E-Book, Deutsch, Band 9, 258 Seiten
Reihe: Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism
Occhini Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zwischen Inklusion und Exklusion
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7720-0253-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mehrsprachigkeit und Interkulturalität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
E-Book, Deutsch, Band 9, 258 Seiten
Reihe: Literarische Mehrsprachigkeit / Literary Multilingualism
ISBN: 978-3-7720-0253-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Buch untersucht den Literaturpreis Adelbert-von-Chamisso (1985-2017), eine der einflussreichsten sowie kontroversesten Auszeichnungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, deren kulturpolitische Tragweite weit über den Literaturbereich hinausreicht. Anhand einer Analyse origineller Archivunterlagen und literarischer Werke beleuchtet diese interdisziplinäre Arbeit innovativ die Reaktionsmechanismen des deutschen Kulturraums auf die Herausforderungen der soziokulturellen Transformationen durch Migration und Globalisierung. Die fünf Kapitel widmen sich dem Entstehungskontext, der Geschichte und Struktur des Preises, der Entwicklung und literaturwissenschaftlichen Rezeption der sogenannten ,Chamisso-Literatur' sowie der Poetik zweier Preisträgerinnen, Terézia Mora und Uljana Wolf, als Beispiele für die jüngsten Entwicklungen in der Chamisso-Literatur.
Dr. Beatrice Occhini ist Post-Doc-Forscherin an der Universität Salerno.
Autoren/Hrsg.
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Der Adelbert-von-Chamisso-Preis und die Chamisso-?Literatur aus literarischer, literatursoziologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht
„[D]eterritorial, transnational, multilingual“: Anhand dieser drei Schlagwörter beschreibt Sandra Richter (2017: 432) das gegenwärtige Antlitz der deutschsprachigen Literatur. Diese Merkmale lassen sich in den im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen heterogenen soziodemografischen Transformationsprozessen einbetten, die den Literaturbetrieb in Bezug auf die Ebenen der Produktion, Verbreitung und Rezeption tiefgreifend verändert haben. Zum einen fingen ab Ende der 1960er allmählich mehr Schriftsteller:innen an, die aufgrund ihrer Familiengeschichte einen vielfältigen sprachlichen und kulturellen Hintergrund besaßen, auf Deutsch über Migration als gesellschaftliche bzw. individuelle Erfahrungen literarisch zu reflektieren. In den letzten Jahrzehnten sind, wie Richter (2017: 432) betont, auf der literarischen Szene Deutschlands auch „[k]osmopolitische“ Autor:innen zu erkennen, die sich zwischen verschiedenen Sprachen und literarischen Räumen bewegen, was die zeitgenössischen transnationalen Mobilität widerspiegelt. Im Zuge derselben Veränderungen hat sich jedoch zum anderen auch die Dynamik verändert, durch die solche Werke und Persönlichkeiten im Literaturbetrieb rezipiert werden. Die Bewertungsdynamiken und Distributionskanäle der Literatur, die Formen ihrer Rezeption sowie die theoretischen Grundlagen, die entwickelt wurden, um diesen gerecht zu werden, haben sich im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte aufgrund dieser soziokulturellen Transformationen tiefgreifend verändert. Der letzte Aspekt bildet den Hauptfokus des vorliegenden Buches, denn der Adelbert-?von-?Chamisso-?Preis stellt einen privilegierten Beobachtungspunkt für diese Veränderungen dar: Er lässt sich sowohl als deren Folge als auch als deren Anstoß verstehen. Der Preis wurde 1985 von Literaturwissenschaftler:innen des Instituts für Deutsch als Fremdsprache in München, insbesondere von Harald Weinrich und Irmgard Ackermann, in Zusammenarbeit mit der Robert Bosch Stiftung und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste ins Leben gerufen und zielte darauf ab, „Beiträge ausländischer Autoren“ auszuzeichnen (HCP-?K2-O3-85-1). Die ausgezeichneten Werke wurden kanonisiert und in einer literaturgeschichtlich nachträglich entdeckten und legitimierten Tradition verankert: derjenigen von Schriftsteller:innen, die sich der deutschen Sprache ‚von außen‘ bedienen (vgl. Weinrich 1983). In Adelbert von Chamisso, einem Schriftsteller französischer Herkunft, der dennoch zum deutschen Literaturkanon gehört, wurde der Patron dieser Tradition erkannt. Es sei hervorzuheben, dass von Anfang an mit dem Chamisso-?Preis eine klare zivile Intention verbunden war, denn die Auszeichnung sollte das öffentliche Bewusstsein für die konstitutive Rolle der Migration für die deutsche Gesellschaft, die vielfältigen Ausprägungen dieses Phänomens und die Lebensbedingungen der ‚Ausländer‘ schärfen. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine kulturelle Institution, die durch den literarischen Diskurs für die Anerkennung zunächst der BRD und dann des wiedervereinigten Deutschlands als Einwanderungsland plädieren wollte. Die Geschichte des Chamisso-?Preises fand 2017 ein – zumindest vorläufiges – Ende durch die Entscheidung seiner Förderinstitution, der Robert Bosch Stiftung. Diese kündigte nicht nur an, dass das ursprüngliche Ziel des Projekts, nämlich die Integration von „Autoren mit Migrationsgeschichte“ in die deutschsprachige Literatur, „erreicht“ worden seien (Robert Bosch Stiftung 2016a), sondern räumte auch ein, wie kontraproduktiv die Fortsetzung des Projekts für diese Integration wirken könnte (Robert Bosch Stiftung 2016b). Die Bekanntgabe der Beendung stieß auf viel Kritik, die jedoch während des gesamten Bestehens des Chamisso-?Preises ebenfalls präsent war, und führte im selben Jahr zur Neugründung des Projekts mit anderen Förderern und an einem anderen Standort. In diesem Buch wird der Chamisso-?Preis und die damit verbundene ‚neue Literatur‘, bekannt als Chamisso-?Literatur, aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet: literatursoziologisch, literarisch und kulturwissenschaftlich. Die literatursoziologische Perspektive ermöglicht die Einordnung des Projekts innerhalb des literarischen Feldes. Sie basiert auf der Analyse seiner Geschichte und seines Kontexts, der Positionen seiner Beteiligten sowie der zugrunde liegenden Struktur. Unter dieser Betrachtungsweise kann der Chamisso-?Preis als derjenige Akteur im deutschen literarischen Feld angesehen werden, der maßgeblich zur Anerkennung von Autor:innen beigetragen hat, die nicht (nur) deutscher Herkunft bzw. deutscher Sprache sind. Aus literarischer Sicht erforscht das Buch gewisse Meilensteine der Chamisso-?Literatur. Diese Etappen, die mit der Veröffentlichung bestimmter literarischer Werke oder mit den Profilen bestimmter Preisträger:innen zusammenhängen, gelten als bedeutend, da sie Momente des Wandels oder der Spannung im deutschen literarischen Feld hervorrufen oder dazu beitragen, einige seiner entscheidenden Merkmale zu erkennen. In diesem Zusammenhang war es besonders fruchtbar zu beobachten, wie die Mehrsprachigkeit von einigen Autor:innen literarisch umgesetzt wurde und vor allem, wie sie sowohl im institutionellen Diskurs des Preises als auch im Literaturbetrieb allgemein rezipiert wurde. Dabei handelt es sich, wie noch gezeigt wird, um ein komplexes ästhetisches Merkmal, das in dieser Studie nicht nur auf den formalen, sondern vor allem auf den ethisch-?poetologischen Aspekt zurückgeführt wird, den der Chamisso-?Preis im Laufe seiner Entwicklung zunehmend betont hat. Dies geschah, obwohl – darauf sei hingewiesen – der Preis offiziell nicht auf der Grundlage gemeinsamer ästhetischer Merkmale verliehen wurde. Wenn jedoch von der Entwicklung der Chamisso-?Literatur die Rede ist, sollen die ästhetischen Unterschiede zwischen den Chamisso-?Preisträger:innen keineswegs ignoriert werden. Hier werden sie als integraler Bestandteil der Chamisso-?Literatur betrachtet, denn das vorliegende Buch untersucht gerade die Dynamiken, durch die sie zu diesem literarischen und soziokulturellen Phänomen gezählt wurden. Literatur entzieht sich Etikettierungen und Kategorisierungen, und dies gilt insbesondere für die Konsekrationshandlung des Chamisso-?Preises, der im Laufe seiner Geschichte auch unvermeidliche Spannungen erzeugt hat. Es ging dabei um die Herausforderung, sehr unterschiedliche Autor:innen einem einzigen, wenn auch heterogenen literarischen Phänomen zuzuschreiben, das oft auf ihre – vermeintlich – nicht-?deutsche Herkunft reduziert wurde. Es handelt sich um eine Identifizierung, die oft die Vielfalt ihrer literarischen Produktion ignoriert hat, was Kritik und gelegentlich auch den Protest der Preisträger:innen selbst hervorgerufen hat. Hier zeigt sich das kulturwissenschaftliche Interesse an der Erforschung des Chamisso-?Preises und der Chamisso-?Literatur, deren wissenschaftlicher Gewinn über den literarischen Bereich hinausgeht. Bei genauerer Betrachtung ist der Weg des Preises tatsächlich verschlungen und von Ambivalenzen geprägt, weit mehr, als seine Stifter:innen ahnen konnten. Im Verlauf seiner Geschichte würdigte der Chamisso-?Preis nicht primär den künstlerischen Wert der Autor:innen oder besondere ästhetische Nuancen in ihren Werken, sondern ihre ‚Zugehörigkeit‘ zur deutschsprachigen Literatur. Dadurch trennte der Preis letztlich ihr Profil vom restlichen literarischen Raum, indem er den Preisträger:innen das Etikett des ‚Ausländerseins‘ aufdrückte, das wiederum als eine Form des Ausschlusses diente. Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass der Chamisso-?Preis einen fundamentalen Beitrag zur Öffnung der deutschsprachigen Literatur für kulturelle Vielfalt und zu ihrer Anerkennung geleistet hat. Diese Ambivalenz, die in diesem Buch eingehend untersucht wird, prägt den Weg, den der Preis beschreitet und der hier rekonstruiert wird, zwischen literarischer Inklusion und Exklusion: Daher auch der Titel dieser Arbeit. In diesem Buch führt kein Weg daran vorbei, den Begriff ‚Ausländer‘ sowie seine Ableitungen (‚ausländisch‘, ‚Ausländerliteratur‘, ‚Ausländerautoren‘ usw.) zu verwenden. Es handelt sich um einen ambivalenten Begriff, nicht zuletzt deshalb, weil er in verschiedenen Diskursen – im öffentlichen, rechtlichen, politischen, literarischen und kulturellen Bereich – verwendet wird und dort unterschiedliche Bedeutungen annimmt, die sich größtenteils im Laufe der Geschichte verändert haben. Zum Beispiel im rechtlichen Diskurs: Bis zur Staatsangehörigkeitsreform des Jahres 2000 und dem Übergang vom ius sanguinis zum heutigen ius soli galten viele Menschen, die in Deutschland geboren oder aufgewachsen waren, noch als ‚Ausländer‘ (vgl. Hoesch 2018: 259–274). In dieser Arbeit ist es aus zwei Gründen notwendig, diesen Begriff und seine Ableitungen zu verwenden. Erstens: aus historischer Verbundenheit, da er zumindest bis Mitte der 1990er Jahre zur Bezeichnung der literarischen Ausdrücke verwendet wurde, denen diese Studie gewidmet ist. Zweitens, weil sich um diesen und andere ähnliche Begriffe – wie ‚Fremdsprache‘,...