auf. Aber der Norden! Das salzige Meer, die Wanderdünen, die Robben auf den Sandbänken: Dort wollten wir hin. Lotte war in den Schulferien mit ihren Eltern meistens nach Italien gereist. Mit ihrem blauen VW-Bus waren sie über den Brenner an den Gardasee gefahren, in die Toskana, oder zu den hoch aufragenden Hotelburgen an den Adria-Stränden von Rimini, von Riccione. Aber ich war wegen meiner wiederkehrenden Mandelentzündungen schon öfter zur Kur an der Nordsee gewesen. Ganze Sommerurlaube hatte ich in Kinderkurheimen auf Föhr, auf Amrum, in St. Peter-Ording verbracht. Ich hatte, fand ich, Wissen über den Norden.
Dass sich die Felder und Hügel verflachen würden, bis wir in Hamburg wären.
Dass in der Aussprache das »scht« zu einem »s-t« werden würde: S-tein. Sees-tern. Mückens-tich.
Dass man dort in den Bäckereien überall Zwiebelbrötchen kaufen könnte, die es bei unserem alteingesessenen Bäcker in der Vorstadt nicht gab.
Und niemand, niemand grüßte dort Gott.
Lotte murmelte etwas und ich schloss die Augen. In meinem Rücken spürte ich die Bodenschwellen der Strecke, über mir hörte ich das Quietschen des in der Verankerung herumschwingenden Gepäcknetzes. Wir hatten die schwere Sporttasche mit den Esssachen dort hineingestemmt. Der Professor hatte uns wissen lassen, dass wir uns selbst würden verpflegen müssen. Und die Insel, besonders diese Insel, das wussten wir, war teuer. Nudeln und Reis hatten wir deswegen eingepackt, Pfefferminztee, Tuben mit Tomatenmark und Miraculi-Gewürzen, Marmelade, Multivitamintabletten, die wir in Leitungswasser werfen wollten, damit es ein wenig wie Limonade schmeckte, und sogar einen Blumenkohlkopf aus dem Garten von Lottes Oma. Ich drehte mich zur Seite. Draußen im Gang öffnete jemand eines der Schiebefenster und der Fahrtwind schlug gegen unsere Tür. Das Sitzpolster unter meinem Kopf roch nach kaltem Rauch. Ich atmete ein und dachte an meine Mutter, die jetzt schweigend und rauchend mit meinem Vater am Wohnzimmertisch sitzen würde, an die neue Stille daheim.
An die Vögel dachte ich noch nicht.
Sebald und Hiller standen an der steinernen Mole, um uns abzuholen. Lotte sah sie zuerst. Sie lehnte über der Reling, direkt unter der knatternden nordfriesischen Fahne mit dem Wappen aus halbiertem Adler, Königskrone und, wie wir fanden, Suppentopf. Ihren Oberkörper hielt Lotte so weit vorgebeugt, dem Meer entgegen, dass ich die ganze Fahrt über Angst hatte, sie könnte kopfüber in die Schaumkronen stürzen, die von hier oben aussahen wie poröse, auseinanderkrümelnde Eisschollen. »Das müssen sie sein«, rief sie mir zu, ließ das Geländer los und riss winkend beide Arme in die...