E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Page All unsere Jahre
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8031-4260-3
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4260-3
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kathy Page ist Autorin von acht Romanen und zwei Erzählbänden, für die sie vielfach ausgezeichnet wurde. In Großbritannien geboren und aufgewachsen lebt sie nun seit einigen Jahren auf Salt Spring Island bei Vancouver in Kanada. Sie unterrichtet an der Vancouver Island University. Für »All unsere Jahre« erhielt sie den Rogers Writers' Trust Fiction Prize, es ist ihr erstes Buch auf Deutsch.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Beiß darauf
»Hier, beiß darauf«, sagte Mavis und reichte Adeline einen Halbmond aus Leder an einer Schnur, die man am Handgelenk befestigen konnte: ihre eigene Erfindung, erklärte sie. Adeline kniete mit gespreizten Beinen vor dem Doppelbett, die Arme auf der Matratze, in die sie den oberen Teil ihres Bauchs presste. Mavis hatte den Teppich eingerollt und den Boden mit Zeitung ausgelegt, darüber saubere Laken. Das Gleiche auf dem Bett. Bleiche im Waschwasser. Sauberkeit. Besucher fernhalten. Sie hatte alles steril abgekocht und ihre Hände dreimal geschrubbt. »Beißen«, sagte sie, »dauert nicht mehr lang.«
Beim zweiten Baby sollte es eigentlich leichter gehen, hieß es, doch dieser kleine Kerl hatte anfangs mit dem Gesicht nach vorn gelegen. Damit er sich drehte, hatte Mavis Adeline den gefliesten Flur auf Händen und Knien auf und ab kriechen lassen, immer wieder, dann sollte sie aufstehen und sich ans Bettende lehnen. Zwei Tage. Kaum Ruhe. Aber du kannst von Glück sagen, dass es keine Steißgeburt ist. Und dass sie nicht in der York Road ist: Da ist es dreckig, und die Hälfte der Mütter kommt im Sarg wieder raus. Und alles ohne einen dieser hochnäsigen Ärzte, die einem ein Heidengeld abknöpfen. Mavis kostete fünfzehn Schilling, egal, wie lange es dauerte.
Adeline stöhnte, biss fest zu, und als das Schlimmste vorüber war, spie sie das Lederding wieder aus und ein Stück eines Backenzahns gleich mit. Es war ihr egal.
»Aufs Bett, wenn du nicht reißen willst«, sagte Mavis.
»Nein«, sagte Adeline, während der Schmerz all ihre noch verbliebenen Gedanken auslöschte und ein Grunzen zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hinaustrieb. Speichel triefte über das Lederding und lief ihr Kinn hinab, doch vor der nächsten Wehe schaffte Mavis es, sie aufs Bett zu hieven. Gut so. Ihre Beine zitterten so heftig, fast hätte sie sich auf das Kind gesetzt.
»Hol mich der Teufel«, sagte Mavis ein paar Minuten später. Die Nabelschnur hatte sich dreimal um den Hals des Babys geschlungen – kein Wunder, dass es so langsam herausgekommen war. Sie ließ ihren Finger unter eine der fleischigen Schlaufen gleiten und lockerte sie.
, schrieb Mavis in den Bericht. Vater: Albert Edward Miles, Dreher. Mutter: Adeline Miles. Sie hatten keinen Jungennamen ausgesucht, also empfahl Mavis Harry: »Kann ein Henry sein oder ein Harold. Passt zu einem König, zu einem Grabenbauer und zu allem dazwischen. Einen Harry mögen alle.« Alberts Großvater war der Henry-Typ gewesen, also war er einverstanden; Adeline war zu müde, um sich darum zu scheren.
Albert nahm einen Spaten und begrub die Nachgeburt draußen im Garten neben dem Klohäuschen. Setzen Sie eine Tomatenpflanze darauf, riet ihm Mavis, obwohl es dort so düster war, dass außer dem zähesten Unkraut nichts wuchs. Sie brühte einen Tee auf und wartete zwei Stunden, für den Fall, dass es Blutungen gab, dann zahlte er, was sie ihr schuldig waren, plus einen Schilling Trinkgeld für die gute Arbeit.
Adelines kleine Schwester Josephine, sieben Jahre jünger, war auch verheiratet. Als Adeline nur noch weinte und sich nicht mehr aufrappeln konnte, kam sie vorbei, holte sie aus dem Bett und brachte sie nach unten, in das kleine Esszimmer, wo die Fenster vom Dampf köchelnder Suppenknochen beschlagen waren.
»So, und jetzt überlegen wir mal, wofür du alles dankbar sein kannst«, sagte sie. Und da gab es vieles. Adeline war am Leben, kaum gerissen, voller Milch. Sie hatte ein gesundes Baby, trotz der Sache mit der Nabelschnur, welch ein Glück, dass Mavis wusste, was sie tat … Sie hatte ein Dach über dem Kopf und eine jüngere Schwester, die ihr George, ihren ersten Sohn – fast vier war er jetzt –, abgenommen hatte, und drei weitere Schwestern, die wohl dasselbe tun würden. Jede Menge Tanten. Einen Onkel. Ihre Mutter lebte noch. So viel Glück hatte sie und noch mehr. Gutes Essen. Einen Mann, der einem ehrlichen Handwerk nachging, der nicht übermäßig trank, ein schöner, anständiger Mann, der sie nie geschlagen hatte und es auch nie tun würde.
Es war ein Segen, überhaupt einen Mann zu haben, gab Josephine zu bedenken; der Krieg hatte so viele von ihnen verschlungen. Von den fünf Schwestern waren nur sie und Adeline verheiratet. Adeline und Albert konnten sich glücklich schätzen: er, weil ihm der Schützengraben erspart geblieben war, sie, weil er sie ausgesucht hatte, obwohl sie schon siebenundzwanzig war und eher still. Sie konnte im Kopf addieren, multiplizieren und dividieren. Sie schrieb sauber und fehlerfrei, war fleißig, zeigte keinerlei Anzeichen von Religion, spielte sich nicht auf, ondulierte sich nicht die Haare und vertat ihre Zeit nicht mit Schwärmereien. Albert Edward schätzte das alles und sagte es ihr auch.
Es war das erste Mal, dass sich jemand zu Adelines Wesen äußerte, also widersprach sie nicht. Für ihren Geschmack redete er zu viel, aber das fiel nicht ins Gewicht. Er wollte ein besseres Leben und machte sich Gedanken darüber, wie das zu erreichen sei. Er zog vor. Weit besser, sagte er, ein oder zwei Kinder mit vollen Bäuchen zu haben als sechs halbsatte, kränkliche Gespenster in einem einzigen Schlafzimmer, von denen die meisten in einem winzigen Grab enden. Meinst du nicht auch, Adeline? Natürlich ergab das alles Sinn, aber war es nicht falsch, sich der Natur zu widersetzen? Und ganz bestimmt falsch, so viel darüber zu reden? , sagte er. War es das, was Männer und Frauen taten? Josephines Will fragte sie nie nach ihrer Meinung. Sprach überhaupt kaum.
Keine Frage, es war besser, wenn die eigenen Kinder lebten und aufwuchsen, um später in einem Büro zu arbeiten oder sogar zu unterrichten. . Doch wünschte sie, er würde ihr die Details der Hilfsmittel ersparen, mit denen sie die Größe ihrer Familie beschränken würden. Und mussten sie bei der Anzahl wirklich so strikt sein? Bildung war entscheidend, Wissen, Macht. . Auch im Verständnis von Zahlen, sagte Albert, lag eine Kraft. Besonders von Zinseszinsen. Jede Woche legten sie etwas zurück. Was Harry anging, hatten die Zahlen sie allerdings im Stich gelassen.
»Ich verstehe nicht, was da schiefgelaufen ist«, sagte er, als ihnen klar wurde, dass sie schwanger war. »Ich war doch sehr vorsichtig.« In einem billigen Notizheft hatte er alles aufgeschrieben: ihre Tage und wann er sich hatte gehen lassen. »Tag acht. Eigentlich lange bevor dein Ei ausgestoßen wurde«, sagte er und breitete ihr Treiben im Schlafzimmerdunkel auf dem Küchentisch aus, wo es ganz sicher nichts zu suchen hatte; trotzdem, die Sache mit den Eiern ließ sie an Hühner denken, und sie musste lachen.
»Also, wollte ich ja gar nicht legen.« Sie hatten es, um ehrlich zu sein, wie die Katholiken gemacht. Denen schienen auch häufig Fehler zu unterlaufen. Vielleicht ließen sich manche Dinge einfach nicht kontrollieren, und vielleicht war es auch besser so. Doch all dies behielt sie für sich, schließlich war sie mit ihm verheiratet, in guten wie in schlechten Zeiten.
»Wir haben noch etwas angespart. Aber in Zukunft …«
Die Zukunft war es, die Adeline zum Weinen brachte, doch weshalb, das hätte sie beim besten Willen nicht sagen können.
»Kopf hoch, Liebes«, sagte Albert, als sie weiter weinte und zu nichts zu gebrauchen war. Sie saßen im Zimmer neben der Küche und aßen die Reste des Lammauflaufs, den Josie mitgebracht hatte. »Du wirst es nicht nochmal durchmachen müssen, das verspreche ich.«
Und als sie das hörte, musste Adeline, die wusste, wie gut sie es hatte, noch mehr weinen, geradewegs in ihr Essen, über das sie froh sein konnte.
»Und wie will er das anstellen?«, fragte Josephine, nachdem Albert zum Rauchen hinaus auf die Hintertreppe gegangen war. »Will er im Bett ab jetzt einen ›Regenmantel‹ tragen?« Josie kicherte, und Adeline wurde sofort rot. Sie lehnte sich zu ihrer Schwester hinüber.
»So eins haben wir mal ausprobiert«, flüsterte sie. »Es roch nach Streichhölzern. Scheußlich.« Sie war zu schüchtern, um auch zu erwähnen, wie widerlich das Ding, Paragon-Hülle hieß es, in seiner Schachtel ausgesehen hatte, gewaschen und gepudert. Hatte zwei Schilling und sechs Pennies gekostet. Bestimmt, hatte Albert gesagt, könnte, würde, müsste man daran noch etwas verbessern.
»Ich weiß nicht, was er vorhat, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich hoffe, er schickt mich nicht in diese neue Klinik, da sterb’ ich.«
»Will hat mit so was nichts am Hut. Besser etwas Selbstbeherrschung, und es dann nehmen, wie es kommt.«
Harry wachte auf. Er schrie beharrlich, wollte sich nicht beruhigen lassen. Also nahm sie ihn hoch, stillte ihn und weinte wieder ein bisschen.
, , befahl sie sich und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Du kannst verdammt dankbar sein: am Leben, gesundes Baby. Gute Milch. Hilfsbereite Schwestern. Mum, die sich um ihn kümmert, wenn ich wieder arbeiten gehe. Küche, Wohnzimmer, fließend Wasser, Toilettenhäuschen, pünktlich bezahlte Miete. Essen. Guter Ehemann. Besseres Leben.
»Ich wünschte, du würdest deiner Schwester nicht derart intime Dinge erzählen«, sagte Albert, als er ins Bett kam. Er sprach sehr leise, weil Harry zwischen ihnen lag.
»Oh, aber ich muss mit jemandem sprechen«, sagte sie, »sonst werde ich verrückt, wie meine Cousine Nellie.«
»Vielleicht könnte es dann jemand Diskreteres sein«, sagte Albert. Und da war es wieder, das Glück: Ein anderer Mann...