O'Connor | Keiner Menschenseele kann man noch trauen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

O'Connor Keiner Menschenseele kann man noch trauen

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-03790-102-1
Verlag: Arche Literatur Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Flannery O'Connor gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bis heute sind ihre Storys Schul- und Universitätslektüre, der wichtigste Short-Story-Preis des Landes trägt ihren Namen. Ihre Welt sind die Südstaaten, der sogenannte Bible Belt, Kernland des konservativen Amerika. Die Figuren sind engstirnige, selbstgerechte Provinzler, deren gottesfürchtige kleine Existenz durch Eindringlinge gestört wird, die Böses im Schilde führen. Präzise und mitleidlos sind ihre Geschichten, aber zugleich von allen Facetten des schwarzen Humors durchzogen.
Mit einem unbarmherzigen Blick für groteske Situationen und mit beißender Ironie näherte sich diese einzigartige Schriftstellerin den Konflikten ihrer Zeit, die heute wieder höchst aktuell sind: Bigotterie, Rassismus, Krieg, Flucht, Armut und eine diffuse Angst vor dem Fremden.
O'Connor Keiner Menschenseele kann man noch trauen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Ein guter Mensch ist schwer zu finden
Die Großmutter wollte nicht nach Florida. Sie wollte ein paar Verwandte im östlichen Tennessee besuchen und ergriff jede Gelegenheit, um Bailey umzustimmen. Bailey war der Sohn, bei dem sie wohnte, ihr einziger Junge. Er saß auf der Stuhlkante am Tisch und beugte sich über den orangefarbenen Sportteil des Journal. »Schau doch mal her, Bailey«, sagte sie, »sieh dir das an und lies«, und sie stand da, die eine Hand auf ihre magere Hüfte gestützt, und mit der anderen wedelte sie ihm mit ihrem Teil der Zeitung vor der Glatze herum. »Dieser Kerl da, der sich selber Outlaw nennt, ist aus dem Zuchthaus ausgebrochen und in Richtung Florida unterwegs, und hier steht, was er den ganzen Leuten angetan hat. Lies es einfach mal. Ich würde mit meinen Kindern nirgends hinfahren, wo sich so ein Krimineller frei herumtreibt. Ich könnt das nicht vor meinem Gewissen verantworten.« Bailey hob nicht die Augen von seiner Lektüre, also drehte sie sich schnell um und wandte sich an die Mutter der Kinder, eine junge Frau in langen Hosen, deren Gesicht so rund und harmlos wie ein Kohlkopf war; sie hatte ein grünes Kopftuch umgebunden, von dem oben zwei Zipfel abstanden wie Hasenohren. Sie saß auf dem Sofa und fütterte das Baby mit Aprikosen aus einem Glas. »Die Kinder waren schon mal in Florida«, sagt die alte Dame. »Ihr solltet sie zur Abwechslung mal irgendwo anders hin mitnehmen, damit sie verschiedene Teile der Welt sehen und ihren Horizont erweitern. Sie sind noch nie in Ost-Tennessee gewesen.« Die Mutter der Kinder schien sie nicht zu hören, aber der achtjährige Junge, John Wesley, ein stämmiges Kind mit Brille, sagte: »Wenn du nicht nach Florida willst, warum bleibst denn dann nicht daheim?« Er und das kleine Mädchen, June Star, saßen auf dem Fußboden und lasen die Comicseiten. »Sie würd nicht daheimbleiben, auch wenn sie dafür einen Tag lang Königin wär«, sagte June Star, ohne den blonden Kopf zu heben. »Ja, und was würdet ihr machen, wenn dieser Bursche, dieser Outlaw, euch schnappen würde?«, fragte die Großmutter. »Ich tät ihm eine schmieren«, sagte John Wesley. »Die bleibt nicht mal für ne Million Mäuse daheim«, sagte June Star. »Hat Angst, sie könnt was verpassen. Sie muss überall dabei sein, wo wir hingehn.« »In Ordnung, mein Fräulein«, sagte die Großmutter. »Denk nur dran, wenn ich dir das nächste Mal wieder Locken machen soll.« June Star sagte, ihr Haar sei von Natur aus lockig. Am nächsten Morgen war die Großmutter die Erste, die abfahrbereit im Wagen saß. Sie hatte ihren großen schwarzen Koffer, der wie der Kopf eines Nilpferds aussah, in einer Ecke verstaut, und darunter hatte sie den Korb mit Pitty Sing, ihrem Kater, versteckt. Sie wollte das Tier nicht drei Tage allein im Haus lassen, denn es würde sie zu sehr vermissen, und sie fürchtete, es könnte zufällig einen der Gasbrenner streifen und ersticken. Ihr Sohn Bailey mochte es nicht, wenn man mit einer Katze in einem Motel ankam. Sie saß mitten auf dem Rücksitz, rechts und links von ihr John Wesley und June Star. Bailey und die Mutter der Kinder mit dem Baby saßen vorn, und sie verließen Atlanta um acht Uhr fünfundvierzig mit 55890 Meilen auf dem Tacho. Die Großmutter notierte den Stand, weil sie meinte, es sei interessant, bei der Rückkehr sagen zu können, wie viele Meilen sie gefahren waren. Sie brauchten zwanzig Minuten, bis sie am Stadtrand waren. Die alte Dame machte es sich bequem, zog die weißen Baumwollhandschuhe aus und legte sie zusammen mit ihrer Handtasche hinten auf die Ablage. Die Mutter der Kinder trug noch immer ihre Hose und das grüne Tuch um den Kopf, aber die Großmutter trug einen marineblauen Strohhut mit einem Bund weißer Veilchen auf der Krempe und ein marineblaues Kleid, bedruckt mit weißen Pünktchen. Kragen und Manschetten waren aus weißem, mit Spitzen besetztem Organdy, und an den Ausschnitt hatte sie sich einen Strauß aus violetten Stoffveilchen gesteckt, der ein Duftkissen enthielt. Sollten sie verunglücken, würde jeder, der sie tot auf der Landstraße liegen sah, sofort wissen, dass sie eine Dame war. Sie sagte, sie hätten heute bestimmt ein gutes Ausflugswetter, nicht zu heiß und nicht zu kalt, und sie erinnerte Bailey daran, dass die Höchstgeschwindigkeit fünfundfünfzig Meilen in der Stunde betrug und die Streifenpolizisten sich hinter Reklameschildern und kleinen Baumgruppen versteckten und hinter einem herjagten, noch bevor man abbremsen konnte. Sie wies auf Sehenswürdigkeiten hin: auf Stone Mountain; auf den blauen Granit, den man manchmal zu beiden Seiten der Straße sehen konnte; auf die hellviolett gestreiften, leuchtend roten Lehmböschungen und auf die verschiedenen Sorten von Getreide, das in grünen Spitzenmustern den Boden bedeckte. Die Bäume glänzten silbrig weiß im Sonnenlicht, und noch der unscheinbarste Baum funkelte. Die Kinder lasen Comichefte, und ihre Mutter war wieder eingeschlafen. »Fahren wir schnell durch Georgia, damit wirs nicht so lang sehn müssen«, sagte John Wesley. »Wenn ich ein kleiner Junge wäre«, sagte die Großmutter, »dann würde ich nicht so von meinem Heimatstaat reden. Tennessee hat Berge, und Georgia hat Hügel.« »Tennessee ist bloß ne Müllhalde für Hinterwäldler«, sagte John Wesley, »und Georgia ist genauso ein blöder Staat.« »Du sagst es«, pflichtete June Star ihm bei. »Zu meiner Zeit«, sagte die Großmutter und faltete ihre dünnen, stark geäderten Hände, »hatten Kinder mehr Respekt vor ihrem Heimatstaat und vor ihren Eltern und vor allem Übrigen. Damals wussten die Leute, was sich gehört. Oh, schaut mal, das niedliche kleine Negerlein!«, sagte sie und zeigte auf ein Negerkind, das an der Tür einer Hütte stand. »Gäb das jetzt nicht ein gutes Bild?«, fragte sie, und alle drehten sich um und sahen durchs Rückfenster auf den kleinen Neger. Er winkte ihnen zu. »Er hatte gar keine Hose an«, sagte June Star. »Wahrscheinlich hat er keine«, erklärte die Großmutter. »Kleine Nigger auf dem Land haben nicht so Sachen wie wir. Wenn ich malen könnt, würd ich so was malen«, sagte sie. Die Kinder tauschten ihre Comichefte aus. Die Großmutter bot an, das Baby zu halten, und die Mutter der Kinder reichte es ihr über die Lehne nach hinten. Sie setzte es auf ihre Knie, ließ es reiten und erzählte ihm von den Dingen, an denen sie vorbeikamen. Sie rollte die Augen und schnitt Gesichter und stupste mit ihrem ledrigen mageren Kopf leicht gegen das weiche Kindergesicht. Manchmal lächelte es sie vage an. Sie fuhren an einem großen Baumwollfeld vorbei, in dem eingezäunt fünf oder sechs Gräber lagen, wie eine kleine Insel. »Seht doch den Friedhof!«, sagte die Großmutter und deutete hinüber. »Das war früher das Familiengrab. Es gehörte zur Plantage.« »Wo ist die Plantage?«, fragte John Wesley. »Vom Winde verweht«, sagte die Großmutter. »Ha, ha!« Als die Kinder alle mitgebrachten Comichefte ausgelesen hatten, packten sie ihren Proviant aus. Die Großmutter aß ein Sandwich mit Erdnussbutter und eine Olive, und sie ließ nicht zu, dass die Kinder ihre leere Schachtel und die Papierservietten aus dem Fenster warfen. Als es für sie nichts mehr zu tun gab, spielten sie ein Spiel, bei dem sie sich eine Wolke aussuchten und die beiden anderen raten ließen, woran ihre Form erinnerte. John Wesley wählte eine, die wie eine Kuh aussah, und June Star erriet es, und John Wesley sagte, nein, ein Auto, und June Star sagte, er habe gemogelt, und sie gerieten sich über die Großmutter hinweg in die Haare. Die Großmutter sagte, sie würde ihnen eine Geschichte erzählen, wenn sie sich ruhig verhielten. Beim Geschichtenerzählen rollte sie immer die Augen, wackelte mit dem Kopf und wurde sehr dramatisch. Sie erzählte, als sie noch ein junges Fräulein gewesen sei, habe ihr einmal ein Mr. Edgar Atkins Teagarden aus Jasper in Georgia den Hof gemacht. Sie sagte, er habe sehr gut ausgesehen und sei ein Gentleman gewesen und habe ihr jeden Samstagnachmittag eine Wassermelone gebracht, in die er seine Initialen geschnitzt hatte, also E.A.T. Und eines Samstags, sagte sie, brachte Mr. Teagarden die Wassermelone vorbei, aber niemand war zu Hause, und er legte sie auf der Vorderveranda ab und fuhr mit seinem Einspänner nach Jasper zurück, aber sie bekam nie ihre Wassermelone, sagte sie, weil ein Niggerjunge sie aß, als er die Initialen gesehen hatte: E.A.T.! Diese Geschichte reizte John Wesley so zum Lachen, dass er gar nicht aufhören konnte zu kichern, aber June Star fand sie überhaupt nicht komisch. Sie sagte, sie würde keinen Mann bloß deshalb heiraten, weil er ihr jeden Samstag eine Wassermelone bringe. Die Großmutter sagte, sie hätte gut daran getan, Mr. Teagarden zu heiraten, weil er ein Gentleman gewesen sei und Coca-Cola-Aktien gekauft habe, gleich nachdem sie zum ersten Mal ausgegeben worden seien, und dass er erst vor ein paar Jahren als sehr wohlhabender Mann gestorben sei. Am Tower machten sie halt wegen der gegrillten Sandwiches. Der Tower war Tankstelle und Tanzdiele in einem, teils aus Stuck und teils aus Holz, und lag in einer Lichtung außerhalb von Timothy. Er gehörte einem dicken Mann namens Red Sammy Butts, und am Gebäude waren Schilder, und an der Straße verkündeten meilenweit in beiden Richtungen weitere Plakate: »PROBIERT RED SAMMYS BERÜHMTES BARBECUE! NICHTS GEHT ÜBER RED SAMMYS BERÜHMTEN GRILL! RED SAM! DER DICKE BURSCHE MIT DEM LUSTIGEN LACHEN! EIN KRIEGSVETERAN! RED SAMMY IST FÜR EUCH DA!« Red Sammy lag vor dem Tower auf dem Erdboden mit dem Kopf unter einem Lastwagen, während ein grauer, etwa einen Fuß großer Affe, der an einem kleinen Zedrachbaum angekettet war, in...


Flannery O'Connor, 1925 in Savannah im US-Bundesstaat Georgia geboren, studierte zunächst Soziologie. Mit dem Schreiben begann sie im berühmten Iowa Writer's Workshop. 1951 wurde bei ihr Lupus erythematodes diagnostiziert, woraufhin sie auf die Farm ihrer Vorfahren zurückkehrte und dort Hühner, Enten, Gänse und hundert asiatische Pfauen hielt. Ihr Werk umfasst zwei Romane und 31 Kurzgeschichten. Flannery O'Connor starb am 3. August 1964 im Alter von 39 Jahren an den Folgen ihrer Krankheit.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.