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E-Book, Deutsch, Band 2930, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

Nußberger Die Menschenrechte

Geschichte, Philosophie, Konflikte

E-Book, Deutsch, Band 2930, 128 Seiten

Reihe: Beck'sche Reihe

ISBN: 978-3-406-77382-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren": Was in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 so selbstverständlich klingt, ist bis heute für unzählige Menschen keine Wirklichkeit. Angelika Nußberger beschreibt die Geschichte der Menschenrechte, ihre philosophischen Grundlagen sowie die aktuellen Debatten: Gibt es ein Menschenrecht auf Frieden und Umweltschutz? Wie universal gelten die Rechte? Und in welchem Maße dürfen Gerichtshöfe für Menschenrechte die Gesetzgebung einzelner Staaten bestimmen? Doch bei allen Fragen steht fest: In einer vernetzten Welt wird die Bedeutung der Menschenrechte weiter zunehmen.
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2. Philosophische Grundlagen und Kritik
Anknüpfungspunkte von der Bibel bis zur Renaissance
Von «Menschenrechten» wurde in der griechischen und römischen Antike nicht gesprochen; auch in der Bibel gibt es dazu keine Nachweise. Und doch finden sich Ideensplitter, einzelne Überlegungen, Bilder, Grundgedanken, an die Fürsprecher von Menschenrechten in der Moderne bis heute gerne anknüpfen. So stellten die Sophisten, die von etwa 450 bis etwa 380 v. Chr. in Griechenland wirkten, die bestehende Ordnung und insbesondere den göttlichen Ursprung der Gesetze infrage und sahen Staat und Gesellschaft als im letzten Grunde reine Willensschöpfungen der Menschen an. Antiphon lehrte, die Menschen seien von Natur aus gleich, die Unterschiede der Stände und Nationen künstlich und zugunsten der natürlichen Gleichheit zu überwinden. Daher wandte er sich auch gegen die in der Antike für selbstverständlich gehaltene Sklaverei. Von Protagoras ist der Satz überliefert, der Mensch sei «das Maß aller Dinge». Aus der Bibel stammt die Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. In der Schöpfungsgeschichte heißt es: «Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.» Daraus wurde in der Moderne geschlossen, schon die Bibel sage, dass alle Menschen vor Gott gleich seien. Diese theologisch verstandene Gleichheit ist aber etwas anderes als das Menschenrecht auf Gleichheit. Bei frühchristlichen Denkern wie Augustinus finden sich Überlegungen, in denen naturrechtliches Gedankengut anklingt: «In der Vernunft jedes Menschen, der bereits Freiheit des Willens besitzt, entsteht ein Gesetz, natürlich in das Herz eingeschrieben, wodurch er ermahnt wird, einem anderen nicht anzutun, was er selbst nicht erleiden möchte.» Die biblischen Vorstellungen prägten das Denken der nachfolgenden Epochen in Europa. An die Schöpfungsgeschichte anknüpfend schreibt Pico della Mirandola in seiner Rede über die Würde des Menschen von 1486, einem «der edelsten Vermächtnisse der Renaissance» (Jacob Burckhardt), der Mensch unterscheide sich von allen anderen Lebewesen, weil er «ein Werk von unbestimmter Gestalt» und frei sei, sich zu entscheiden, was und wie er sein wolle: «Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.» Der Schritt von Pico della Mirandolas Renaissance-Selbstbewusstsein zu Immanuel Kants Reflexionen über die Freiheit als «angeborenes Recht» und über die «dem Menschen innewohnende Würde» scheint nicht mehr weit zu sein, auch wenn noch dreihundert Jahre Ideengeschichte dazwischenliegen. Bis zum 17. Jahrhundert findet man Ideen, die einer Menschenrechtsphilosophie nahekommen, nur sporadisch, und oft wurden sie wie im Falle des Schöpfungsberichts später in frühere Texte hineininterpretiert. Mit dem Ineinandergreifen von Staatsphilosophie und politischem Umsturz, mit der juristischen Rechtfertigung von Rebellion, mit der Verbindung von Utopie und Norm begann im 17. Jahrhundert etwas Neues. Jetzt wurden eine politische Philosophie und eine normative Ethik entworfen, beides gewagt, beides umstritten – und beides ein großer Erfolg. Vom Gesellschaftsvertag zum Gemeinwillen: Hobbes, Locke, Rousseau
Macht kann man als gottgewollt oder naturgegeben hinnehmen, aber man kann auch nachfragen, warum der eine Macht ausüben darf und der andere ihr unterworfen ist. Wer fragt, ist widerspenstig und aufmüpfig, da aus Fragen schnell ein In-Frage-Stellen werden kann. Und vom In-Frage-Stellen von Herrschaft zum Auf-den-Kopf-Stellen von Staat und Gesellschaft ist es dann nicht mehr weit. Dies war, sehr vereinfacht, der Weg von Thomas Hobbes’ Leviathan (1651) über Lockes Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689) und Rousseaus Gesellschaftsvertrag (1762) bis zum Sturm auf die Bastille (1789). Der Staat wurde erst theoretisch auseinandergenommen und dann praktisch neu zusammengesetzt. Die Menschenrechte waren in dem neuen Modell nicht von Anfang an vorgesehen, erwiesen sich aber bei näherer Betrachtung als unverzichtbar. Es war Thomas Hobbes’ staatstheoretische Schrift Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, die das neue Denken vorbereitete. Der Text war die Antwort auf eine Welt, die von Glaubenskriegen erschüttert wurde, aber noch auf dem alten Modell des mittelalterlichen Staates beruhte, nach dem es nur eine Religion und einen Herrscher geben sollte und das Universum so, wie es ist, mit allen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, als Ausdruck von Gottes Willen gesehen wurde. Mit seiner Theorie von einem Vertrag, den die Menschen schließen, um sich nicht gegenseitig zu zerfleischen, begründete Hobbes staatliche Herrschaft neu und bot zugleich ein neues Erklärungsmuster für eine neue gesellschaftliche Wirklichkeit. Dass der Staat «mehr» ist als nur die Summe der Menschen, die zufällig auf einem bestimmten Gebiet zusammenleben, ist offensichtlich. Fraglich ist nur, was dieses «mehr» bedeutet. Hobbes sieht im Staat einen Zusammenschluss, der auf «gegenseitigen Verträgen eines jeden mit einem jeden» beruht und bewirkt, dass «die Macht aller zum Frieden und zur gemeinschaftlichen Verteidigung» angewandt werden kann. So negativ er die Menschen auch einschätzt – er nennt sie «ungesellig» und «einen zu des anderen Mörder bestimmt» –, so sehr schreibt er ihnen doch Autonomie und Willenskraft zu, wenn er davon spricht, sie würden «sich freiwillig vereinigen und sich insgesamt dahin vertragen, dem einen oder mehreren gemeinschaftlich zu gehorchen». Hobbes’ Bild vom selbstbewussten und sich selbst bestimmenden Menschen, der es in der Hand hat, Gewalt und Krieg zu vermeiden, indem er sich einem souveränen Herrscher unterordnet, rechtfertigt ein hierarchisches Herrschaftsmodell, weist aber doch schon neue Wege des politischen Denkens. Unterwerfung wird bejaht, ist aber nicht mehr selbstverständlich, sondern bewusst. Man mag Hobbes’ Gedanken noch dem Absolutismus zuordnen, aber es ist schon ein aufgeklärter Absolutismus. Diesem ersten Schritt der gedanklichen Emanzipation des Einzelnen sollten weitere folgen. Der Weg führt vom Untertanen zum Bürger. Der fünfzig Jahre später geborene, wie Hobbes vom englischen Bürgerkriegsjahrhundert geprägte John Locke sieht als Ausgangspunkt nicht mehr den Krieg aller gegen alle, sondern betont, dass der Mensch zwar im Naturzustand Rechte innehabe, diese allerdings nicht grenzenlos und damit potentiell zerstörerisch seien, sondern da endeten, wo die Rechte der anderen begännen. Die Visionen der beiden Denker von dem, was der «Naturzustand» ist, könnten unterschiedlicher nicht sein. So schreibt Hobbes: «Bei dieser großen Furcht, welche die Menschen allgemein gegeneinander hegen, können sie sich nicht besser sichern als dadurch, dass einer dem anderen zuvorkommt oder so lange fortfährt, durch List und Gewalt sich alle anderen zu unterwerfen als noch andere da sind, vor denen er sich zu fürchten hat.» Eine derartige Vorstellung widerspricht nach Locke aller Vernunft: «Der Naturzustand wird vom Naturgesetz regiert, das jedermann verpflichtet; und die Vernunft, die dieses Gesetz ist, lehrt die gesamte Menschheit, wenn sie es denn konsultiert, dass niemand des anderen Leben, Gesundheit, Freiheit und Besitz beeinträchtigen soll, sind doch alle gleich und unabhängig.» Entwirft der eine ein Bild vom bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle), vertraut der andere auf die Vernunft, die im Grundsatz ein gedeihliches Zusammenleben ermöglicht. Im Vordergrund steht für Locke das Recht auf Leben, das weit mehr ist als das Recht zu «überleben» und auch beinhaltet, die Annehmlichkeiten des Lebens zu genießen und zu erhalten. Darauf aufbauend sind Freiheit, Gleichheit, Unverletzlichkeit der Person und Eigentum die höchsten Rechtsgüter. Für Locke hat der Staat dafür zu sorgen, dass jeder «seines Glückes Schmied» sein kann – eine Idee, die unmittelbar in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung in der Formel «pursuit of Happiness» Eingang gefunden hat. Politik wird zur gelebten Philosophie. Statt der Unterordnung unter den Souverän propagiert Locke eine Gesetzgebung, bei der jene, über die entschieden wird, auch selbst entscheiden. Die Magna Carta hatte dies nur für die Auferlegung von Steuern gefordert, nun soll es allgemein gelten. Neu ist auch Lockes Erkenntnis, dass es von Übel ist, wenn...


Angelika Nussberger lehrt Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Universität zu Köln. Sie war Richterin (2011 – 2019) und Vizepräsidentin (2017 – 2019) am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.


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