E-Book, Deutsch, 152 Seiten
Reihe: Systemische Soziale Arbeit
Orban Jugendhilfe neu denken
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8497-8523-9
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine konstruktive Streitschrift
E-Book, Deutsch, 152 Seiten
Reihe: Systemische Soziale Arbeit
ISBN: 978-3-8497-8523-9
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rainer Orban, Diplom-Psychologe; Systemischer Therapeut (SG, DGSF), Systemischer Supervisor (SG) und Coach sowie Video Home Trainer. Er ist als Fort- und Weiterbilder, Unternehmensberater, Supervisor und Therapeut tätig und Leiter des DGSF-Instituts n.i.l. in Osnabrück. Außerdem ist er Autor mehrerer Bücher und Fachartikel. Veröffentlichungen u. a.: 'Ein Pfirisch ist ein Apfel mit Teppich drauf. Systemisch arbeiten im Kindergarten' (6., vollst. überarb. Aufl. 2023).
Autoren/Hrsg.
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1.2 Was ist los in unseren westlichen Gesellschaften? Wie der Neoliberalismus die Demokratie schleift
Das gesunde Aufwachsen in Familien als Basis für Gesundheit und ein gutes (Berufs-)Leben. So könnte es sein.
Die Evidenz der zuvor vorgestellten Daten ist robust. Die Politik in demokratischen Systemen sollte, schon im Interesse von deren Selbsterhalt, die Startbedingungen ins Leben als prioritäre Aufgabe allen staatlichen Handelns betrachten.
Die Rahmenbedingungen einer Gesellschaft nehmen Einfluss auf die persönliche Entwicklung von Menschen. Wie sehr sie das tun, zeigt das folgende Zitat von Mark Blyth (2014, S. 18 f.), Professor für internationale politische Ökonomie an der Brown University in Providence:
»Ich kam 1967 in der Stadt Dundee in Schottland zur Welt als Sohn eines Metzgers und einer Angestellten in einem Fernsehgeräteverleih (ja, zu jener Zeit waren Fernsehgeräte noch so teuer, dass die meisten Menschen sie nur mieten konnten). Meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war, und meine Großmutter väterlicherseits kümmerte sich um meine Erziehung. Ich wuchs in (relativer) Armut auf und zuweilen ging ich mit Löchern in meinen Schuhen zur Schule …
Heute bin ich Professor an einer Ivy-League-Universität in den USA. Ein extremeres Beispiel für sozialen Aufstieg von einer Generation zur nächsten kann man nirgendwo finden. Ermöglicht hat mir diesen Aufstieg genau das, was heute für die Krise verantwortlich gemacht wird: der Staat – genau gesprochen der sogenannte aus dem Ruder gelaufene, aufgeblasene und paternalistische Wohlfahrtsstaat (eine völlig überzogene Sichtweise!). Ich verdanke dem britischen Wohlfahrtsstaat, so unterentwickelt er im Vergleich zu seinen großzügigeren europäischen Cousins auch erscheinen mag, dass ich nie hungern musste. Dafür sorgten die Rente meiner Großmutter und die kostenlosen Mittagessen in der Schule. Ich verdanke dem sozialen Wohnungsbau, dass ich niemals ohne Unterkunft war. Die Schulen, die ich besuchen durfte, waren kostenlos und dienten all jenen als Treppenstufen des sozialen Aufstiegs, die von der genetischen Lotterie des Lebens mit der Fähigkeit ausgestattet wurden, sie zu besteigen.«
Diese Zeilen stammen aus Blyths Buch Wie Europa sich kaputtspart, das 2013 auf Englisch erschien und von der Financial Times im selben Jahr zum besten Buch des Jahres gekürt wurde.
Mark Blyth beschreibt, mit Fakten untermauert, eindrücklich, wie sich die Finanzkrise der Europäischen Union entwickelte. Er sieht die Austeritätspolitik (strenge Sparpolitik) als Beschleuniger der Krise (ebd., S. 27):
»Dass Austerität einfach nicht funktioniert, ist der erste Grund dafür, dass es sich hierbei um eine gefährliche Idee handelt. Aber Sparpolitik ist auch deshalb gefährlich, weil sie sowohl von Politikern also von den Medien als Teil einer fundamental falschen Analyse präsentiert wird, nämlich als Preis, der für eine Staatsschuldenkrise zu entrichten sei. Der Subtext lautet: Der Staat hat ›zu viel ausgegeben‹, und wir haben ›über unsere Verhältnisse gelebt‹. Dies ist eine Verdrehung der Tatsachen. Die Probleme, einschließlich der Krise der Anleihemärkte, gingen von den Banken aus – und sie werden dort enden.«
Blyth erklärt die falsche Logik mit einem wunderbaren Beispiel (ebd. S. 31):
»Ökonomen haben die Tendenz, Verteilungsfragen anzugehen, wie wenn Bill Gates eine Bar betritt. Dann ist jeder im Raum Anwesende plötzlich Millionär, weil das Durchschnittsvermögen schlagartig ansteigt. Das ist statistisch richtig, aber empirisch bedeutungslos. In Wahrheit sitzen natürlich außer einem Milliardär keine Millionäre am Tresen, nur einige Dahergelaufene, die vielleicht zehntausend Dollar auf ihrem Konto haben, vermutlich weniger. Ähnliches gilt für Austeritätspolitik. Sie trifft nicht jeden gleich. Die am unteren Ende der Einkommensverteilung verlieren mehr als die an der Spitze, ganz einfach, weil jene an der Spitze viel weniger auf Dienstleistung des öffentlichen Sektors angewiesen sind und auch generell den Vermögensverlust aufgrund der besseren Ausgangsposition einfacher verkraften können.«
Mark Blyth stellt die in Deutschland oft als großen Erfolg dargestellten Hartz-Gesetze (Hartz I–IV) zur Reform des Arbeitsmarktes deutlich infrage. Er bezieht sich auf Untersuchungen von Dustmann et al. (2014). Der einzige Effekt der Hartz-Reformen sei die Etablierung eines Niedriglohn-Dienstleistungssektors gewesen, der dem internationalen Wettbewerb nicht ausgesetzt und wenig produktiv war. Diese Entwicklung habe zu einer drastischen Verschärfung gesellschaftlicher Ungleichheit geführt.
1.2.1 Kinderarmut ist kein Schicksal
Ungleichheit trifft Kinder besonders stark. Sie haben keine Mittel, um sich dagegen zu wehren.
Exkurs: Sprache schafft Wirklichkeit
Beschäftigt man sich mit Kinderarmut, taucht unweigerlich die Bezeichnung von Familien als sozial schwach auf. Es geschieht eher häufig als selten. Selbst aus dem Mund vieler Kollegen aus dem sozialen Bereich hört man diese Beschreibung. Sie ist schlicht und ergreifend falsch und stigmatisierend.
Familien, die am Rande der Gesellschaft verortet sind, teilen oft eine wirtschaftliche Schwäche. Diese ökonomische Schwäche hindert sie daran, gleichberechtigt partizipieren zu können an den Errungenschaften und Möglichkeiten unserer modernen Gesellschaft. Das hat bei allem nötigen Respekt nichts mit sozialer Schwäche zu tun. Benutzen wir diesen irreführenden Begriff allerdings, so wird er zu unserer Wirklichkeit und zur Wirklichkeit derer, die wir so bezeichnen, da wir sie mit Missachtung strafen.
Ähnlich wie Blyth argumentieren auch Carolin und Christoph Butterwegge (2021, S. 59), wenn sie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung anführen:
»Auch die Bertelsmann-Stiftung, die den Kampf gegen Kinderarmut in Deutschland auf ihrer Homepage zu einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen erklärt, sieht vornehmlich bei der Freizeitgestaltung und der sozialen Teilhabe eine starke Unterversorgung. Bei vielen Kindern reiche das Geld nicht für einmal Kino, Konzert oder Essen gehen im Monat. Klassenfahrten, Schüleraustausch oder Einladung zu Hause finden so gut wie nie statt. Über zwei Drittel der betroffenen Kinder könnten mit ihrer Familie jährlich nicht einmal eine Woche pro Jahr in Urlaub fahren, wird festgestellt.«
Kinderarmut ist nicht einfach ein individuelles Schicksal. Sie ist hausgemacht, da sie durch die ungerechte Verteilung von Wohlstand entsteht.
Diese Ungerechtigkeit ist das Ergebnis neoliberaler Politik, die ihren Ursprung in den 1930er-Jahren nach der Weltwirtschaftskrise hat. Damals wurde der freie Markt als Allheilmittel für alle Probleme propagiert und sollte fortan die dominierende Kraft sein. Staatliche Eingriffe sollten minimiert werden, um Effizienz, Innovation und wirtschaftliches Wachstum zu fördern. Mitte der 1970er-Jahre setzten herausragende politische Figuren wie Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA diese Denkweise in politisches Handeln um. Großbritannien spürt bis heute die Auswirkung dieses Denkens.
Der Neoliberalismus ist mehr als ein Wirtschaftsmodell. Er ist eine Ideologie. Butterwege und Butterwege (2021, S. 136) nennen ihn gar
»eine politische Zivilreligion, die alle Poren der Gesellschaft durchdrungen hat und mit ihrer Kernforderung nach einer Liberalisierung bzw. Deregulierung der Märkte, einer Privatisierung des öffentlichen Eigentums und der sozialen Risiken, einer Ökonomisierung der zwischenmenschlichen Beziehung sowie einer Kommerzialisierung fast aller Lebensbereiche bis heute maßgeblichen Einfluss ausübt.«
Die Bezeichnung des Neoliberalismus als »Zivilreligion« ist mehr als nur ein rhetorisches Mittel. In aller Deutlichkeit zeigt sich dies bei der Diskussion zur Schuldenbremse in Deutschland. Das Argument vieler Befürwortenden: Die Einhaltung der Schuldenbremse sei ein Faktor der Generationengerechtigkeit. Eine sehr gut klingende Begründung. Eliminieren wir allerdings die Obrigkeitshörigkeit und beleuchten diese Aussage, stellt sich automatisch folgende Frage: Ist es gerecht, unseren Kindern, Enkelinnen und Urenkeln eine völlig marode Infrastruktur und eine gespaltene Gesellschaft zu hinterlassen? Formulieren wir es auf den Punkt: nein!
1.2.2 Ist der Neoliberalismus unkaputtbar?
Diese an Eigennutz und teils ungebremster Gier orientierte Ideologie wird von einer einflussreichen wirtschaftlichen und politischen Klasse geprägt, die ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen hegt. Ihre Vertreter sind extrem gut vernetzt und agieren in abgeschlossenen Netzwerken. Diese Ideologie und die aus ihr folgenden Handlungen platzierten sie in den letzten 40 Jahren erfolgreich auf der politischen Ebene. Nun, da diverse Unsicherheiten (Veränderung des Klimas, neue Technologien wie KI, der Druck auf demokratische Institutionen) alle westlichen Staaten ergriffen haben, zeigen sich nicht nur politische Akteure alarmiert, auch die Bevölkerungen zeigen sich an vielen Stellen zutiefst verunsichert. Der Geist ist aus der Flasche, und man könnte meinen, er wende sich gegen die Zauberlehrlinge (Achtung: nicht zu früh freuen, siehe unten!).
Das große Misstrauen großer Teile der Bevölkerung gegenüber staatlichem Handeln ist dabei keine bloße Ideologie oder die Folge eines blinden Tappens in die Fallen der Populisten, sondern für viele täglich erlebter Alltag. Staatliche Instanzen, die...