E-Book, Deutsch, 324 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
Ohlendorf / Rebenstorf Überraschend offen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-374-06107-5
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft
E-Book, Deutsch, 324 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
ISBN: 978-3-374-06107-5
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wo ist der Ort der Kirche in einer zunehmend entkirchlichten Gesellschaft? Worin liegen ihre Aufgaben? Soll sie sich auf sich selbst und ihre Mitglieder beschränken oder sich dem Sozialraum öffnen? In sechs Fallstudien wird diesen Fragen konkret nachgegangen. Kirchengemeindliche Akteure wie auch andere zivilgesellschaftlich aktive Menschen wurden zu ihren Beziehungen, Kooperationen und gegenseitigen Wahrnehmungen befragt. Die Ergebnisse zeigen eine überraschende Offenheit sowohl der Kirchengemeinden gegenüber ihrer Umwelt als auch der Vereine, Initiativen, Gruppen, Kommunalpolitik u.a. gegenüber der Kirchengemeinde – überraschend, weil Kirche oftmals als altmodisch, unmodern etikettiert wird. Sie nimmt aber offensichtlich je nach konkreten Bedingungen vor Ort zentrale Funktionen für das Gemeinwesen wahr.
[Unexpectedly Open – Parishes in Civil Society]
Where is the place of church in an increasingly unchurched society? What are its tasks? Should it deal mainly with itself and its members or open up to the surrounding social area? In six case studies these questions are dealt with in detail. Congregational actors as well as other people who are actively involved in civil society were asked about their relationships, cooperations and mutual perceptions. The results show a surprising openness of the parishes towards their environment as well as of the associations, initiatives, groups, local politicians and other actors towards the parishes – surprising, because church is often labeled as old-fashioned, out-dated. However, parishes obviously fulfill central functions for the community, according to the specific conditions on site.
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2.THEORETISCHER RAHMEN
Auch wenn die vorliegende Studie einer explorativen und qualitativen Forschungslogik folgt, die ein größtmögliches Maß an Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand erfordert, heißt dies nicht, dass sie ohne einen theoretischen Rahmen auskommt.3 Dieser ist allein deswegen erforderlich, weil wir es sowohl bei der Zivilgesellschaft als auch bei der Religion mit zwei vielschichtigen Konstrukten zu tun haben, die sich einer exakten wissenschaftlichen Definition weitgehend entziehen. Trotzdem stellt das folgende Kapitel einen Versuch dar, sich diesen beiden Konzepten theoretisch-analytisch zu nähern. Da für unsere Überlegungen nicht in erster Linie die Religion im Allgemeinen, sondern vielmehr die Religionsgemeinschaft und hier im Besonderen die evangelische Ortsgemeinde relevant ist, wenden wir uns dieser im ersten Abschnitt zu (Kapitel 2.1). Anschließend wird im zweiten Abschnitt (Kapitel 2.2) eine Präzisierung des Begriffs der Zivilgesellschaft vorgeschlagen und dessen Entstehung in den allgemeineren historischen und ideengeschichtlichen Kontext eingeordnet. Im Anschluss daran werden die mannigfaltigen Verflechtungen zwischen Religion, Kirche und Zivilgesellschaft aus einer differenzierungstheoretischen, einer historischen, einer sozialwissenschaftlichen und einer innerkirchlichen Perspektive durchleuchtet (Kapitel 2.3). Das Ziel ist keine erschöpfende Darstellung der historischen oder sozialwissenschaftlichen Forschung zu Kirche und Zivilgesellschaft. Unser Anliegen ist es vielmehr, auf der Grundlage dieser Perspektive einen heuristischen Rahmen vorzustellen, der dann für die empirische Analyse genutzt werden kann (Kapitel 2.4). 2.1Die Kirche vor Ort – zur Geschichte und Bestimmung der Ortsgemeinde
Die evangelische Ortsgemeinde, wie wir sie heute kennen, mit Kirche und Gemeindehaus, mit Kreisen und Gruppen gibt es seit rund 150 Jahren; sie ist also kirchengeschichtlich eher jungen Datums. Entstanden ist sie als Reaktion auf grundlegende gesellschaftliche, politische und ökonomische Umwälzungen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese als Gründerzeit bekannte Epoche war in Deutschland geprägt durch die bürgerlich-liberale Bewegung, die Revolution von 1948/49, die Frankfurter Nationalversammlung, Industrialisierung und damit einhergehendem rasanten Wachstum der Städte und Veränderungen in der Sozialstruktur, einem aufblühenden Vereinsleben, Gründung des Deutschen Reiches, der Einführung eines staatlichen Personenstandsregisters und konfessionsloser Schulen. Alle diese Prozesse hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Kirche, auf Struktur und Funktionsweisen der Territorialkirchen und Parochien. Die hierin bereits angelegten Veränderungen der Beziehung von Kirchengemeinden und dem weiteren gesellschaftlichen Umfeld gipfelten in der Aufhebung des Staatskirchenwesens mit Einführung der republikanischen Weimarer Reichsverfassung. Die Selbstverständlichkeit der engen Beziehung zwischen Kirche und Staat einerseits, sowie zwischen Kirche und Bevölkerung andererseits ging verloren. Es waren diese Umbrüche, die Vollendung der Moderne, die Kirchenreformern wie Emil Sulze die Möglichkeit boten, ihre bereits lange entwickelten Überlegungen zur Strukturreform in die Diskussion zu bringen und den Gemeindeaufbau lange Zeit zu prägen. Mit der Entwicklung zur »Post«-Moderne stellen sich neue Herausforderungen, auf welche die Kirchen(gemeinden) bis heute in vielfältiger Art reagieren. 2.1.1AM ANFANG WAR GEMEINDE
Die Bildung von Gemeinden ist für Religionsgemeinschaften keine Selbstverständlichkeit. Historisch bildeten Stamm, Ethnie, Clan und religiöse Gemeinschaft eine gesellschaftliche Einheit (Kehrer 2000: 610; vgl. auch Wegner 2017b: 28–31). Für das Christentum ist hingegen Gemeindebildung schon sehr früh ein typisches Merkmal. Als »personale, lokal umgrenzte Gemeinschaftsbildung« (Hauschild 2000: 612), die keine Einheit mehr mit dem Stamm, dem Clan oder der Ethnie darstellt, dient sie der (nicht nur) religiösen Identitätsbildung. Als Stigmatisierte (Ebertz 1987) waren die Anhänger Jesu nicht mehr integrierter Teil der Gesellschaft, der sie entsprangen, sondern eine Sonderheit, die sich dann ihrerseits trotz der missionarischen Tätigkeit absonderte. Man traf sich anfänglich in Privathaushalten, die Versammlungen umfassten »Juden und Griechen, ebenso Frauen und Männer, Sklaven und Herren, Kinder und Eltern (Gal 3, 28; Kol 3, 18–25). In einem tieferen Sinn machte dies die Gemeinde zum Modell einer neuen Menschheit.« (Banks 2000: 612) Schon damals war über die Vorstellung des »gemeinsamen Lebens und Umverteilung der Güter« (Banks 2000: 611) Armenfürsorge ein zentrales Element der gemeindlichen Aufgaben, neben Gottesdienst, religiöser Unterweisung, Seelsorge (vgl. auch Lohfink 2016). Diese frühen christlichen Gemeinden konnten durchaus als Kontrastgesellschaften4 gesehen werden. Die Gemeinden jener Zeit waren auf bestimmte geographische Räume begrenzt, es waren aber keine Territorialgemeinden bzw. Parochien, sondern freie gemeinschaftliche Zusammenschlüsse von Christen6 in einer mehrheitlich anders glaubenden Umwelt. Insofern entsprachen die frühen christlichen Gemeinden dem Modell der Personalgemeinde und Kongregation und nicht dem parochialen Modell. Dies entspricht einem religiösen System, in dem es keine Staatsreligion gibt, sondern, im besten Falle, weitgehende Religionsfreiheit. Innerkirchlich kann ab dem 2./3. Jahrhundert von einer Entwicklung in Richtung Parochie insofern gesprochen werden, als die Gemeinden zu kirchlichen Verwaltungseinheiten wurden (Schramm 2015: 118; vgl. auch Pohl-Patalong 2003: 64–70). 2.1.2UND DANN DIE LIAISON MIT DEM STAAT
Mit der Ernennung des Christentums zur Staatsreligion veränderte sich zwangsläufig das Verhältnis der Gemeinden zu ihrer Umwelt. Da jeder Mensch getauft werden musste, somit praktisch jeder Christ war, gab es eigentlich keine Umwelt mehr. Was in den Ursprüngen auf Freiwilligkeit und Überzeugung bzw. aus tiefem Glauben heraus sich als Gemeinde und zugleich als Gemeinschaft gebildet hatte (Pohl-Patalong 2003: 66f.), wurde zu einer Zwangsmitgliedschaft in einer Verwaltungseinheit. Man kann also schon für das 5. Jahrhundert vermuten, was Przybylski für das späte 20. Jahrhundert formulierte: das »Problem der nachgängigen Motivationsweckung«, das durch den automatischen Erwerb der Mitgliedschaft entsteht (Przybylski 1987: 71) – und in diesem Fall nicht nur automatisch, sondern zumindest für die ersten Generationen erzwungen. Mit der engen Verbindung von staatlicher und religiöser Macht folgte auch die Gemeinde sehr bald »einer territorialen Logik in Anlehnung an die Verwaltungsbezirke des römischen Reiches.« (Pohl-Patalong & Hauschildt 2016: 545) Das Prinzip der Staatsreligion wie das der territorial definierten Gemeinde überlebte das Römische Reich und alle weiteren Reichsgründungen im europäischen Raum. Die Gemeinden jener Zeit unterschieden sich also organisatorisch und im Hinblick auf religiöse Identifikation grundlegend von den christlichen Gemeinden bis zum ausgehenden 4. Jahrhundert. Aber auch diese »Zwangs«-Gemeinden erlangten durch manche rechtlichen Regelungen, insbesondere durch das Recht auf Durchführung der Kasualien, zunehmende Unabhängigkeit von den Bischöfen. als unmittelbarer Folge der quasi Identität von religiöser und weltlicher Macht. »Die vormoderne, ‚alte‘ Parochie ist die Organisationsform von Kirche in einer missionierten, sich als christlich verstehenden monokonfessionellen Gesellschaft, in der Staat, Gesellschaft und Kirche ein enges, osmotisches Verhältnis zueinander haben […]. In dieser ‚parochialen Symbiose‘ waren die Spitzen der Gesellschaft auch die Spitzen der Kirche.« (Schramm 2015: 121) Das Verhältnis von Gemeinde zu Umwelt ist in dieser monokonfessionellen Staatskirchenstruktur weitgehend identisch mit dem innerkirchlichen Verhältnis von Gemeinde zu Bischof und anderen höheren Würdenträgern, wie das Verhältnis der politischen Gemeinde zu den entsprechenden weltlichen Amtsinhabern. 2.1.3DER WEG IN DIE MODERNE – NEUES VERHÄLTNIS VON KIRCHE UND STAAT, NEUE GEMEINDEFORMEN
Mit der Aufklärung begann sich die Einheit von Kirche und Staat zu lockern, insbesondere in den Städten, in denen sich mit bürgerlichen Salons (gerne auch von Frauen geführt), zunehmender Bildungspartizipation, Abwendung von tradierten gemeinschaftlichen Lebenszusammenhängen hin zu gesellschaftlichen Bezügen und Öffnung der Einrichtungen von Kunst und Musik eine urbane Kultur entfaltete, die das alte Feudalsystem in Frage stellte. Auslöser hierfür waren u. a. die bürgerlichen Revolutionen in den USA und Frankreich. In diesem Zusammenhang wurde die Stellung der Kirchen in der Gesellschaft schwächer. (Schramm 2015: 129f.; vgl. auch Möller 1984: 323) Mit der territorialen Neuordnung Deutschlands im Wiener Kongress fiel darüber hinaus die Übereinstimmung von Landes- und Kirchenherrschaft, die Provinzen wurden multikonfessionell (Scholder 1977: 27), und mit der Gründung des Deutschen Reiches, den dort territorial unterschiedlichen Toleranzgesetzen, konnte...