Neumann | An den Wassern von Babylon | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Neumann An den Wassern von Babylon

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-99027-320-3
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-99027-320-3
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
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Man schreibt das Jahr 1938, ein Autobus quält sich über eine staubige Straße nach Palästina. Hinter denen, die der Zufall in diesem Gefährt zusammengewürfelt hat, liegen bewegte Vergangenheiten, vor ihnen eine ungewisse Zukunft. Ein Grenzposten prüft die Liste der Passagiere: »Juden. Von überall.« Aus Konstantinopel, München und New York, aus Polen und Russland haben sie sich auf den Weg gemacht. Alle sind sie auf der Flucht, viele von ihnen schon seit langer Zeit. Robert Neumanns Exil-Roman An den Wassern von Babylon ist ein schillerndes Kaleidoskop der jüdischen Diaspora. Er erzählt von verleugneter Identität und trotzigem Aufbegehren, von Naivität und Widerstand, von Duldsamkeit, Zuversicht und Resignation. Dabei spielt Neumann mit den Slangs und Sprechweisen der Milieus, in denen sich seine Figuren bewegen, tritt als wütender Brandredner und bitterer Humorist auf, als akribischer Historiker und bibelfester Romancier.

geboren 1897 in Wien, gestorben 1975 in München. Neumann feierte mit seinen legendären Parodien erste literarische Erfolge. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, wo er als einer von wenigen Exilautoren publizistisch Fuß fassen konnte. Zeitlebens engagierte er sich neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als streitbarer Publizist.
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BORSCHT
oder Das Blut der Väter


Es fehlte nicht viel – und ein Mann mit Namen Borscht, ein mit Weib und Tochter reisender, finster blickender Schwarzbart, hätte jenen Blassen gekannt von altersher. Anläßlich der an jenem Augusttag des Jahres 1894 stattfindenden Tagung der Fliegenden Militärischen Kommission in der Stadt Semienka lag zwischen ihm und dem M. Wasservogel nicht mehr als eine einzige Mauer. Auf ihrer einen Seite war der gemeinsame Betraum der Talmud-Thora-Schule, in dem man den eben über die Doppelte Wahrheit des Rabbinen Isaak Albalag Meditierenden einfing, und auf ihrer andern Seite war der Lagerkeller des Heringhändlers Leib Fischel. Dort zog man den Commerzianten Meier Borscht hinter einer Fischtonne vor, wo verborgen er sich seinen patriotischen Pflichten hatte entziehen wollen. Der Commerziant Borscht war damals zwölf Jahre alt. Da er einen Schnurrbartanflug auf seiner Lippe trug, schätzte ihn der Fliegende Militär-Kommissar auf achtzehneinhalb und verpflichtet zum Waffendienst. Der Commerziant verkaufte sein Warenlager, bestehend aus einem Viertelpfund Zigarettenstummeltabaks, zu einem Schleuderpreis an den Krämer Tulpenthal. Bei dieser Gelegenheit beschlagnahmte er ein auf dessen Pulte liegendes Paket der teuren Schabbes-Wachskerzen. Die nahm ihm die alte Schanofski ab, die Frau des Mühlenbesitzers, und zwar für das genau Fünfunddreißigfache ihres Wertes – als er durchfließen ließ, er kenne den Versteckort des Schanofskischen Sohnes, der seit der Ankunft jener Kommission in einer leeren väterlichen Mehlkammer saß. Der Erlös erhöhte sich nach Einkassierung einiger außenstehender, an gleichaltrige Persönlichkeiten gegen Faustpfand gewährter Darlehen auf sechzehn Rubel und sechsundfünfzig Kopeken. Hievon erhielt dreißig Kopeken der ihn unter ständigen Todesdrohungen für den Fall eines Fluchtversuchs auf diesen Geschäftswegen begleitende Herr Gendarm. Fünf Rubel hatte der Herr Fliegende Militär-Kommissar selbst zu bekommen – und das obwohl er außerdem noch die Vorlage eines Dokumentes verlangte, das die behauptete Minderjährigkeit des Commerzianten bewiese. Weshalb weitere volle sechs Rubel und fünfzig zu investieren waren in einer Transaktion mit Schlojme dem Schreiber. Dafür sah aber auch der von ihm gelieferte kaiserlich russische Reisepaß so gut wie echt aus, und der darin beschriebene Commerziant M. Borscht hatte vorteilhafterweise eben erst das zarte Alter von acht Jahren erreicht.

Blieb von dem liquiden Borschtschen Kapital ein Rest von vier Rubeln und vierundsiebzig Kopeken. Sie wendete der Commerziant an den Ankauf koscherer Lebensmittel sowie eines Handkarrens, um sie zu transportieren. Damit fuhr er den hundertundachtzig Glaubensfrommen nach, die fortgeschleppt worden waren zum Militär. Er verkaufte seine Waren mit etwas über vierhundert Prozent Gewinn – von denen er allerdings an den Herrn Feldwebel der Kompanie die Hälfte hätte abgeben sollen (und tatsächlich genaue fünf Prozent abgab). Der Militärpope kam hinter diesen rituellen Versorgungsdienst und donnerwetterte dagegen nach Gojim-Art. Der Commerziant besänftigte ihn durch das Versprechen, die Taufe zu nehmen. Den Taufunterricht des Galachs verbog er nach zwei Stunden in einen Kursus im Lesen, Schreiben und Rechnen. Die Taufhandlung selbst wollte er, befallen von einer besondern christlichen Frömmigkeit, an keinem andern Tag als an dem noch beträchtlich entfernten Weihnachtsfeste vollzogen sehen. Drei Wochen vor diesem, als der noch ungetaufte Commerziant Borscht in den Lese-, Schreib- und Rechenkünsten schon wesentlich sattelfester war als sein Lehrer, wurde der Pope zu einem andern Regiment versetzt.

Dieser zwölfjährige Commerziant Meier Borscht aus Semienka in Russisch-Polen war – ohne daß er darum wußte (und hätte er darum gewußt, so wäre das für ihn nicht weiter von Bedeutung gewesen) – der Großsohn des Urgroßsohns jenes Meier Arboza oder Harboza, der mit dem sogenannten Falschen Großinquisitor zog. Das war nach der Austreibung der Juden aus Spanien. Etwa hunderttausend von ihnen erbaten von Juan dem Zweiten von Portugal Recht auf Durchzug. Der Portugiese gewährte es für acht bis hundert Gold-Cruzados per Kopf. Er verhinderte die Durchwanderer durch planvolle Verzögerung der Schiffsbeistellung an rechtzeitiger Abfahrt. Die hiedurch sich Verspätenden erklärte er als leibeigen und verschenkte oder verkaufte sie. Die Kinder wurden zwecks christlicher Erziehung nach der jüngst entdeckten Verbrecherinsel Sankt Thomas verschickt, wo sie sämtlich krepierten – soweit sie es nicht früher schon vorgezogen hatten, samt ihren Müttern ins Meer zu springen zu den Haien. Von den hunderttausend Juden blieben nach dieser Transaktion mit der portugiesischen Krone dreitausendachthundert am Leben. Mit unbekannten Mitteln gelang es diesen, doch noch in See zu stechen. Fünf Wochen später, am Ostertag 1498, traf zu Lissabon ein päpstlicher Legat und spezieller Großinquisitor ein. Die christliche Glaubenslauheit, wie sie sich in dem Echappierenlassen jener Dreitausendachthundert offenbarte, wurde von ihm zum Gegenstand einer scharfen und kurzen Untersuchung gemacht. Tags darauf brannten auf dreiundvierzig Scheiterhaufen dreiundvierzig Mönche und Pfaffen von Lissabon, obgleich sie ihren besondren Eifer beim zwangsweisen Judentaufen und der herzerfrischend exemplarischen Behandlung der Verstockten unter Beibringung vieler Einzelheiten beteuerten. Tags darauf, indes noch ringsum Heulen und Zähneklappern war, zog der Gehilfe jenes päpstlichen Inquisitionslegaten, ein finsterblickender, schwarzbärtiger Mann, die irdischen Güter der vom Leben zum Tode Beförderten ein. Und tags darauf war er samt dem Einkassierten und seinem Herrn mit einem Schlage verschwunden. Doch währte es noch beinah eine Woche, ehe der in Briefen avisierte päpstliche Speziallegat wirklich in Lissabon eintraf, mit großem Gefolge, und man so sah, daß der Pfaffenverbrenner nicht der echte gewesen war. Des falschen Inquisitors Name blieb unbekannt. Sein die Vermögen der Gerichteten einsammelnder Gehilfe hieß Meier Arboza oder Harboza.

Es zeugte aber dieser Meier Harboza aus der Kraft seiner Lenden acht Söhne, von denen in dem Großen Elend, das über die vertriebenen Juden kam, zwei Hungers starben an der Küste von Algier. Einen verschleppten die Berber, und er wurde nicht mehr gesehen. Einer wurde erschlagen auf einer Straße in Deutschland. Zwei, denen man kein Quartier gab, erfroren auf einem Alpenpaß. Einer, der der älteste und der mutigste war, kam bis nach Bagdad und starb dort an einer Krankheit, genannt: die Pest. Einen, den jüngsten, der noch zu zarten Alters war, zu wissen, wie ihm geschah, lockte ein Mönch an das Taufbecken mit einer hingehaltenen Rinde Brots. Der zweitjüngste aber, der all das überlebte und der den Namen Jona ben Meier trug, landete im Jahr 1527 in der Stadt Saloniki.

Dort war eben die Nachricht unter die Juden gefallen, es sei einer aufgetaucht, Reubeni mit Namen. Sein Bruder war König des verloren geglaubten Stamms Ruben und hatte irgendwo in der Wüste sein Königreich! Und war willens, mit Papstes und Spanienkönigs Waffenbrüderschaft zum nächsten Jahr das Land Palästina aus der Türkennot zu befreien! Ob dieser messianischen Nachricht bemächtigte sich eine große Erregung der von Gott geschlagenen Judenheit; und war die Judenheit der Stadt Saloniki mit allen anderen entschlossen, ohne viel Aufschub in jene Wüste und in die Schlacht zu ziehen. Darüber herrschte eine messianische Aufbruchsfreude, eben als Jona ben Meier vom Schiffe stieg. Da sah dieser Jona ben Meier (ein finsterer Kaftanmann mit einem Schwarzbart) seine Gelegenheit, kühlende und schattenspendende Wüstenhüte herzustellen nach seiner eigenen Erfindung und Phantasie. Die verkaufte er in großer Zahl den Juden von Saloniki für ihren Wüstenzug. Und als man daraufkam, daß sie nichts taugten und daß man übrigens ihrer nicht mehr bedurfte, da jener Reubeni schon als Schwindler entlarvt und in einem spanischen Gefängnis verkommen war – da war die Trauer über den Schwindel des Reubeni so viel größer als der Ingrimm über den Schwindel des Meier, daß man diesen letzteren laufen ließ.

Es zeugte aber dieser Jona ben Meier aus der Kraft seiner Lenden den Josua ben Jona, genannt Jossele Jonassohn der Buchhändler. Der zog von Gemeinde zu Gemeinde, aufrufend zur frommen Einkehr und Keuschheit der Sitten – und nach gehaltener Predigt versuchte er jedermann ein Exemplar anzudrehen des damals neu erschienenen frommen Werkes Schulchan Aruch, das heißt: der gedeckte Tisch. Er ward erschlagen im Jahre 1574 in Deutschland. Sein Sohn Schloime der Buchhändler ward erst erschlagen im Jahre 1612, in Lodcz im Land Polen, wo er sich niedergelassen und gezeugt hatte den Meier Salomonsohn, der bekannt ward unter dem Namen: der reiche Reb Meier Lodcz. Es war das derselbe, der die Uniformen und Sättel lieferte für den ukrainischen Hetman Chmelnicky, als der im Jahre 1648 gegen die Polen zog. Ferner Pferde sowie zwanzig Kanonen für den Polenkönig Jan Kasimir, als der den Chmelnicky aufs Haupt schlug. Ferner Schlachtvieh, Mehl und wieder Pferde und Kanonen sowie Darlehen baren Gelds für den Karl Gustav von Schweden, als der in Polen einbrach, sowie für den Polen, als der den Schweden wieder aus seinem Lande warf. Darüber zeugte der reiche Reb Meier Lodcz – ein finsterblickender Kaftanmann mit einem Schwarzbart – fünf Kinder. Und als ihm die erste Frau starb, zeugte er neun mit der zweiten. Und als ihm die starb (da war er achtundsiebzig Jahre alt), freite er eine dritte, die noch nicht zwanzig war, und zeugte mit ihr noch drei.

Von diesen siebzehn Kindern des reichen Reb...


Neumann, Robert
geboren 1897 in Wien, gestorben 1975 in München. Neumann feierte mit seinen legendären Parodien erste literarische Erfolge. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, wo er als einer von wenigen Exilautoren publizistisch Fuß fassen konnte. Zeitlebens engagierte er sich neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als streitbarer Publizist.

ROBERT NEUMANN geboren 1897 in Wien, gestorben 1975 in München. Neumann feierte mit seinen legendären Parodien (Mit fremden Federn, 1927) erste literarische Erfolge. 1934 emigrierte er nach Großbritannien, wo er als einer von wenigen Exilautoren publizistisch Fuß fassen konnte, 1958 übersiedelte er nach Locarno. Zeitlebens engagierte er sich neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit als streitbarer Publizist.



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