E-Book, Deutsch, 207 Seiten
Pabst Zwei Leben - Die Strafsache Wilhelm Schweiger - Die zweite Generation
2. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8197-6528-5
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Justizdrama
E-Book, Deutsch, 207 Seiten
ISBN: 978-3-8197-6528-5
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autorin Pamela Pabst ist die erste von Geburt an blinde Strafverteidigerin Deutschlands. Ihr außergewöhnliches Leben dient als Vorbild der erfolgreichen ARD-Serie 'Die Heiland - Wir sind Anwalt', die jedes Mal Millionen Menschen sehen, und sie fungiert als Fachberaterin für das Drehbuchteam. Die Berlinerin lebt ihren Traumberuf als Strafverteidigerin jeden Tag. Doch ihr großer Herzenswunsch blieb lange unerfüllt: die Veröffentlichung ihres eigenen Romans 'Zwei Leben - Die Strafsache Wilhelm Schweiger'. An einem Dienstag im Frühjahr in Berlin ist Pamela Pabst zu Besuch im Haus des Rundfunks bei Moderator Ingo Hoppe. Sie erzählt von ihrem Traum, und beide beschließen, Pamelas Buch jetzt in die Welt zu bringen. Nach vielen Jahren des Wartens ist es nun soweit.
Autoren/Hrsg.
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Familienbande
Der 17. Juni 2016 war ein Freitag. Am Vormittag hatte Doris Aalatt einen Strafprozess in »Moabit«, Berlins altehrwürdigem Kriminalgericht, geführt und war danach weiter zu einer Zivilstreitigkeit am Landgericht gehastet. Sie hatte gewissenhaft die Post erledigt, am Nachmittag drei Mandanten empfangen, und nun war es fast 19:00 Uhr geworden... - wieder ein Arbeitstag vorüber.
»Klaudia, hast du den Schriftsatz ans Amtsgericht Charlottenburg schon fertig?« fragte Doris Aalatt und betrat mit einem gewaltigen Aktenstapel vor der Brust das Vorzimmer, wo ihre Sekretärin noch immer eifrig auf die Tastatur ihres PCs einhämmerte. Doris Aalatt war eine sportliche aber zugleich traditionsbewusste Erscheinung Ende 50, zierlich in der Statur und schlank. Sie hatte mittelblondes halblanges Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und trug ein graues Kostüm, dazu eine weiße Bluse und halbhohe Pumps.
»Ich bin gerade fertig geworden, Doris«, sagte Klaudia Boysen und rumpelnd setzte sich der Drucker in Bewegung. Mit den Worten »Das hier kann auch zurück ins Register« legte sie ihr eine der Akten auf den Tisch und wuchtete den Rest unter großer Kraftanstrengung auf einen der Registraturschränke gegenüber, wobei sie freihändig auf einen kleinen Hocker kletterte, weil sie sonst nicht bis ganz nach oben reichte.
»Was ist eigentlich mit der Sache da am Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg?« »Das habe ich Dir doch rüber gemailt, genauso wie den Eilantrag für Frau Demirkan«, entgegnete Klaudia Boysen, sich keiner Schuld bewusst, während sie den Schriftsatz mit Stempeln versah, zusammenfaltete und kuvertierte.
Klaudia Boysen hatte bereits in der Kanzlei gelernt, die damals noch ihrem Vater, Paul Boysen, und seinem Kollegen, Wilhelm Schweiger, Doris Aalatts Ehemann, gehört hatte. Klaudia Boysen war ein sportlicher Typ, 15 Jahre jünger als ihre Chefin, also Mitte 40, die sie schon so lange kannte, dass sich beide inzwischen duzten. Klaudia Boysen hatte eine peppige Kurzhaarfrisur mit Strähnchen, die oft wöchentlich die Farbe wechselten. An diesem Tag war gelb angesagt. Sie trug stets klimpernden Modeschmuck in den verrücktesten Formen und farbenfrohe Kleidung. An diesem Tag hatte sie sich für kleine Eistüten entschieden.
Über den Registerschränken hing ein großformatiges Foto unter Glas. Es zeigte einen grauhaarigen Mann Mitte 50 in Anzug und Krawatte. Er saß im Rollstuhl und hatte zwei kleine Kinder auf dem Schoß. Daneben stand eine Dame Mitte 60 mit grauem, lockigem Haar und einem lieben Gesicht. Sie trug ein blaugraugestreiftes Kleid mit einem weißen Kragen und balancierte eine goldene Lesebrille auf der Nase. Beide Frauen hatten das Bild zur Erinnerung an alte Zeiten dort aufgehängt. Es zeigte ihren Lehrchef mit seinen Kindern, Nina und Florian, sowie ihre Ausbilderin, Frau Genest, die schon lange nicht mehr unter ihnen war, aber noch immer als guter Geist der Kanzlei über alles wachte, was sie taten.
»Kannst du mal schauen, wie mein Terminplan für morgen aussieht?« fragte Doris Aalatt fast beiläufig, während sie wieder auf ihr Zimmer zusteuerte, und Klaudia Boysen öffnete mit der Computermaus klickend ein Fenster auf ihrem Bildschirm. »Kannst du nicht bei dir drüben schauen, Doris?« fragte Klaudia Boysen. »Ich habe den Computer schon runtergefahren«, entgegnete Doris Aalatt, da sie davon ausgegangen war, für diesen Tag alles erledigt zu haben.
Diese Zeremonie wiederholte sich seit nun fast zwanzig Jahren jeden Abend und beide hatten sie bereits von Wilhelm Schweiger und Frau Genest übernommen. Damals als es noch keinen Computer, sondern allenfalls eine elektrische Schreibmaschine gegeben hatte, war alles analog und in Papierform vonstattengegangen.
»9:00 Uhr Moabit in Sachen Ali Özman, 12:00 Uhr Landgericht Littenstraße in Sachen Pauli gegen Karadas GmbH, um 14:00 Uhr kommt Frau Geißler, das ist die Sache mit dem Eilantrag, um 15:00 Uhr kommt Herr El-Mohammad, um 16:30 Uhr ist dann Schmidt gegen Schmidt dran – da könnte man noch was zwischenschieben – und um 17:00 Uhr hast du deinen Termin beim Zahnarzt.«
»Na das scheint ja machbar zu sein. - Dann kannst du von mir aus auch nach Hause gehen. Es ist ja schon spät.« »Wie großherzig von dir! Ich finde, ich habe hier heute schon genug gemacht.« Bevor Doris Aalatt etwas entgegnen konnte, läutete es an der Tür. »Dein Hausfreund?« scherzte Klaudia Boysen. »Ach was«, lachte Doris Aalatt. »Das ist mein Abholservice.“
Beide vernahmen durch die geöffnete Kanzleitür Geräusche im Treppenhaus. Es surrte und rumpelte, dann betrat ihr Besuch die Kanzlei. »Guten Abend«, grüßte man beide freundlich im Chor durch die geöffnete Tür des Schreibzimmers, und es erschienen ein Mann jenseits der siebzig, der im Rollstuhl saß, und seine Begleiterin, eine hübsche junge Frau Anfang dreißig, mit blondem Haar, das ihr locker über die Schultern fiel – Wilhelm Schweiger und seine Tochter Nina. Beide waren in den Regen gekommen.
Wilhelm Schweiger sah noch immer aus wie auf dem Bild. Er trug jetzt allerdings eine schwarze Tuchhose, einen dunkelroten Pullover und ein weißes Hemd, das mit dem Kragen und den steifen Manschetten darunter hervorlugte. Seit er in diesen Räumen nicht mehr als Anwalt tätig war, trug er keinen Anzug und keine Krawatte mehr, obwohl Doris Aalatt und Klaudia Boysen ihn so immer gern gesehen hatten. Er hatte einfach jedes Mal Würde ausgestrahlt.
»Hallo mein Schatz«, begrüßte ihn Doris Aalatt und ging in die Hocke, um ihm einen Kuss zu geben. »Dann werde ich mal meinen Mantel holen und mit euch mitkommen. – Wer von euch ist gefahren?« »Ich«, antwortete Wilhelm Schweiger. Er verfügte über einen entsprechend umgebauten PKW, der ihm ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zurückgegeben hatte. »Mein Auto ist noch in der Werkstatt«, sagte Nina. »Was ist passiert«, fragte Klaudia. »Mir ist hinten einer voll in die Tür gefahren«, antwortete Nina. »Krass!«
Doris Aalatt holte ihren Mantel, und Wilhelm Schweiger chauffierte alle gemeinsam nach Zehlendorf in die Schellenbergstr. 91 b – sein Elternhaus. Er bewohnte mit seiner Familie eine um 1910 erbaute weiß gestrichene Villa in guter Lage, die von einem großen Garten umgeben war und viel Arbeit verursachte. Wilhelm Schweiger hatte von Kindesbeinen an dort sein gesamtes Leben verbracht: Erst mit seinen Eltern, Else und Friedrich Schweiger, dann mit seiner Mutter zusammen als Junggeselle wie in einer WG, später mit seiner Frau Margot und den Kindern, und nun mit Doris.
Während Doris Aalatt die Haustür aufschloss, holte Nina den Rollstuhl ihres Vaters aus dem Kofferraum und stellte ihn neben die geöffnete Fahrertür, damit er umsteigen konnte. Bei diesem Transfer half sie ihm nicht, das war nicht notwendig, aber bevor sie die Wagentür zuschlug, drückte sie ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. Sie hatten ein sehr inniges Verhältnis zueinander, inniger als ihre Geschwister. Auch ihr Bruder Florian und ihre Schwester Johanna hatten ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater, aber Florian war nun einmal ein Junge und Johanna hatte all die Wirren in der Vergangenheit nicht miterlebt, die beide zusammengeschweißt hatten.
Nina erinnerte sich noch gut an die Zeit in ihrer Kindheit, als der Papa noch auf zwei Beinen unterwegs gewesen war. Er war oft nicht zuhause gewesen, da er viel hatte arbeiten müssen, aber sie war sich seiner Liebe stets sicher gewesen, auch wenn es gerade nach dem Unfall eine Zeit gegeben hatte, in der er sehr depressiv und nicht in der Lage gewesen war, sich um sie zu kümmern. Und auch, als er für einige Zeit nicht mehr zuhause gewesen war, hatte sie sich mit ihm verbunden gefühlt.
»Kommt ihr!« rief Doris Aalatt zu ihnen herüber und Nina löste sich von ihm. »Ich hab Dich lieb.« Sie schob ihn in Richtung der Hauseingangstür und beide gingen hinein. Drinnen hängte sie seine Jacke an die Garderobe und beide betraten das Esszimmer, wo bereits Geschirr auf dem Tisch stand. »Ich glaub es ja nicht, Johanna hat den Tisch gedeckt!« rief Nina. »Da kannst du mal sehen«, sagte Wilhelm Schweiger, »sonst schimpfst du immer nur herum, wenn sie deine Schminke nimmt.« »Mädchenprobleme halt«, sagte ein junger Mann, der Wilhelm Schweiger wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur rund 50 Jahre jünger, sein Sohn Florian. Florian war dunkelhaarig, groß und schlank. Er trat mit einer Schüssel Spagetti aus der Küche. »Du hast gekocht?« wunderte sich Nina.
Einmal in der Woche versuchten Wilhelm Schweiger und Doris Aalatt alle an einen Tisch zu bekommen, was manchmal gar nicht so einfach war. Schließlich war sie voll berufstätig, um die Familie zu ernähren. Nina und ihre Schwester Johanna lebten noch zuhause, Florian wohnte in einer Studenten-WG in Kreuzberg. Doch nun waren alle beisammen.
Johanna war die Jüngste von den dreien. Sie war 16 Jahre alt und hatte etwas von beiden Eltern: Haarfarbe, Stirn und Augen von ihrer Mutter, Doris Aalatt, Mund und Nase von ihrem Vater. Ein Platz am Tisch blieb leer, dies war der Platz von Margot Schweiger gewesen. Nina und Florian hatten als Kinder dieses Ritual etabliert, nachdem ihre Mutter am 12. Juli 1989 viel zu früh von ihnen gegangen war. Nun war ihnen dies aufgrund ihres Alters weit weniger wichtig, aber sie hatten diese Tradition beibehalten, wenn auch nicht direkt darüber gesprochen wurde. Es war einfach so.
»Und, wie läuft’s?«...




