Némirovsky | Meistererzählungen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Némirovsky Meistererzählungen


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-14732-7
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-14732-7
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Irène Némirovsky als große Könnerin der kleinen Form

Die im vorliegende Band versammelten neun Erzählungen, darunter die viel gerühmte Erzählung »Rausch«, greifen all die Themen auf, um die das literarische Schaffen Irène Némirovskys kreist: Intrigen, verbotene Leidenschaften, dunkle Geheimnisse, unstillbare Freiheitssehnsucht und kopflose Flucht. Pointiert und unsentimental beobachtet die große französische Schriftstellerin eine Welt, deren Existenz gefährdet ist.

Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als „Suite française“ veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.
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Sonntag

Die Rue Las Cases lag ruhig da wie im Hochsommer, jedes offene Fenster wurde von einer gelben Markise geschützt. Die schönen Tage waren zurückgekehrt; es war der erste Frühlingssonntag. Lau, ungeduldig, unruhig trieb er die Menschen aus den Häusern, aus den Städten. Der Himmel strahlte in sanftem Glanz. Man hörte den Gesang der Vögel im Square Sainte-Clotilde, ein erstauntes und träges zartes Piepen, und in den stillen, hallenden Straßen das rauhe Krächzen der Autos, die aufs Land fuhren. Keine andere Wolke als eine kleine, fein gerollte weiße Muschel, die einen Augenblick am Himmel schwebte und im Blau zerschmolz. Mit entzücktem, vertrauensvollem Gesichtsausdruck hoben die Passanten den Kopf und atmeten lächelnd den Wind.

Agnès schloß halb die Fensterläden: Die Sonne war warm, die Rosen würden zu rasch aufblühen und absterben. Die kleine Nanette kam hereingerannt, von einem Fuß auf den andern hüpfend.

»Darf ich rausgehen, Mama? Es ist so schönes Wetter.«

Schon ging die Messe zu Ende. Schon liefen die Kinder in hellen Kleidern mit nackten Armen durch die Rue Las Cases, ihre Gebetbücher in den weißbehandschuhten Händen, und umringten eine kleine Kommunikantin mit dicken roten Wangen unter ihren Schleiern. Rosige und gebräunte Waden, flaumig wie Früchte, schimmerten in der Sonne. Aber noch läuteten die Glocken, langsam und melancholisch schienen sie zu sagen: »Geht, gute Leute, wir bedauern, euch nicht länger behalten zu können. Wir haben euch beschützt, so lange wir konnten, aber nun müssen wir euch der Welt und euren Sorgen zurückgeben. Geht jetzt, die Messe ist gelesen.«

Als sie verstummten, war die Straße vom Duft des warmen Brots erfüllt, der stoßweise aus der offenen Bäckerei drang; man sah die frisch gereinigten Fliesen blinken, und die in die Wände eingelassenen schmalen Spiegel glänzten matt im Dunkel. Dann ging ein jeder nach Hause.

Agnès sagte:

»Nanette, sieh nach, ob Papa fertig ist, und sag Nadine Bescheid, daß das Essen auf dem Tisch steht.«

Guillaume trat ein und verbreitete den Geruch nach edlen Zigarren und Lavendelwasser, den sie immer mit Unbehagen einatmete. Er war, noch mehr als sonst, fett, gesund und glücklich.

Sobald sie bei Tisch saßen, verkündete er:

»Ich will Ihnen gleich sagen, daß ich nach dem Essen wegfahre. Wenn man die ganze Woche in Paris erstickt ist, ist es das mindeste … Verlockt Sie das wirklich nicht?«

»Ich möchte die Kleine nicht allein lassen.«

Guillaume zog Nanette, die ihm gegenübersaß, an den Haaren; sie hatte in der letzten Nacht einen Fieberanfall gehabt, der allerdings so leicht gewesen war, daß ihre frische Farbe nicht gelitten hatte.

»Sie ist nicht sehr krank. Sie hat einen wunderbaren Appetit.«

»Oh, sie macht mir keine Sorgen, Gott sei Dank«, sagte Agnès. »Ich werde sie bis vier Uhr hinausgehen lassen. Wo fahren Sie hin?«

Guillaumes Miene verdüsterte sich.

»Ich … Oh, ich weiß noch nicht … Sie haben die Manie, alles im voraus festzulegen … In die Gegend von Fontainebleau oder Chartres, aufs Geratewohl, ins Blaue … Nun? Begleiten Sie mich?«

›Sein Gesicht möchte ich sehen, wenn ich einwilligte‹, dachte Agnès. Das ein wenig verkrampfte Lächeln im Winkel ihrer zusammengepreßten Lippen irritierte Guillaume. Aber sie antwortete wie gewöhnlich:

»Ich habe im Haus zu tun.«

Und sie dachte: ›Wer ist es diesmal?‹

Guillaumes Mätressen. Ihre eifersüchtige Unruhe, ihre schlaflosen Nächte. Wie fern das alles jetzt war. Er war groß und dick, ein wenig kahl, sein ganzer Körper befand sich in behaglichem, sicherem Gleichgewicht, und sein Kopf saß fest auf einem breiten, kräftigen Hals; er war fünfundvierzig, ein Alter, in dem der Mann am stärksten, am schwersten ist, mit beiden Beinen auf der Erde steht und sein dickes Blut kräftig durch die Adern fließt. Wenn er lachte, schob er seinen Unterkiefer vor und entblößte alle seine weißen Zähne, auf denen kaum Gold zu sehen war.

›Wer‹, überlegte Agnès, ›hat gesagt: Du machst eine Grimasse wie ein Wolf, wie ein wildes Tier, wenn du lachst? Bestimmt war er davon unsäglich geschmeichelt. Früher hatte er diese Gewohnheit nicht.‹

Sie erinnerte sich, wie er jedesmal in ihren Armen weinte, wenn ein Liebesabenteuer zu Ende ging, und an das kurze Stöhnen, das seinen Lippen entwich, während er den Mund leicht öffnete, als wollte er seine Tränen schlürfen. Armer Guillaume …

»Ich, ich …«, sagte Nadine.

So begann sie ihre Sätze immer. Ausgeschlossen, in ihren Gedanken oder in ihren Äußerungen ein Wort, einen Geistesblitz zu finden, der sich nicht auf sie selbst bezog, auf ihre Kleider, ihre Freunde, ihre Strumpfmaschen, ihr Taschengeld, ihre Vergnügungen. Sie war … strahlend. Ihre Haut war so weiß wie bestimmte samtweiche Blüten, blaß und leuchtend zugleich, wie der Jasmin, die Kamelie, aber man sah das pochende junge Blut hindurchscheinen, in ihre Wangen steigen, die Lippen schwellen, die wirkten, als werde gleich ein Saft aus ihnen herausspritzen, rosa und feurig wie Wein. Ihre Augen glitzerten.

›Sie ist zwanzig‹, sagte sich Agnès, die sich ein weiteres Mal bemühte, die Augen zu schließen und von dieser allzu strahlenden, allzu gierigen Schönheit, von diesem schallenden Lachen, diesem Egoismus, diesem jungen Feuer, dieser diamantenen Härte nicht verletzt zu werden. ›Sie ist zwanzig, es ist nicht ihre Schuld … Das Leben wird sie abkühlen, besänftigen, zur Vernunft bringen wie alle anderen.‹

»Mama, darf ich Ihren roten Schal nehmen? Ich werde ihn bestimmt nicht verlieren. Und, Mama, darf ich spät heimkommen?«

»Zuerst einmal, wo gehst du hin?«

»Aber das wissen Sie doch, Mama! Nach Saint-Cloud zu Chantal Aumont! Arlette holt mich ab. Mama, darf ich spät heimkommen? Also, nach acht? Sie werden nicht böse sein? Denn an einem Sonntag um sieben möchten wir die Steigung von Saint-Cloud vermeiden.«

»Sehr vernünftig«, sagte Guillaume.

Das Essen ging zu Ende. Mariette hatte die Speisen rasch aufgetragen. Sonntag … Sobald das Geschirr gespült war, würde auch sie ausgehen.

Sie aßen mit Orangensaft getränkte Crêpes; Agnès hatte Mariette geholfen, den Teig anzurühren.

»Köstlich«, sagte Guillaume mit Feingefühl.

Schon hörte man durch die offenen Fenster die Teller klirren, manche ganz sachte wie in dem dunklen Erdgeschoß, wo zwei alte Jungfern im Dunkel Zuflucht fanden, andere fröhlicher, lebhafter. So auch im Haus gegenüber, wo samt seinen zwölf Gedecken das große glänzende Damasttischtuch mit den harten Falten schimmerte, in dessen Mitte ein Korb mit weißen Rosen zur Erstkommunion prangte.

»Ich gehe schon und mache mich fertig, Mama. Ich möchte keinen Kaffee.«

Guillaume trank wortlos und hastig seine Tasse aus. Mariette begann den Tisch abzudecken.

›Wie eilig sie es haben‹, dachte Agnès, während ihre flinken, mageren Hände mechanisch Nanettes Serviette falteten, ›nur ich …‹

Nur für sie war der herrliche Sonntag ohne Reiz.

›Ich hätte nie geglaubt, daß sie so häuslich, so abgestumpft werden könnte‹, dachte Guillaume. Er sah sie an, atmete tief ein, blähte den Brustkorb, glücklich und stolz, diesen Andrang an Kraft in sich zu spüren, die die schönen Tage seinem Körper zu verleihen schienen. ›Ich bin wunderbar in Form. Ich halte mich erstaunlich gut‹, sagte er sich noch, als er sich an die vielen Krisen und an die Geldsorgen erinnerte … Germaine, die sich an ihn klammerte, der Teufel soll sie holen … die Steuern … alles, was ihn mit Recht hätte deprimieren, traurig stimmen können. Aber nein! ›So bin ich schon immer gewesen! Ein Sonnenstrahl, die Aussicht auf einen Sonntag außerhalb von Paris, in Freiheit, eine gute Flasche, eine hübsche Frau an meiner Seite, und ich bin zwanzig! Ja, ich lebe‹, beglückwünschte er sich, während er seine Frau mit dumpfer Feindseligkeit betrachtete; ihre kalte Schönheit irritierte ihn, ebenso die spöttische, verkrampfte Falte ihrer schmalen Lippen. Laut sagte er:

»Falls ich in Chartres übernachten sollte, werde ich Sie natürlich anrufen. Jedenfalls bin ich morgen früh wieder zurück. Ich komme hier vorbei, bevor ich ins Büro fahre.«

Mit sonderbarer, schmerzhafter Kälte dachte Agnès: ›Eines Tages wird das Auto mit ihm und der Frau, die er liebkost, nach einem zu üppigen Mahl gegen einen Baum fahren. Ein Telefonanruf aus Senlis oder Auxerre. Wirst du leiden?‹ fragte sie neugierig ein unsichtbares, stummes, aufmerksames Bild ihrer selbst im Dunkel. Aber das Bild, schweigsam und gleichgültig, antwortete nicht, und Guillaumes Gestalt schob sich zwischen sie und den Spiegel.

»Bis bald, meine Liebe.«

»Bis bald, mein Freund.«

Dann war er weg.

»Soll ich den Teetisch im Salon herrichten, Madame?« fragte Mariette.

»Nein, lassen Sie nur. Ich werde es selbst tun. Sobald die Küche aufgeräumt ist, können Sie gehen.«

»Danke, Madame«, sagte das junge Mädchen, deren Wangen plötzlich heftig erröteten, als hätte sie sie an ein loderndes Feuer gehalten. »Danke, Madame«, wiederholte sie mit einem schmachtenden Blick, bei dem Agnès spöttisch die Achseln zuckte.

Agnès streichelte das glatte, schwarze Köpfchen von Nanette, die sich abwechselnd in den Falten ihres Kleides verbarg, dann lachend das Gesicht vorstreckte.

»Wir beide werden es schön ruhig haben, mein Liebes.«

Unterdessen zog sich Nadine in ihrem Zimmer eilig an, puderte ihren Hals, ihre...


Némirovsky, Irène
Irène Némirovsky wurde 1903 als Tochter eines reichen russischen Bankiers in Kiew geboren und kam während der Oktoberrevolution nach Paris. Dort studierte sie französische Literatur an der Sorbonne. Irène heiratete den weißrussischen Bankier Michel Epstein, bekam zwei Töchter und veröffentlichte ihren Roman "David Golder", der sie schlagartig zum Star der Pariser Literaturszene machte. Viele weitere Veröffentlichungen folgten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Deutschen auf Paris zumarschierten, floh sie mit ihrem Mann und den Töchtern in die Provinz. Während der deutschen Besetzung erhielt sie als Jüdin Veröffentlichungsverbot. In dieser Zeit arbeitete sie an einem großen Roman über die Okkupation. Am 13. Juli 1942 wurde Irène Némirovsky verhaftet und starb wenige Wochen später in Auschwitz. 2005 entzifferte Némirovskys Tochter Denise Epstein das Manuskript, das als „Suite française“ veröffentlicht und zur literarischen Sensation wurde.

Moldenhauer, Eva
Eva Moldenhauer, 1934 in Frankfurt/Main geboren, ist seit 1964 als Übersetzerin tätig. Sie übersetzte u.a. Claude Simon, Jorge Semprun, Agota Kristof, Jean Paul Sartre und Lévi-Strauss. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. 1982 mit dem "Helmut-M.-Braem-Preis" und 1991 mit dem "Celan-Preis". 2005 wurde sie für ihre Neu-Übersetzung von Claude Simons "Das Gras" für den "Preis der Leipziger Buchmesse" nominiert.



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