E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Oehmke Schönwald
23001. Auflage 2023
ISBN: 978-3-492-60539-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Großer Familien-Roman in der Tradition amerikanischer Literatur
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-492-60539-7
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philipp Oehmke, geboren 1974, wuchs in Bonn auf, studierte Germanistik in Hamburg und war zwei Jahre lang Volontär bei der Zeitschrift Tempo. 2001 schloss er die Graduate School of Journalism der Columbia University mit einem Master of Science ab. Von 2002 bis 2006 war er Redakteur beim Magazin der Süddeutschen Zeitung, wo er auch die 50-bändige Buchreihe SZ-Diskothek herausgab. 2006 wechselte er als Redakteur in das Kulturressort des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Von 2015 bis 2020 leitet Oehmke das New Yorker Büro des Nachrichtenmagazins, für das er heute aus Berlin als Autor tätig ist. Oehmke ist Autor der Biografie Am Anfang war der Lärm über die Rockband Die Toten Hosen. Das Buch erschien 2014 und stand mehrere Wochen in der Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste.
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1 Schönwald
Es war gerade erst halb neun, wie lange würde das hier wohl noch gehen und wie viel würde Hans-Harald noch trinken, fragte sich Ruth von ihrem Beobachtungsposten aus. Sie hatte in einem halben Jahrhundert voller sozialer Verpflichtungen die Technik perfektioniert, in Gruppen eingebunden und an Gesprächen beteiligt zu wirken, wenn sie eigentlich gar nicht da war. Sie musste sich dafür nur möglichst nah an eine lebhafte Gruppe heranstellen und manchmal tonlos in deren Richtung lachen und dazu die Lippen bewegen.
Sie hatte sich also in den Rücken eines Halbkreises aus Freunden ihres Sohnes gestellt, alles Akademiker, die an Universitäten mit klangvollen Namen wie Berkeley oder Yale lehrten. Sie kannte diese jungen Männer, teilweise schon seit Jahrzehnten, doch sie hatten, abgesehen von einem tadellos vorgetragenen Begrüßungsritual, zum Glück keine Notiz von ihr genommen, eine perfekte Tarnung. Ruth hörte sie darüber diskutieren, wo eigentlich Chris sei. Ließ sie alle anreisen zu dieser angeblich so wichtigen Eröffnung seiner Schwester, und wer nun nicht da war, war er.
Ruth zupfte an ihrem Kostüm und brachte die Schulterpartie wieder in Form. Sie war schmaler geworden, obwohl sie ihre Schultern zweimal in der Woche im Frauenfitnessstudio an Geräten trainierte. Dabei war es Hans-Harald, dem sie immer sagte, er müsse aufpassen, nicht zu mager zu werden, während sie hoffte, dass man es bei ihr nicht bemerkte. Sie war immer schlank gewesen und groß für eine Frau und mit einem Meter neunundsiebzig einen Zentimeter größer als ihr Mann.
Beim Kofferpacken zu Hause in ihrem Vorort von Köln hatte sie länger darüber nachgedacht, was man wohl zur Eröffnung eines schwul-lesbischen Buchladens in Berlin trüge, und hatte sich schließlich, aber immer noch zweifelnd, für den Stil »Theater-Premiere am Schauspiel Köln« entschieden. Nicht Theater-Vorstellung, sondern Premiere, eine Kategorie rauf, das hieß Kostüm, schwarze Nylonstrumpfhose, hohe, aber nicht zu hohe und vor allem nicht spitze Schuhe sowie Schmuck, Kette aus Weißgold, Brosche mit grünem Smaragd, Armreif aus Weißgold.
Ihr Blick ging zwanzig Meter durch den Raum zu ihrem Mann. Die meisten hier kannten ihn als Harry, so wurde er seit Kindheitstagen genannt, doch Ruth, die generell Spitznamen ablehnte, fand »Harry« besonders unpassend und hatte ihren Mann als eine der wenigen seit ihrer Hochzeit Hans-Harald gerufen. Hans-Harald stand nicht im toten Winkel einer Gruppe, er stand mittendrin. Seine warmen dunklen Augen blitzten, beim Reden schloss er sie häufig, ein Zeichen, das Ruth aus fünfzig Jahren Ehe kannte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie es gehasst, ihn so zu sehen. So amüsiert, so bei sich, so – sie wusste, dass es ein zu großes Wort war: glücklich. Hoffentlich trank er nicht so viel. Nachher auf dem Weg zum Hotel am Gendarmenmarkt würde sie ihn sonst beim Gehen wieder stützen müssen.
Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob ihm der Grund für diese Eröffnung insgeheim auch komisch vorkäme, aber sie hatte sich nicht die Blöße geben wollen, ihn zu fragen. Margot Schuler, die Vorsitzende ihres monatlichen Buchclubs, hatte neulich erzählt, dass auch die großen Buchhandlungen jetzt eigene Ecken für »Kwiere Literatur« einrichteten. Und hätte Margot, mit ihren vierundsiebzig Jahren, diese Genrebezeichnung nicht so aufreizend lässig verwendet, Ruth hätte nachgefragt. So aber musste sie mit dem Hinweis, sie ginge eben mal den frischen Kaffee holen, auf dem Weg in die Küche mit unauffälligem Griff ihr überproportional großes Smartphone von der Kommode mitgehen lassen, um schnell, während der Kaffee seine letzten röchelnden Durchlaufgeräusche machte, bei Google den Begriff »Kwiere Literatur« einzugeben.
Ruth war schon klar, dass es so nicht heißen konnte, aber irgendwo musste sie anfangen. Sie ärgerte sich. Sie würde es nie laut aussprechen, aber wenn man ehrlich war, war sie in dieser Buchclubrunde die Einzige, die Bücher von Literatur unterscheiden konnte. Die nicht nur gerne las, weil man das aus einer bestimmten Generation und Schicht kommend (Nachkriegs-BRD, Bildungsbürgertum) eben so machte.
Das erste Ergebnis, das der Suchbegriff »Kwiere Literatur« hervorbrachte, war einer vom Lesben- und Schwulenverband mit dem Titel »Corona: Auswirkungen auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans« veröffentlicht auf einer Webseite namens queer.de. Da war’s: kwier beziehungsweise queer.
Wie einfach die Welt doch geworden war und wie unendlich kompliziert. Jetzt vor der Kaffeemaschine in der Küche ihres Hauses in Köln war sie kurz stolz gewesen. Überhaupt war sie in letzter Zeit, anders als Hans-Harald, mit dem Smartphone immer gewandter geworden. Sie konnte WhatsApp und FaceTime und hatte die Emojis entdeckt.
Rätselhafterweise war im gleichen Maße, in dem sich ihr Geschick beim Umgang mit dem Smartphone gesteigert hatte, Hans-Haralds Ratlosigkeit über sein Gerät, das hoffnungslos veraltet war, ins Verzweifelte gewachsen.
Auf der Schaufensterscheibe der Buchhandlung, die ihre Tochter Karolin, die mittlere ihrer drei Kinder, an diesem Abend in Berlin in einer Gegend eröffnete, die ansonsten Wettbüros, Shisha-Cafés und Goldjuwelieren vorbehalten schien, stand nun also They/Them. Fachbuchhandlung für Queere Literatur.
Queer heiße nicht unbedingt lesbisch, hatte Ruth ihren Freundinnen in Köln vielleicht etwas zu defensiv erklärt, als sie von der bevorstehenden Berlinreise erzählte, die sie und Hans-Harald antreten würden: lieber mit dem Zug statt mit dem Auto, das schöne Hotel am Gendarmenmarkt, nicht zu weit, aber eben doch in einer ganz anderen, angenehmeren Gegend als die Wohnung der Tochter, bei der oft die Junkies im Hauseingang lägen.
»Aber auch nicht hetero«, hatte Gabriele Bongarts eingewandt und damit der Frage den Raum geöffnet: Was denn dann?
»Entweder bist du homo- oder heterosexuell. Dazwischen gibt es ja nichts.« Das war natürlich Christa König mit ihrer tiefen, Furcht einflößenden Stimme und ihrem, wie Ruth schon immer gefunden hatte, ebenso überschaubaren Weltbild. Denn genau dieses Entweder-Oder war eben in einer sich wandelnden Welt nicht mehr richtig. Ruth wusste auswendig herunterzubeten, was noch alles als geschlechtliche Orientierung infrage kam. Sie konnte, ohne sich zu verhaspeln, LGBTQIA sagen und erläutern, welcher Buchstabe wofür stand. Lesbisch-Gay-Bisexuell-Transgender-Intergeschlechtlich-Asexuell.
»Mama«, hatte Karolin gesagt, »wenn du dein Facebook-Profil erstellst, gibt es allein siebenunddreißig Gender zur Auswahl.« Karolin hatte ihr an langen Abenden das Konzept ihres Geschäfts mehrfach erklärt, und auch warum es immer ihr Lebenstraum gewesen sei, einen solchen Laden zu eröffnen. Das hatte Ruth verwundert, sie hatte fast vierzig Jahre nichts von dem Lebenstraum ihrer Tochter gewusst. Das Leben ihrer Tochter hatte sie sich, nachdem Karolin zum Glück nach zwei Semestern an der Kunstakademie auf Kunstgeschichte umgesattelt hatte, immer als die Karriere einer Kuratorin an einem städtischen Kunstmuseum vorgestellt oder vielleicht an der Universität – und natürlich mit Kindern und einem Mann.
Doch stattdessen sollten sich diese siebenunddreißig Geschlechter, oder wie viele es waren – außer einem, nämlich dem männlichen –, in der heute zu eröffnenden Buchhandlung wiederfinden. Karolin hatte sie mit einer, wie sie betonte: einer Freundin zusammen eröffnet, nicht mit ihrer Freundin. Wie sich solch eine spezialisierte Buchhandlung finanziell über Wasser halten sollte, war Ruth auch nach mehreren Präsentationen eines sogenannten Businessplans, den Karolins Freund, von dem Ruth immer gehofft hatte, er sei ihr Freund, erstellt hatte, schleierhaft geblieben, wenn es in der Buchhandlung nicht einmal Jonathan Franzen oder ihretwegen wenigstens Joachim Meyerhoff zu kaufen gebe.
»Aber jetzt komm doch mal weg von dem männlichen Blick, Mama«, hatte Karolin erklärt. »Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass die von der patriarchalischen Gesellschaft überhörten und mundtot gemachten Erzählstimmen bei uns ihren eigenen Raum bekommen. Einen Safe Space, weißt du?«
Das Problem, das Ruth mit alldem hatte, bestand darin, dass sie sich zeitlebens, gerade was intellektuelle und gesellschaftliche Strömungen betraf, als moderne Frau gesehen hatte und stolz darauf war. Doch die...




