E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Oberender / Vogelgesang Hybridtheater
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95749-412-2
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neue Bühnen für Körper, Politik und virtuelle Gemeinschaften – Drei Gespräche
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
ISBN: 978-3-95749-412-2
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hybrides Theater basiert auf digitalen Technologien, die physische und virtuelle Räume zeitgleich adressieren. Die Darstellung auf der Bühne basiert dabei nicht selten auf Material und Vorbildern aus dem digitalen Raum. Dem entspricht das Bestreben hybrider Theaterformen, die eigene Präsentationsform für Publikums-Feedback und Interaktion zu öffnen. Wie ein Ethnologe sammelt und studiert der Performer Arne Vogelgesang die unterschiedlichsten Netz-Communitys und -Phänomene und erschafft gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen von internil aus diesem theatralischen und politischen Material hybride Theaterformate. In ihnen sind die Situation des biologischen Körpers und die Evaluation der Gefühle im digitalen Raum der Fluchtpunkt seiner Arbeit.
In seinen Gesprächen mit Thomas Oberender, dessen experimentelle Arbeit als Kurator und Vordenker neuer Formate sich stark mit neuen Raumkonzepten verbindet, diskutieren beide die Auswirkungen des Plattformkapitalismus auf die Kunstproduktion sowie alternative Konzepte von Authentizität, Skript, Figur und politischer Aktion.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Hybridtheater …
von Thomas Oberender / Seite 7
Spiele, von denen wir nicht wissen, dass wir sie spielen
von Thomas Oberender und Arne Vogelgesang / Seite 31
Wo gehen all die Versprecher hin?
von Thomas Oberender und Arne Vogelgesang / Seite 103
Profilbilder …
von Arne Vogelgesang / Seite 188
Arne Vogelgesang und Thomas Oberender Spiele, von denen wir nicht wissen, dass wir sie spielen
Gespräch über This Is Not a Game
Arne Vogelgesang recherchiert seit mehreren Jahren intensiv zu rechten Netz-Communitys, die sich auf digitalen Plattformen wie Reddit oder 8chan organisieren, austauschen und einen gemeinsamen Nenner in verschwörungstheoretischen, demokratiefeindlichen und misogynen Ideologien finden. Die Vernetzung und Politisierung von Gruppen wie den Reichsbürger*innen oder dem QAnon-Netzwerk hat die Grenzen des digitalen Raums längst verlassen und wirkt in die analoge Gegenwart zurück: Attentate, Demonstrationen und Angriffe auf staatliche Institutionen wie das Washingtoner Kapitol oder den Berliner Reichstag im Zuge der Corona-Proteste sind die medienwirksame Spitze eines Eisberges, der sich aus den Echokammern und Filterblasen des Netzes und der sozialen Plattformen erhebt. Arne Vogelgesangs Interesse an diesen Gruppen und Phänomenen reicht über deren politische Implikationen hinaus: Er betrachtet sie aus einer theatralen Forscherperspektive. Denn Rollenspiel, Inszenierung, Narration und ästhetische Transgression sind Kategorien, ohne die ein Phänomen wie QAnon, das einem überlebensgroßen, labyrinthischen Live-Rollenspiel gleicht, nicht auskommt. Gerade der Spielcharakter ist für viele dieser Gruppen zentral, unabdingbar und gemeinschaftsstiftend: Sei es die aggressiv-misogyne „Flirttechnik“ der sogenannten Pick-up-Artists, die nach einer konkreten Handlungsanleitung agieren, oder die Schnitzeljagd der Q-Anhänger*innen nach der Super-Weltverschwörung, die sie weiter in wahnhafte Fiktion treibt – Phänomene wie diese lassen sich als alternative Theaterkonzepte begreifen und lösen unser herkömmliches Verständnis von „Bühne“ auf. In Vorträgen und Bühnen- und Film-Essays arbeitet sich der Regisseur und studierte Ethnologe Arne Vogelgesang an diesen games ab und sucht nach den Strukturen eines Phänomens, das ohne die Einbettung in den Plattformkapitalismus und die digitale Feedback-Kultur nicht existieren könnte. Thomas Oberender: Ihr Film beziehungsweise Ihre Performance-Lecture This Is Not a Game beschreibt ein Spiel, das kein abgegrenztes Spielfeld hat, sondern dessen Spielfeld die Welt als Ganzes ist. Das Spiel beziehungsweise Online-Netzwerk QAnon spielt mit der Welt, wie wir sie kennen. Aber es sagt gleichzeitig auch, dass wir sie nicht wirklich kennen. Wir kennen nur eine für uns errichtete Kulisse. Für viele Menschen entsteht so eine massive Unwirklichkeitserfahrung, denn alle, die dieses Spiel spielen, sehen die Welt mit den Augen des Spiels, und für das Spiel ist die Welt ein riesiger Fake, der leider eben nur ein paar Eingeweihten auffällt. Aus der Perspektive der Verschwörungstheorie wird mit uns gespielt. Das ist sehr interessant. Für die QAnon-Anhänger*innen sind die vielen ausgewählten Details oder Vorgänge aus der Welt der täglichen Nachrichten nur die Camouflage einer dahinter verborgenen Wirklichkeit, die sie dank ihrer Recherchen als Mitspieler*innen enthüllen. Sie sind die Erleuchteten. Wir sind die Dummen, die den großen Fake noch nicht durchschaut haben. Aber zum Glück gibt es diesen anonymen Absender von Informationen namens Q, der regelmäßig Fragen veröffentlicht, die uns die Augen öffnen sollen. Sie beschreiben in Ihrer Arbeit die Welt von QAnon als eine Art Live-Action-Role-Play (LARP), das auf dem relativ entlegenen Imageboard 4chan begann und dann nach „draußen“ gelangte, in das „Internet für alle“, die sozialen Netzwerke und das realgesellschaftliche Leben. Für die Spieler*innen-Community wurde Trump so zum Märtyrer in der echten Welt, weil er in der Mythologie ihres Spiels den deep state einer verbrecherischen Elite angreift. Diese Community ist zunehmend auch in Deutschland präsent. Man könnte sagen, dass QAnon, das mit seiner Fiktion die gesamte Wirklichkeit „verzaubert“, das größte Gegenwartskunstwerk oder Massentheater unserer Zeit ist. Aber seine Wirkung in der realen Welt, nachdem es sich im Internet als eine Bewegung radikalisiert hat und herüberschwappt, ist äußerst fatal – es spaltet die Gesellschaft und fängt an, selber zur politischen Kraft zu werden, siehe Attila Hildmann oder die versuchte Reichstagserstürmung im Zuge der Corona-Proteste. Mein Eindruck am Ende Ihres Filmes war: Vielleicht ist QAnon das faszinierendste Spiel, das Menschen sich je ausgedacht haben, aber es ist auch im selben Moment das gefährlichste. Sie haben sich wie ein Feldforscher in diese Szene hineinbegeben, was auch gut passt, denn Sie haben Ethnologie und Theaterregie studiert. Und auch schon vor dem QAnon-Tribe haben Sie sich mit anderen Selbstdarstellungswelten im Netz beschäftigt, denen von Rechtsextremen oder Influencer*innen – alles Figuren in einer gescripteten Welt voller Ambiguität und Rollenspiele, aber eben auch politischer Implikationen. Seit wann betrachten Sie diese netzbasierten Szenen als Theater? Technologische Räume
Arne Vogelgesang: Ich habe eine klassische Theaterregie-Ausbildung am Max Reinhardt Seminar absolviert, an dem das Telos der Ausbildung allerdings nicht unbedingt das war, was ich später getan habe beziehungsweise heute mache. Was mich relativ früh interessiert hat, waren technologische Räume, also Umgebungen durchaus auch im zeitlichen Sinne, zu denen beziehungsweise in denen menschliche Körper sich zu den von ihnen geschaffenen Medien und Maschinen verhalten müssen. Ich glaube, dazu kam es, weil das die Realität war, in der ich zu dieser Zeit bereits größtenteils lebte – ich war auch schon vor meinem Studium relativ viel mit dem Computer und dem Internet beschäftigt. TO: Wann war das? AV: Ich habe von 2002 bis 2006 studiert. Intensiv im Internet bewegt habe ich mich seit Ende 1999. Vorher, gegen Ende meiner Grundschulzeit, gab es schon Computerspiele. Das heißt, digitale Medien waren ein prägender Teil meines Lebens, aber es hat gedauert, bis dieses Interesse ins Theater gedriftet ist. Wahrscheinlich dauert es beim Theater sowieso immer ein bisschen länger, bis die Sachen dort ankommen. Bereits meine ersten Stücke hatten sich mit Technologie und bildgebenden Verfahren, Videobildern und dem Nachspielen von Videodokumenten beschäftigt. Aber erst 2013 gab es einen Moment, in dem ich dachte: „Augenblick mal, ich bin unglaublich viel im Internet unterwegs, die ganze Zeit. Ein signifikanter Teil meines Lebens spielt sich dort ab und das Netz ist ein realer Erfahrungsraum für mich. Warum ist das eigentlich nicht die Grundlage von dem, was ich im Theater mache?“ Dieser Moment hat einiges verändert. Man kann ja immer nur von dem erzählen, was man erlebt oder zur Kenntnis nimmt – was weder völlig fremd noch völlig eigen ist, sondern gerade anders genug, um Interesse zu wecken. Das erste direkt auf das Internet bezogene Stück, das ich mit der Unterstützung von Kolleg*innen gemacht habe, war daher ein Stück über Romantik im Online-Zeitalter, insbesondere über die Frage, was die Männerfigur in der Online-Romantik auszeichnet. Singlebörsen oder Pick-up-Coachings waren damals schon ein großes Thema, und ich wollte dieses Material unbedingt collagieren. So entstand das erste Stück in einer Genealogie von Arbeiten, die sich im Wesentlichen nur noch auf Internetmaterial und Software stützten, um sich daraus selbst zu bauen. TO: War das eine Form von Lecture-Performance oder der Versuch, diese Internet-Erfahrungen in eine klassische Theatersituation zu übersetzen? AV: Ich glaube, es war zu wenig narrativ und kommentierend, um eine Lecture-Performance zu sein. Es war wohl eine Art Monolog-Performance. Ein Kollege war dabei – Christoph Wirth, der mit seinem Kollektiv auch bei einem Projekt in der Reihe „Immersion“ bei den Berliner Festspielen zu Gast war. Er hat den Sound für die Performance gemacht und Musik geschrieben, die dem Stück einen guten Sog gab. Und Marina Dessau, eine Kollegin, mit der ich schon seit Schulzeiten auf Bühnen stehe, hat mich performativ unterstützt. Ich habe in dieser Collage versucht, das, was mir an romantischem „Text“ im Netz entgegenkam – Post-Dada-Poesie von Spam Bots, Motivationstexte, Ratschläge oder schlecht übersetzte Hook-ups von Werbemails –, einfach runterzusprechen und zwischendurch Pick-up-Coachings mit dem Publikum zu veranstalten. TO: Was ist das – ein Pick-up-Coaching? AV: Ein Pick-up-Artist (PUA) ist ein selbsternannter „Verführungskünstler“. In dieser heterosexuellen Subkultur betrachten es Männer als Kunst, so viele Frauen wie möglich aufzureißen und als Kerben auf dem eigenen Waffenschaft zu verbuchen. Es gibt Dating Coaches, die in den Pick-up-Foren versuchen, die hetero-romantische Interaktion zu schematisieren, vermeintliche Frauentypen zu klassifizieren und Manipulationstechniken zu vermitteln, die Adepten angeblich sicher zum Erfolg führen. Eine sehr skurrile, aber auch nicht ungefährliche und weitgehend misogyne Szene, die sehr viel Output im Internet hat. Es gab und gibt...