E-Book, Deutsch, 244 Seiten
Neumann Über allem und nichts
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7017-4631-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 244 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4631-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
geboren in Linz, Studium von Geschichte, Anthropologie, Völkerrecht und internationalen Beziehungen an der Universität Wien, der Diplomatischen Akademie Wien sowie in Paris. Langjährige Tätigkeit in leitenden Funktionen für NGOs, OSZE, EU und UNO sowie als Auslandskorrespondent in Asien, Afrika und Lateinamerika. Zahlreiche Publikationen, u. a. zu Globalisierung, Demokratisierung, Migration, friedliche Konfliktlösung/Mediation und Literaturkritik. Gunther Neumann lebt in Wien, 'Über allem und nichts' ist sein erster Roman.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
.
BLAISE PASCAL
»Fahren Sie nach Hause? Nach Deutschland?« Der Taxifahrer klopfte auf das Lenkrad.
Die Wischerblätter quälten sich über die Windschutzscheibe. Sie hatte sich mit den Motorrad-Satteltaschen nicht in die U-Bahn zwängen wollen und ein Taxi gerufen, ohne daran zu denken, dass der Abendverkehr in Madrid bei Regen zum Stillstand kam.
»Nein. Entschuldigen Sie. Ich bin müde.« Sie wich dem Blick im Rückspiegel aus, sah aus dem Fenster, auf den nassen Asphalt. Der Stau löste sich auf.
»Lufthansa?«
»British Airways.«
Bei der Ankunft am Flughafen gab sie dem Fahrer den aufgerundeten Fahrpreis, nahm die Taschen, lief durch die Abfertigungshalle, fuhr mit dem Shuttlezug zum Terminal, dann mit der Rolltreppe hinauf, schob ihre Taschen in das Röntgengerät und ging an den Menschenschlangen vorbei direkt zur Crew-Passkontrolle. Selbst die Besatzungen wurden zunehmend penibel überprüft. Sie trug Jeans und einen blauen Pullover, keine Uniform.
Wie lange war das her, dachte sie, ein Abschied am Münchner Bahnhof, ihre Hände an der Glasscheibe. Auf Flughäfen öffneten sich die Türen lautlos, zwischen Abschied und Abflug lag das Labyrinth glatter Perfektion. Weder Gabrio noch Matthias würden sie bei ihrer Landung erwarten.
Die Abendmaschine nach London war voll. Sie hatte einen Platz am Gang, nahm kaum wahr, wer links von ihr saß. Sie horchte auf das Rumpeln beim Laden des Gepäcks, das Anlassen der Triebwerke, den Schub, den dumpfen Schlag beim Einziehen des Fahrwerks. Sie war es nicht mehr gewohnt, die über Jahre fast körperlich gespeicherten Geräusche passiv aus der Kabine mitzuverfolgen.
»Nein, danke, kein Sandwich.«
Sie schob sich Lärmstopper in die Ohren, blätterte durch das Bordmagazin, vergrub dann die Hände in den Ärmeln ihres Pullovers und schloss die Augen. Es war Nacht, als die Maschine zum Landeanflug ansetzte.
Heathrow. Sie suchte an den Anzeigetafeln Colombo, hatte kaum eine Stunde zum Umsteigen, machte sich auf den Weg. Menschenströme kreuzten den Transitbereich, ein Sari raschelte, Rollkoffer surrten, Männer in Businessanzügen am Telefon.
Als am Gate das Licht neben der Colombo-Anzeige zu blinken begann, wurde ihr schlecht. Sie ging zur Toilette, kühlte das Gesicht mit Wasser, den Nacken, fühlte sich etwas besser. Die ineinandergeschobenen Tage, Monate lauerten ihr im Spiegel auf. Kümmerliche Reste ihrer dank der vielen Sommersprossen lange erhaltenen Kindlichkeit schimmerten durch. Sie sah eingefallen aus, nur ihr Hirn fühlte sich geschwollen an. Sie kniff die Augen zusammen, zog die Mundwinkel hoch, um die Gesichtsmuskeln zu beleben.
Wann hatte sie sich zuletzt bewusst im Spiegel gesehen? Ohne an sich vorbeizuschauen. Um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Jetzt sah sie winzige Falten auf teigiger Haut, das Resultat von auf 18 Stunden ausgebeulten Tagen, auf drei Stunden zusammengepressten Nächten, 165 000 Meilen in wenigen Wochen, Flugstrecken, imaginäre Linien. Sie fügten sich zu keinem Ganzen, blieben Gitterwerk zwischen ihren Fluchtpunkten. Mein Gesicht – auch Gitterwerk, dachte sie. Das Grün der Augen leuchtete nicht. Sie war nicht mehr schlank, sondern mager.
Vor Monaten war sie noch schön gewesen. Vielleicht. Matthias stand an die Glastür der Duschkabine seiner Münchner Wohnung gelehnt. Sein Blick hatte sie gestreichelt, war unter ihre Haut gegangen, wo er nicht hingehörte, hatte sie zur Abhängigen gemacht. Seine Komplimente über ihren Körper, die Linien ihrer Wangenknochen, ihre Art, sich zu bewegen, wie ein perfekt gespannter Bogen, und der Pfeil hat mich getroffen, schmeckten wie die Zuckerwatte auf dem Volksfest am Staffelsee, verführerisch und klebrig. Sie konnte als Kind nicht genug davon bekommen, bis sie sich übergab.
Ihre Haare waren glatt, sahen jetzt aber stumpf aus, obwohl sie sich letzte Woche einen Pagenkopf hatte schneiden lassen. Sie frisierte sich mit den Fingern, trug etwas Rouge auf, ging zurück zum Gate, setzte sich, unterdrückte ihre Übelkeit, schlang die Hände um die Oberarme, um ein Zittern ohne Zittern. Mit ihrem Stand-by-Ticket musste sie bis zum Schluss warten, beobachtete Briten, Singhalesen beim Boarding, alle in einer ordentlichen Schlange, nach den jüngsten Anschlägen waren keine Touristen darunter. Ihre eigene Fluglinie flog in die Karibik und nach Südamerika, kaum nach Asien. Elf Jahre lang hatte sie Sri Lanka gemieden.
Manchmal gab es für Kollegen anderer Airlines einen Platz in der Businessclass; heute nicht. Das Bodenpersonal am Gate versuchte bloß, Paare mit getrennten Plätzen zusammenzusetzen, eine Familie mit Kindern in der ersten Reihe der Economyclass unterzubringen. Die Kabinenchefin setzte wenige Minuten später auf Claras nochmalige Frage nach einem Upgrade ein unverbindliches Lächeln auf.
»Sind Sie Flugbegleiterin, Ms. Fink?«
»Pilotin.«
»Dann tut es mir besonders leid. Ich darf das nicht.«
Männerrivalität ist wenigstens offen.
Du bist ungerecht, dachte sie Momente später, und übermüdet. Wahrscheinlich bekäme die Purserin wirklich einen Rüffel. Die Regeln waren strenger geworden.
Die Maschine war nicht ausgebucht, aber der Sitz neben ihr war besetzt, ein älterer Herr, der nach kurzem Gruß noch vor dem Start hinter einer lachsfarbenen Zeitung versank. Es gab keine zwei freien Plätze nebeneinander, auf die sie hätte ausweichen können. Immerhin hatte sie jetzt einen Fensterplatz. Sie schaltete das Unterhaltungsprogramm ein, zappte, schaltete aus, fand im Turbinenlärm keinen Schlaf, nur einen Dämmerzustand.
Wenn sie im Cockpit saß, schätzte sie die Flüge westwärts mit der Nacht in summender Stille, sah sich als postmoderne Nomadin im Schutz einer kaum beleuchteten Höhle, am digitalen Lagerfeuer über schwimmenden Zeitzonen. Zwei, drei Becher Kaffee, ihr Körper durchtauchte mehrere Stadien der Müdigkeit. Die Sterne verblassten, Himmel und Meer begannen sich zu unterscheiden, Schwarz wurde zu Dunkelblau, wechselte zu Violett-Rötlich, wie aus Tintengläsern ausgelaufen, bis die Sonne von unten aufging.
Jetzt sah sie ihr Spiegelbild im Fensteroval, dahinter blinkte der Flügel gleichmütig. Vor ihr fand ein Kopf eine Schulter. Sie zog die dünne Decke hoch bis zum Kinn und war froh, dass es diesmal in den Osten ging und der Morgen schnell kam.
Colombo, früher Vormittag, Zollkontrolle, Geldwechsel. Ihre Augen suchten unwillkürlich den Zigarettenverkäufer, der ihr bei ihrer überstürzten Abreise vor elf Jahren die vergessene Tasche nachgetragen und keine Rupie dafür angenommen hatte. Der Ankunftsterminal war neu, der Fliesenboden gebohnert, Verkaufsstände von Mobilfunkbetreibern und Autovermietern spiegelten sich darin. Nichts erinnerte an damals. An einer Stehbar trank sie einen Cappuccino. Der Kaffee und ein Schwall feuchtschwüler Luft durch die offenen Türen trieben ihr den ersten Schweiß auf die Stirn.
»Madam, need hotel, Madam?«
»Hello Madam – Taxi? Tuk tuk?«
Sie bahnte sich einen Weg, kaufte eine Straßenkarte, quetschte sich mit ihren Satteltaschen in den öffentlichen Bus Richtung Stadt und machte sich anschließend in einer dreirädrigen Moped-Rikscha auf die Suche nach einem geeigneten Motorrad.
Der Verleiher im dritten Wellblechladen taxierte ihre Proportionen. Er wischte seine Hände am verschmierten Drillich ab und führte sie langsam durch die Garage. Er war so groß wie sie, drahtig, hinkte leicht, hatte eine lange Narbe auf der Wange. Der chaotische Laden roch nach Schwüle und Altöl.
»Für zwölf Tage? Waren Sie schon einmal hier?«
Dann, nach einer Pause: »Können Sie überhaupt …?«
»Ja. Beides. Keine Sorge.« Eine 500er, die Größte hier, kam ihr im Vergleich zu ihrer einstigen 900er-Kawa bescheiden vor.
»Wo wollen Sie hin? Warum bleiben Sie nicht …?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr war nicht nach Erklärungen. Auch nicht nach Großstadt, Abgasen, Geruch von Frittierfett aus fahrbaren Garküchen, nach flanierenden Familien am Feierabend, nicht nach Strand. Nur raus aus der Stadt, in die Berge. Allein sein.
»Nicht in den Norden, hoffe ich. Da haftet die Versicherung nicht. Gibt ohnehin nichts zu sehen da. Die Leute dort – lümmeln nur herum.«
Sie brauchte keinen Rat. Mit einem Smartphone lichtete er erst ihren Pass und dann sie selbst ab. Den Helm verweigerte sie. Gegen die Sonne begnügte sie sich mit Creme und einem Batik-Tuch um Stirn und Ohren, darüber eine Baseballkappe, den kurzen Pferdeschwanz hinten...