Ondaatje | In der Haut eines Löwen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Ondaatje In der Haut eines Löwen

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24830-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

ISBN: 978-3-446-24830-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Aus den tiefen Wäldern Kanadas kommt Patrick Lewis in den zwanziger Jahren nach Toronto, in die Stadt, die vor Vitalität aus allen Nähten platzt. Zunächst ein Fremder im eigenen Land, wächst er rasch in eine immer unüberschaubarer werdende Welt hinein.

Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren, lebt heute in Toronto. Mit seinem Roman »Der englische Patient« (Hanser, 1993), für den er den Man Booker Prize und zum 50-jährigen Jubiläum des Preises im Jahr 2018 den Golden Man Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. Im Hanser Verlag erschienen zuletzt »Buddy Boldens Blues« (1995), »Die gesammelten Werke von Billy the Kid« (1997), »Anils Geist« (Roman, 2000), »Handschrift« (Gedichte, 2001), »Divisadero« (Roman, 2007), »Katzentisch« (Roman, 2012) und »Kriegslicht« (Roman, 2018).
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Kleine Samen


Wenn er früh genug wach ist, sieht der Junge die Männer, wie sie am Farmhaus vorbei die First Lake Road hinuntergehen. Dann steht er am Schlafzimmerfenster und schaut: zwischen dem Ahorn und dem Walnußbaum hindurch kann er zwei oder drei Laternen erkennen. Er hört ihre Stiefel auf dem Kies. Dreißig Holzfäller, dunkel gekleidet, mit Äxten und kleinen Essenspaketen am Gürtel. Der Junge geht die Treppe hinunter und stellt sich an eines der Küchenfenster, von wo er die Straße überblicken kann. Sie gehen von rechts nach links. Schon jetzt, noch bevor die Sonne mit ihrer Kraft zum Vorschein kommt, scheinen sie erschöpft.

Manchmal, das weiß er, trifft diese Gruppe von Fremden auf die Kühe, die von der Weide zum Melken getrieben werden, und dann bleiben sie still und höflich am Straßenrand stehen und halten die Laternen hoch (ein Schritt zurück, und sie stecken in einer knietiefen Schneewehe), um die Kühe auf dem schmalen Weg gemächlich an sich vorbeiziehen zu lassen. Ab und zu legen die Männer ihre Hände auf die Flanken der Tiere und nehmen ihre Wärme auf, während sie vorbeitrotten. Sie legen ihre dünn behandschuhten Hände auf diese schwarzweißen Geschöpfe, die man in der letzten Dunkelheit der Nacht kaum ausmachen kann. Sie müssen dabei zurückhaltend sein, dürfen kein Zeichen von Aggression oder Anspruch von sich geben. Das Land gehört nicht ihnen, sondern dem Besitzer der Tiere.

Die Holsteinerkühe trotten an der schweigsamen Reihe der Männer vorbei. Der Farmer, der den Kühen folgt, nickt. In den Wintermonaten begegnet er dieser seltsamen Gemeinschaft fast jeden Morgen; diese Gesellschaft ist ihm stiller Trost in der Dunkelheit um fünf Uhr früh – denn über eine Stunde lang hat er die Kühe zusammengetrieben, um sie zum Melken zu führen.

Der Junge, der Zeuge dieser Prozession ist und sogar davon träumt, hat auch die Männer beobachtet, wenn sie eine Meile weiter weg unter den grauen Bäumen arbeiten. Er hat ihre hallenden Rufe gehört, hat ihre Äxte gehört, die in das kalte Holz schlagen wie in Metall, hat das Feuer am Fluß gesehen, wo das Wasser einsam und grau unter dem dünnen Eis ruht.

Der Schweiß rinnt zwischen ihren harten Körpern und den kalten Kleidern hinab. Einige sterben an Lungenentzündung, andere an dem Schwefel in ihren Lungen, der aus den Mühlen stammt, in denen sie zu anderen Jahreszeiten arbeiten. Sie schlafen in den Baracken hinter dem Hotel Bellrock und haben nur wenig Kontakt mit der Stadt.

Weder der Junge noch sein Vater sind jemals in diesen dunklen Räumen gewesen, in dieser Wärme, die der Geruch von Männern ist. Ein roh gezimmerter Tisch, vier Schlafstellen, ein Fenster, groß wie ein Torso. In jedem Dezember werden die Baracken aufgestellt und im darauffolgenden Frühling wieder abgerissen. Niemand in der Stadt weiß so recht, woher die Männer gekommen sind. Es braucht jemand anderen, viel später, der dem Jungen das erzählt. Kontakt zur Stadt haben die Holzfäller nur, wenn sie auftauchen, um den Fluß entlangzugleiten, auf selbstgemachten Schlittschuhen, mit Kufen aus alten Messerklingen.

Für den Jungen ist das Ende des Winters gleichbedeutend mit einem blauen Fluß, mit dem Verschwinden dieser Männer.

***

Er sehnt sich nach den Sommernächten, nach dem Moment, wenn er die Lampen ausschaltet, sogar den kleinen cremefarbenen Trichter im Flur neben dem Zimmer, in dem sein Vater schläft. Dann liegt das Haus im Dunkeln, nur das helle Licht in der Küche brennt noch. Er setzt sich an den langen Tisch, blättert in seinem Geographiebuch mit den Weltkarten, den weißen Bögen der Meeresströmungen und probiert ganz für sich die Namen aus, formt das Exotische mit den Lippen. Kaspisches Meer. Nepal. Durango. Er klappt das Buch zu und fährt mit den Handflächen darüber; er tastet über die Prägung des körnigen Einbands mit den bunten Farben, die eine Landkarte Kanadas bilden.

Später geht er mit vor dem Körper ausgestreckter Hand durch das dunkle Wohnzimmer und stellt das Buch zurück ins Regal. Er steht da in der Dunkelheit und reibt sich die Arme, um wieder Leben in seinen Körper zu bringen. Er zwingt sich, wach zu bleiben, sich Zeit zu nehmen. Es ist noch immer heiß, und er ist nackt bis zur Hüfte. Er geht zurück in die helle Küche und wandert von einem Fenster zum anderen, um nach den Nachtfaltern zu sehen, die am Fliegengitter kleben, an der Helligkeit haften. Von jenseits der Felder werden sie dieses eine beleuchtete Zimmer gesehen haben und darauf zugeflogen sein. Erkundung einer Sommernacht.

Käfer, Heuschrecken, Grashüpfer, rostdunkle Falter. Patrick beobachtet diese Dinge, die sich in der warmen Luft über der Erdoberfläche ihren Weg gesucht und sich mit einem gedämpften, klatschenden Geräusch auf das Gitter geworfen haben. Er hat sie beim Lesen gehört; seine Sinne sind an diese Geräusche gewöhnt. Jahre später wird er in der Bibliothek von Riverdale lernen, wie die glänzenden Blatthornkäfer das Unterholz zerstören und wie sich die Blütenkäfer vom Saft verfaulenden Holzes oder jungen Maises ernähren. Und plötzlich werden diese Nächte Ordnung und Form erhalten. Nachdem er ihnen Phantasienamen gegeben hat, wird er ihre offiziellen Titel lernen, als überflöge er die Gästeliste eines Balls – Der Grashüpfer! Der Erzbischof von Canterbury!

Selbst die richtigen Namen sind wunderschön. Bernsteinflügliger Wasserläufer. Buschgrille. Den ganzen Sommer lang registriert er ihre Besuche und skizziert die Rückkehrer. Ist es dasselbe Tier? Er zeichnet die orangefarbenen Flügel des Spanners in sein Notizbuch, die Mondmotte, das sanfte Braun des Buchenspinners – wie Kaninchenfell. Er wird das Fliegengitter nicht öffnen und ihre pollenbestäubten Körper nicht fangen. Das hat er einmal gemacht, und das panische Flattern des Falters – ein braunrosa Etwas, das farbigen Staub auf seinen Fingern hinterließ – erschreckte sie beide.

Aus der Nähe betrachtet sind sie prähistorisch. Die Insektenkiefer mahlen. Fressen sie irgend etwas Winziges, oder geschieht es unbewußt – so wie sein Vater auf dem Feld an seiner Zunge kaut. Das Küchenlicht scheint durch ihre porösen Flügel; selbst die dickeren Geschöpfe, wie die apfelgrüne Blattlaus, scheinen aus Puder zu bestehen.

Patrick zieht eine Okarina aus der Tasche. Draußen wird er seinen Vater nicht wecken, die Töne werden einfach in die Arme des Ahorns hinaufschweben. Vielleicht kann er diese Wesen verzaubern. Vielleicht sind sie gar nicht stumm, vielleicht kann er sie mit seinen Ohren nur nicht hören. (Als er neun war, fand ihn sein Vater auf dem Boden liegend, mit einem Ohr auf der harten Kruste eines Kuhfladens, in dem er mehrere Käfer klopfen und krabbeln hörte.) Er kennt den kraftvollen Ruf, den die kleinen Körper der Zikaden hervorbringen, doch er sucht das Zwiegespräch – die Sprache der Libellen; sie brauchen etwas, das ihr Atmen übersetzt, so wie er die Okarina braucht, um sich eine Stimme zu geben; irgend etwas, um damit über die Mauer dieses Ortes zu springen.

Kehren sie jede Nacht zurück, um ihm etwas zu zeigen? Oder verfolgt er sie? So wie er sich von dem dunklen Haus entfernt und auf der Schwelle der leuchtenden Küche zu den leeren Feldern sagt: Hier bin ich. Kommt und besucht mich.

Er war in eine Gegend hineingeboren worden, die bis 1910 auf keiner Landkarte verzeichnet war, obwohl seine Familie dort bereits seit zwanzig Jahren lebte und arbeitete und das Land seit 1816 besiedelt war.

Im Schulatlas ist der Ort blaßgrün und namenlos. Der Fluß schlüpft aus einem See ohne Namen und ist eine einfache blaue Linie, bis er fünfundzwanzig Meilen weiter südlich zum Napanee wird, und schließlich wird er, nur wegen der Holzfällerei, Depot Creek genannt. »Deep Eau.«

Sein Vater arbeitet auf zwei oder drei Farmen, schlägt Holz, macht Heu, treibt das Vieh zusammen. Zweimal täglich überqueren die Kühe den Fluß – am Morgen trotten sie zu dem Land, das südlich des Creek liegt, und am Nachmittag werden sie zum Melken zusammengetrieben. Im Winter werden die Tiere die Straße hinunter zu einer Scheune geführt, doch einmal zog es eine Kuh, die zur oberen Weide zurückwollte, zum Fluß.

Zwei Stunden lang vermissen sie sie nicht, und dann errät sein Vater, wo sie geblieben ist. Er rennt zum Fluß und schreit dem jungen Patrick zu, er solle mit den Ackergäulen folgen. Patrick sitzt ohne Sattel auf einem der Pferde und führt das andere am Zügel, treibt sie vorwärts durch den tiefen Schnee. Durch die kahlen Bäume sieht er seinen Vater, der die Böschung zum Badeloch hinabrutscht.

In der Flußmitte, halb ins Eis eingebrochen, ist die Holsteinerkuh des Nachbarfarmers. Da gibt es keine Farbe. Die trockenen Stengel der verblühten Königskerzen, graue Bäume und der nun saubere, weiße Sumpf. Sein Vater kriecht mit einem Seil über der Schulter auf allen vieren übers Eis auf die schwarzweiße Gestalt zu. Die Kuh schreckt auf, bricht noch tiefer ins Eis ein, und das kalte Wasser schwappt hoch. Hazen Lewis hält inne, redet dem Tier gut zu und kriecht dann weiter. Er muß das Seil zweimal unter dem Körper hindurchbekommen. Patrick bewegt sich langsam vorwärts, bis er auf der anderen Seite der Kuh kniet. Sein Vater legt die linke Hand auf den Nacken des Tiers und steckt seinen rechten Arm so tief er kann unter den Körper ins eiskalte Wasser. Auf der anderen Seite taucht Patrick seinen Arm ein und schwenkt ihn hin und her, um an das Seil zu kommen. Sie können einander nicht erreichen. Patrick liegt auf dem Eis, damit Arm und Schulter noch tiefer kommen; sein Handgelenk wird schon taub, und er denkt, daß er das Seil bald nicht mehr fühlen wird, selbst wenn es ihn berührt.

Die Kuh bewegt sich,...


Ondaatje, Michael
Michael Ondaatje, 1943 in Sri Lanka geboren, lebt heute in Toronto. Mit seinem Roman Der englische Patient (Hanser, 1993), für den er den Booker-Preis erhielt, wurde er weltberühmt. Im Hanser Verlag erschienen zuletzt Buddy Boldens Blues (1995), Die gesammelten Werke von Billy the Kid (1997), Anils Geist (Roman, 2000), Handschrift (Gedichte, 2001), Divisadero (Roman, 2007) und Katzentisch (Roman, 2012). Im Herbst 2018 erscheint sein neuer Roman Kriegslicht.

Michael Ondaatje wurde 1943 in Sri Lanka geboren, ist holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung und lebt heute in Kanada. Seit 1971 unterrichtet er am Glendon College der York University (Toronto) Gegenwartsliteratur. Seine Bücher wurden mehrfach mit dem höchsten Kanadischen Literaturpreis ausgezeichnet, und für seinen Roman Der englische Patient erhielt er 1992 den Booker-Preis.



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