Nguyen | Die Idealisten | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Nguyen Die Idealisten

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-20718-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-641-20718-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Paris, 1981: Die Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht ist für viele vietnamesische Flüchtlinge der rettende Hafen nach einer langen Irrfahrt über die Weltmeere. Auch der namenlose Ich-Erzähler und sein bester Freund Bon haben es aus ihrer Heimat nach Europa geschafft. Auf der Suche nach einem Job geraten sie an die vietnamesische Drogenmafia. Als Dealer machen sie ein gutes Geschäft, und der Ich-Erzähler, ein ehemaliger kommunistischer Spion, profitiert von einem Wirtschaftssystem, das er eigentlich ablehnt. Im Konflikt mit sich selbst und ständig konfrontiert mit rassistischen Übergriffen, sucht er nach einem neuen Lebensentwurf. Dabei wird ihm der beste Freund zum größten Widersacher und der sichere Hafen Paris zur tückischen Falle.

Viet Thanh Nguyen, geboren 1971 in Südvietnam, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California in Los Angeles. Für sein Romandebüt, den internationalen Bestseller »Der Sympathisant« (Blessing, 2017), erhielt er 2016 den Pulitzer-Preis und den Edgar Award.
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ZWEITES KAPITEL

Ich fürchtete den Boss aus gutem Grund, Bon dagegen fürchtete ich ein kleines bisschen weniger. Rückblickend war das ein Fehler, wenn man bedenkt, dass Bon mir in den Kopf geschossen hat. Ich kannte ihn seit über zwanzig Jahren, seit wir uns auf dem Lycée kennengelernt hatten. Er hatte zu viel Gewalt und Tod gesehen und auch selbst für beides gesorgt, um sogar vor jemandem wie dem Boss Angst zu haben. Fast sein ganzes Leben lang hatte sich Bon auf eine Art und Weise, die für jeden außer ihm selbst höchst ungesund war, mit der Bedeutung des Todes befasst. Sollte das Ziel und Zweck der Philosophie sein, dann war Bon ein ausgezeichneter Philosoph. Seit seiner Kindheit hatte er mit dem Tod zu tun gehabt, seit jenem Augenblick, als ein Kader der Vietcong den anklagenden Finger eines Revolvers an den Hinterkopf seines Vaters gehalten, eine Kugel in dessen gebrechliche Hülle geschossen und freigelegt hatte, was ein Sohn nie sehen sollte. Die Szene hatte in Bon ein mörderisches Verlangen entfacht, das erst das Umerziehungslager eindämmte. Dort weckte ihn der Tod jeden Morgen und hielt ihm die Scherbe eines zerbrochenen Spiegels so nah vors Gesicht, dass der Nebel des Atems sein Bild verschleierte.

In den Jahren vor dem Umerziehungslager hatte Bon das Jagen und Töten nicht das Geringste ausgemacht. Jetzt war ihm das Stellenangebot, das ihm der Boss im Flüchtlingslager gemacht hatte, wichtiger. Nachdem er ihn bei seiner Überlebensarbeit beobachtet hatte, hatte der Boss gesagt: Einen Mann wie dich, der die Dinge handhabt wie du, den könnte ich gebrauchen.

Unschuldigen tue ich nichts, sagte Bon.

Sie musterten den Mann, der zusammengekrümmt vor ihren Füßen lag, bewusstlos oder schon tot, die Bestandteile seines Gesichts von Bon auf kubistische Art neu arrangiert. Der Boss zuckte mit den Achseln und war einverstanden, da der Eintrittspreis in sein Gewerbe einen Verlust an Unschuld beinhaltete. Bei Bons anderer Bedingung, nämlich auch mir einen Job zu geben, zögerte er allerdings.

Leute wie diesen verrückten Bastard beschäftige ich nicht, sagte er schließlich. Er sah, dass bei mir eine Schraube locker war, die zuverlässige Schraube, die seit Jahren meine beiden Seelen zusammenhielt. Manchmal bemerkte ich gar nicht, dass ich zwei Seelen hatte, weil dies mein natürlicher Zustand war, auch wenn er unnatürlich war. Meine Jahre als Spion, Schläfer und Maulwurf hatten mich einem so großen Stress ausgesetzt, dass das Gewinde der Schraube jetzt ausgeleiert war. Solange sie fest angezogen gewesen war, hatten meine zwei Seelen einigermaßen gut zusammengearbeitet. Jetzt drehte meine Schraube durch – der allgemeine Zustand der Menschheit – und saß nicht mehr fest.

Entweder wir beide oder keiner, sagte Bon.

Das ist das Problem mit der Loyalität. Der Boss seufzte. Sie ist großartig, bis sie einem auf die Nerven geht.

Draußen vor dem Import-Export-Geschäft vom Boss sahen wir uns einem Dilemma gegenüber. Der Boss wollte, dass wir uns sofort an die Arbeit machten. Der Boss wollte aber auch seine Packung Kopi Luwak zurück, die jetzt meine Tante hatte und die sie jeden Augenblick öffnen könnte. Was war zu tun?

Sie hat gesagt, sie würde morgen einen Kaffee machen, sagte ich. Anscheinend war sie aber gar nicht so scharf darauf. Es ist also unwahrscheinlich, dass sie sich vorher einen macht.

Also dann, sagte Bon und schaute hoch zur Sonne, um festzustellen, wie spät es war. Seine Uhr hatte ihm einer der Wärter im Umerziehungslager abgenommen, weil … weil … egal, es gab keine Rechtfertigung dafür. Wir erledigen das jetzt so schnell wie möglich.

Die Unterkunft war nur einen kurzen Fußweg entfernt und führte durch eine Gegend, deren fade Architektur ohne jeden Charme war. Anders als das Paris von Maurice Chevalier und Catherine Deneuve mangelte es dem Großteil des dreizehnten Arrondissements an Charme, wobei allerdings unklar war, ob die Behörden Asiaten erlaubten, wegen ihrer Hässlichkeit in dieses Viertel zu ziehen, oder ob die Anwesenheit von Asiaten diese Reizlosigkeit verstärkte. Wie dem auch sei, Bon war zufrieden, als die lustlose Concierge mit der erschlafften Dauerwelle ihm seine Schlafstelle in einem der Stockbetten zeigte, die Bon an die Militärbaracken erinnerte, die er mit wahrer Inbrunst geliebt hatte. Gleiches galt für die nach scharfem Männerschweiß riechende Luft, die Begriffe wie Ehre und Kameraderie in ihm wachriefen. Alles andere jedoch wies auf Zivilisten als Bewohner hin: die schändlich zerknüllten Decken auf den Matratzen, die ausgefransten Schilfrohrmatten auf dem Parkettboden und der Klapptisch mit dem Reiskocher und der fettverschmierten, elektrischen Doppelkochplatte, die als Küche dienten.

Die sind alle in der Arbeit, sagte die Concierge. Das ist Ihr Bett.

Und die Miete?

Das übernimmt der Boss. Gutes Geschäft, was?

Ein gutes Geschäft für Bon hieß ein noch besseres Geschäft für den Boss. Da er außer der Wohnung meiner Tante nichts in der Hinterhand hatte, ließ Bon seine Tasche auf die Matratze fallen. Ich nehme es.

Das war, wie das Umerziehungslager ihn gelehrt hatte, sein unverwechselbares Talent. Er wurde mit allem fertig.

Unsere nächste Station war das Delights of Asia in der Rue de Belleville, wo Bon als Koch arbeiten würde. Koch?, hatte Bon gesagt. Ich kann nicht kochen. Mach dir keinen Kopf deswegen, hatte der Boss entgegnet. Der Laden ist nicht für sein Essen bekannt.

In diesem nicht für sein Essen bekannten Restaurant puckerten auf den weißen Bodenfliesen Krampfadern braunen Fetts, die gelben Wände waren verschmiert mit, so hoffte ich zumindest, klebrigen Fingerabdrücken, und wann immer die Küchentüren aufschwangen, konnte man das Geschrei und Geplapper der griesgrämigen Kellner und fluchenden Köche hören. Neben der Registrierkasse befand sich ein Kassettenrekorder, der schrille chinesische und vietnamesische Opern spielte. Hinter der Kasse stand der Oberkellner und Musikkurator, Le Cao Boi, der vom Aussehen bis hin zu den Manieren das typische romantische Bild des vietnamesischen Manns verkörperte: teils Poet, teils Playboy, teils Gangster.

Köstlich, wie sich ihre Körper verkrampfen, wenn ich die Play-Taste drücke, sagte er lachend und schaute zu dem einzigen Gast, der aufstand und seinen Teller stehen ließ, auf dem es von Würmern wimmelte, die sich bei genauerem Hinsehen als fettige, gallertartige Nudeln entpuppten. Le Cao Boi warf die Kassette aus und legte eine andere ein. Led Zeppelin, »Stairway to Heaven«, sagte er. Schon besser. Also! Der Boss hat mir alles über euch zwei schlimmen Finger erzählt.

Le Cao Boi war der Feldmarschall vom Boss. Er stellte uns die Angestellten des Restaurants vor: die beiden Kellner, die drei Köche, den Hilfskellner und den Hausmeister oder, wie Le Cao Boi sie nannte, die Sieben Zwerge. Anders als die Sieben Zwerge aus Schneewittchen waren sie nicht niedlich und nicht mal zwergenhaft, sondern bloß fies, roh und klein. Ich machte die Bemerkung, dass mir sieben Mann in einem leeren Lokal mittags an einem Wochenendtag ziemlich übertrieben vorkämen. Le Cao Boi grinste. Und da fragst du dich, warum der Boss mir noch zwei mehr schickt, richtig?

Selbst für einen Touristen oder Fremden war unverkennbar, dass sich das Restaurant nicht wegen seiner kulinarischen Verdienste hielt. Vielmehr diente es als Vorposten für die Ambitionen vom Boss, aus dem Getto von Kleinasien in die Innenstadt zu expandieren, diesem trotz dunkler Schatten weißen Herzen von Paris. Der Vorposten diente als Fassade für Le Cao Boi und die Sieben Zwerge, die außer klein auch böse und mit beiden Händen gleichermaßen geschickt waren. Ihre bevorzugten Waffen waren Hackmesser, höchst funktional sowohl in der Küche wie auch im Außeneinsatz, bei welchem jeder von ihnen zwei der großen Werkzeuge in maßgefertigten Lederhalftern unter den Achseln trug.

Sie sind böse, weil sie klein sind, sagte Le Cao Boi. Und aus dem gleichen Grund auch schwer zu treffen. Wenn jemand zum Schlag ausholt und dahin zielt, wo er den Kopf vermutet, schlägt er bloß Luftlöcher. Und wenn sie alle sieben auf einmal über einen herfallen, dann hat man ein Problem, aber genauso machen sie ihren Job. Einer hackt dir die Männlichkeit ab, ein anderer schlitzt dir die Kniescheibe auf, ein Dritter schneidet dir die Achillessehne durch, alles gleichzeitig. Er blies eine Wolke Rauch aus. Aber mit Nuancen haben sie es nicht so. »Nuance« gehört nicht zu ihrem Vokabular. Verdammt, »Vokabular« gehört nicht zu ihrem Vokabular. Dafür bist du jetzt da.

Le Cao Boi rückte seine Fliegersonnenbrille zurecht, die er nie abnahm, nicht mal bei der Liebe, jedenfalls sagte man das, vor allem sagte er das selbst. Er war stolz auf den Markenstatus seiner echt amerikanischen Ray Ban, die, wie er gern betonte, keine billige Imitation war. Le Cao Boi war modebewusst, von den Designersocken bis zu den Haaren, die er so stromlinienförmig pomadisierte, dass keine Strähne sich je bewegte, egal ob er Gedichte deklamierte (seine eigenen), Liebe machte (schwungvoll) oder seine bevorzugte Waffe schwang, einen Baseballschläger, den ihm ein amerikanischer Cousin geschenkt hatte. Le Cao Boi hatte die bittere Erfahrung gemacht, dass es ihn als Flüchtling nach Frankreich und nicht nach Amerika verschlagen hatte, in das Land, nach dem er sich in seiner Jugend in Cholon verzehrt hatte. Er war wie der Boss ethnischer Chinese, Sohn eines Gangsters aus Cholon und Enkel eines Händlers aus Guangdong, der sich um die Jahrhundertwende in Saigon niedergelassen hatte. Der Großvater hatte Seide und Opium verkauft, der...


Nguyen, Viet Thanh
Viet Thanh Nguyen, geboren 1971 in Südvietnam, floh nach dem Fall von Saigon 1975 mit seinen Eltern in die USA. Er studierte Anglistik und Ethnic Studies in Berkeley und arbeitet seit seiner Promotion 1997 als Hochschullehrer an der University of Southern California in Los Angeles. Für sein Romandebüt, den internationalen Bestseller »Der Sympathisant« (Blessing, 2017), erhielt er 2016 den Pulitzer-Preis und den Edgar Award.



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