Paley Ungeheure Veränderungen in letzter Minute
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7317-6072-6
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Storys
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6072-6
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Grace Paley, 1922 als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in New York geboren, war neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in der Friedens-, Frauen- und Bürgerrechtsbewegung aktiv. Sie veröffentlichte zahlreiche Shortstorys und Gedichtbände und erhielt mehrere bedeutende Auszeichnungen und Preise für ihr Lebenswerk. Grace Paley starb 2007 in Vermont.
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Ganz einfach
Sie würden mich sicher gern kennenlernen. Ich war eine Frau, die ihre Jugend ausgekostet hat. Ja, in den goldenen Jahren war ich nicht wie so manch andere. An mir flog die Zeit nicht vorbei wie ein flüchtiger Traum. Ich habe mich nicht nur samstagabends, sondern auch dienstags und mittwochs bestens amüsiert.
Hat es mir geschadet? Von wegen, wir hatten es so gut, wie es in diesem Land nur möglich ist: Autos, im Sommer was gemietet in Jersey, Fernsehen sofort, als es aufkam, für die Küche nur das Tollste. Beschwerden, mit denen ich den Boss behelligen müsste, habe ich nicht.
Trotzdem ist es wie ein langes, hoffnungsloses Heimweh, die Sehnsucht nach den Jugendjahren. Für mich sind sie wie mein Zuhause, das ich für immer verlassen habe, und die ganze Zeit seitdem habe ich in großen Freuden, aber in einer fremden Stadt gelebt. Na gut. Lebt wohl, ihr Jahre, an die ich mich gern erinnere.
Aber deshalb habe ich Verständnis für Ginny, die junge Frau unten, und ihre Kinder. Sie sind mickrig und unterentwickelt. Keine Sonne, kein Rindfleisch. Bloß Nudeln, Bohnen, Kohl. Da wusste es ja meine Mutter schon besser, und die war gerade erst vom Schiff runtergekommen.
In der guten alten Zeit war Ginnys Wohnung mal ein Abklatsch von meiner. Den Luftschacht rauf und runter hörte man das Singen aus ihrer Küche, das Banjospielen im Wohnzimmer, und im Schlafzimmer, das gab sie sofort zu, war ein Tamburin. Ihr Mann war kein Amerikaner. Er hatte schwarzes Haar – wie ein Zigeuner.
Und blitzsauber war damals alles, die Küche das reinste Mosaik aus blasslavendelblauen Kachelstückchen. Alle Oberflächen Resopal, alles funkelte. Die Töpfe und Pfannen hingen so, dass ihr Glanz die Besucher blendete … der Übermut dieser Familie strahlte einem förmlich entgegen. Weil es Ginny jetzt so elend geht, ist sie natürlich immer schmutzig. Sie weint in einem fort. Wasser aus dem Hahn lässt sie nicht an sich ran.
Fünf Frauen aus unserer Straße, alte Freundinnen, neugierig, aber das gilt nicht für mich, trafen sich und schrieben ein Gesuch an das Jugendamt. Ich wusste schon, dass das nichts nützte, denn da muss schon mehr vorliegen als Schmutz, Suff und ab und zu ein bisschen Hurerei. Wahrscheinlich sind deshalb die Kinder unserer Stadt in so einem Zustand. Ich bemerke das schon seit Jahren, aber es geht mich nichts an. Mütter und Väter stehen auf, wann sie wollen, gehen, in Watte gepackt von der Fürsorge, nachmittags mit ihren Liebschaften für eine schnelle Nummer ins Bett und bumsen schon vor drei munter rum. (Ich schwör’s.) Das Jugendamt zeigt keinerlei Interesse. Ganz egal, wer ihnen schreibt. Einflussreiche Leute, die man im Wahlkreis kennt, sogar die Wahlkreisbeauftragte, meine Cousine Leonie, die sich für die Wahl des Bürgermeisters dermaßen ins Zeug gelegt hat, kriegt keine Antwort, wenn sie einen Brief schreibt. Warum dann ich, die ich bloß Wahlbeobachterin bei den Vorwahlen bin?
Jetzt kommen sowieso andere Kinder hier ins Viertel, und ich meine nicht nur die Farbigen. Ich meine Leute wie Sie und ich, fromm und sauber, aber häufig auf dem absteigenden Ast. Ich hab ja nichts gegen Leben und Lebenlassen, aber was ist mit den Kindern?
Ginnys Mann ist mit einem puertorikanischen Mädchen abgehauen, das sich zwischen den Beinen rasiert. Das wissen alle, und zwar schon lange, sonst würde ich es nie sagen. Als Ginny hörte, dass er sich mit dem Mädchen rumtrieb, rasierte sie sich auch, weil sie hoffte, ihn zurückzulocken, aber bei ihr ekelte er sich, und damit war die Sache entschieden.
Wenn Männer älter werden, vergucken sie sich, blöd, wie sie sind, in die komischsten Weiber, mein Alter auch oft, so gern er mich all die Jahre hatte. Ich beachte es nicht weiter, das ist unter meiner Würde. Mein Rat an Mütter und Ehefrauen: Macht die Freundinnen dieser Trottel bloß nie nach. In eurem Alter werdet ihr sonst bloß zum allgemeinen Gespött. Habt ihr schon mal die Redensart gehört »Alter Teig geht in einem neuen Ofen nicht auf«?
Gut, Sie wissen es, ich weiß es, selbst die Huren und Zuhälter und das sonstige Gesindel, die sich in diesem Haus eingenistet haben, kennen den Klatsch. Seit Neuestem ist mein Sohn John ständiger Besucher in der armseligen, schmuddeligen Wohnung dieser Ginny. Und wer kann es ihm verübeln, leid, wie er das speckige Gesicht seiner Margaret ist, voller Löcher und Narben vom Smog in Jersey. Meine Enkel, von denen ich fast sechs habe, sind blass, denn bei dem ganzen Öl dort hat die Sonne keine Chance. Selbst die Blätter an den Bäumen werden in Jersey nicht richtig grün.
John! Schau mir ab und zu mal in die Augen. Was warst du immer für ein liebes, gutes Kerlchen, wir haben immer versucht, dich mit den Jungs zusammen rauszuschicken, und wenn wir dich gebeten haben, bist du auch gegangen. Als er acht oder so war, haben wir ihn nach der Schule zu den Pfadfindern geschickt, eine ganz schön wilde Gang. Was die für Schimpfwörter kannten! Alle hart im Nehmen und frech, aber wenn ihr Anführer zu ihnen stieß, standen sie stramm. Rechts um! Man hätte denken können, sie wären bei den Marines gewesen, so exakt marschierten sie, und dienstagabends brachte ihnen mein Mann bei, was er noch aus seiner Zeit als Unteroffizier wusste. Marsch!, zwei, drei, vier!, ungefähr so viel wusste er noch. Auch John hielt sich wunderbar stramm, doch wenn er nach Hause kam, ließ er sich von mir in den Arm nehmen und einen Kuss geben. »Was habt ihr heute bei den Pfadfindern gemacht, mein Sohn? Exerziert, Schatz?«, fragte ich.
»Ach was, Mutter«, sagt er. »Mrs. McClennon hat die ganze Zeit Geld für das große Bezirkspicknick eingesammelt, und da hab ich meine Buntstifte rausgeholt und hier das Bild von Maria, unserer Heiligen Mutter Gottes, gemalt«, sagt er.
Mein John, so ist er. Auch mit einer Polaroid Land-Kamera würden Sie kein besseres Bild von ihm kriegen.
Die Leute haben gefragt, und es geht sie einen Dreck an: Warum habt ihr beide (sie meinten Jack und mich – wir gingen beide arbeiten) den einzigen Jungen, der euch geblieben ist, nicht zum College geschickt?
Also, mal ehrlich, er hätte im College nur Probleme gehabt. Um die Wahrheit zu sagen: Intelligent war er nicht. Sein Vater war nicht intelligent, und John hatte den Verstand seines Vaters geerbt. Unser Michael war klug. Aber Michael ist tot. Wir haben es ausführlich durchgekaut, sein Vater und ich, und beide gemeint, dass eine Lehre das Beste wäre. Mein Mann Jack war wer in der Gewerkschaft, von den ersten Kämpfen an, mutig und loyal. John ist ganz bequem über Empfehlung und Verwandtschaft reingerutscht. Das hatten wir klug entschieden. Der Beweis ist da.
Denn jetzt (ja, heute) ist er ein gemachter Mann, hat einen hervorragenden Namen im Baugewerbe und sich nebenbei ein Geschäft mit Grabsteinen aufgebaut. Er besitzt ein wunderschönes eigenes Haus, und alle seine Kinder sind angezogen wie die Neffen des Pfarrers.
Aber glauben Sie nicht, dass ich die Einzige bin, die Ginny und John gesehen hat, als sie die Perlen in diesem pechschwarzen Schweinestall von Häuserblock waren. Nein, viele haben sie gesehen, und sie lassen bis heute keine Gelegenheit aus, den Anblick im Schlamm unter ihren Schädeldecken zu bewahren, sie wühlen im Dreck wie Krebse. Und ich bin auch nie überrascht, wenn sie davon reden, wenn sie versuchen, was aus der angeblich so schönen Zeit zu machen, als hätte ich dafür gesorgt, dass sie vergangen ist.
»Junge, Junge«, sagte Jack ungefähr zwanzigmal in dem Jahr, »sie ist eine wilde Hummel. Unser Johnny ist verrückt nach ihr … Sieh sie dir nur an.«
Gut, vielleicht ist sie wild. Aber auch nicht wilder als ich, als ich siebzehn war. Doch das habe ich Jack in dem ganzen Jahr nie erzählt. Ist auch lange her, dass ich mit Anthony Aldo das Gras im Central Park platt gedrückt habe. Jedenfalls konnte meine Wildheit mit jeder heutigen Wildheit mithalten. Aber das musste Jack nicht wissen. Er war ein eher schlichtes Gemüt … Schuftete wie ein Itaker, kriegte die Überstunden aber zum Glück wie ein Amerikaner anständig bezahlt. Ich wollte ihn nicht beunruhigen, um keinen Preis. Er war, wie es so schön heißt, die Güte leibhaftig.
Er kam immer um sechs nach Hause. Ich um Viertel nach, ich arbeitete nachmittags als Kassiererin. Ich setzte das Abendessen auf. Um sieben aßen wir, dann wuschen wir ab; und Punkt Viertel vor acht, wenn wir keinen Besuch hatten und auch der Junge nicht da war, wollte Jack gern seine Muschi. Kam gleich zur Sache. Um Viertel nach acht hatte er den letzten Rest weggeduscht. Ich gab ihm seinen kleinen Whiskey. Um die neuesten Nachrichten aus aller Welt zu erfahren, las er manchmal das Klatschblatt Journal-American. Alles andere war ihm zu viel. Gute Nacht, Mr. Raftery, mein Freund.
Danach konnte ich endlich die guten Sendungen im Fernsehen sehen und ein Gläschen Wein trinken. Obwohl mir gefiel, dass er mir täglich seine Aufwartung von Mann zu Frau machte, ermüdete es mich nicht halb so sehr wie ihn. Er war erschöpft, und ich konnte mir, ohne dass mir die Augen zufielen, die letzte Unterhaltungsshow bis zum Schluss der allerletzten Werbung ansehen. Meine wilden Mädchenjahre gehen nur mich selbst was an und sonst niemanden.
Also: Als Zeichen seiner Freundschaft vor Gott hatte John Ginny sein Highschool-Abzeichen geschenkt, obwohl er da schon voll im Beruf stand. Seine Mitgliedskarte von der Gewerkschaft konnte er ihr schlecht schenken (das wurde auch nie üblich), obwohl er Ginny mit zu einem berühmten Essen zu Ehren von Klaus Schnauer bei Camillo mitnahm: fünfunddreißig Jahre...