E-Book, Deutsch, Band 2, 576 Seiten
Reihe: Terra Ignota
Palmer Sieben Kapitulationen - Terra Ignota 2
Neuauflage 2022
ISBN: 978-3-7367-9827-4
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 576 Seiten
Reihe: Terra Ignota
ISBN: 978-3-7367-9827-4
Verlag: Panini
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ada Palmer ist Fantasy-Autorin, Historikerin und Komponistin. Mit dem hier vorliegenden Debüt-Roman Dem Blitz zu nah gewann sie bereits 2017 den Compton Crook Award. Darüber hinaus wurde sie mit dem John W. Campbell Award ausgezeichnet. Sie hält Vorlesungen über die früh-moderne Geschichte Europas mit dem Schwerpunkt italienische Renaissance, hat aber auch eine bedeutende Schwäche für die Geschichte der Wikinger.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2
EINSCHRÄNKUNG: DIESER ABSCHNITT MUSS HERAUSGENOMMEN WERDEN, BEVOR DIESES DOKUMENT VERÖFFENTLICHT ODER VERBREITET WERDEN DARF. PRIVATER ZUGANG KANN AUF RICHTERLICHE ANORDNUNG GEWÄHRT WERDEN.
EINSCHRÄNKUNG ANGEORDNET VON: Konklave din Sinnsagerninnen der universellen freien Allianz.
BEGRÜNDUNG: Verleumdung einins lizenzierten Sinnsagernins durch Unterstellung krimineller Handlungen.
EINSCHRÄNKUNG ANGEORDNET VON: Juristische Cousin-Kommission.
BEGRÜNDUNG: Dem öffentlichen Frieden könnte Schaden zugefügt werden, hier erwähnten Minderjährigen könnte Schaden zugefügt werden.
EINSCHRÄNKUNG ANGEORDNET VON: Ordo Quiritum Imperatorisque Masonicorum.
BEGRÜNDUNG: Aufruf zur Gewalt gegenüber einim Familiaris Regni.
EINSCHRÄNKUNG ANGEORDNET VON: Generalkommissarnin Ektor Carlyle Papadelias von der universellen freien Allianz.
BEGRÜNDUNG: Es liegen aussagekräftige Beweise dafür vor, dass erhebliche Teile dieses Dokuments mit zerstörerischer Absicht verändert oder gefälscht worden sind.
DAUER DER EINSCHRÄNKUNG: Fünf Jahre, Verlängerung hängt von Wiedervorlage ab.
Hallo, Fans und Feindninnen! Hier ist eurin allerbestin Sniper. Zuerst möchte ich euch versichern, dass ich lebe und es mir gut geht. Das Leben auf der Flucht passt perfekt zu mir. Meine Wunden sind verheilt, ich habe viele Verbündete, und ich werde Jehova Mason für euch töten, das schwöre ich, heute, morgen, in einem Jahr, wie lange es auch dauert. Sie können din kleinin Prinzen nicht ewig bewachen. Tyranninnen und Attentäterninnen sind symbiotisch miteinander verbunden. Meuchelmörderninnen sind immer böse und werden verachtet (selbst wenn wir Gutes bewirken, heiligt der Zweck nicht jedes Mittel), bis Tyranninnen auftauchen. Dann sind Attentäterninnen plötzlich Heldninnen, Lebensadern; auf einmal haben wir allein die Macht, die Welt ohne eine Revolution und die Zerstörungen, die Aufstände mit sich bringen, zu retten. Ihr gebt zu, dass ihr uns braucht. Aber zwischen den Tyranninnen vergesst ihr, dass wir Attentäterninnen nur dann da sein können, wenn ihr uns braucht, wenn wir die ganze Zeit über da waren. Ihr fühlt euch schmutzig, dass ihr eine solche Waffe im Haus aufbewahrt, aber irgendjemensch muss das tun, da sie sonst nicht da ist, wenn der böse Wolf schnaufend und keuchend auftaucht. Mein Amt ist nicht weniger eine Säule dieses Zeitalters als das der Zensorninnen oder dins Anonymnins. Ich übe es mit demselben Stolz aus.
Zweitens sollte ich erwähnen, dass ich nur dieses eine Kapitel schreibe und Mycroft wieder übernehmen wird, wenn ich zu Wort gekommen bin. Mycroft hat sich sehr bemüht, mit mir in Kontakt zu treten, damit ich das Ereignis schildern kann, das als Nächstes an der Reihe war. Ich habe mich nur dazu bereit erklärt, weil nin versprochen hat, kein Wort von dem, was ich geschrieben habe, zu verändern. Dieses Privileg werde ich bis zum Äußersten ausnutzen, und ich werde auch etwas zu Jehova Mason sagen, bevor ich fertig bin. Aber ich beginne mit dem Teil, aus dem sich eurin üblichin Erzählernin bisher herausgewunden hat: Ich korrigiere dieses absichtliche Versäumnis und werde euch das Aussehen von Mycroft Canner beschreiben.
Mycroft ist mittelgroß, wirkt kleiner, weil nin gebückt geht, und schwimmt in ninsem übergroßen Uniform wie eine in Säcke eingewickelte Statue, die darauf wartet, restauriert zu werden. Ninsen Haar ist auf diese klassische griechische Art gelockt, nicht ganz schwarz, mit einem eher gräulichen als braunen Hauch, und an den Seiten und auf der Stirn herausgewachsen, als würde nin glauben, dass sich ein so wunderbares Wesen unter ein paar verirrten Locken verstecken könnte. Die moderne Wissenschaft hat dafür gesorgt, dass ninsen Gesicht mit einunddreißig Jahren noch genauso frisch aussieht wie mit siebzehn, als ein Blick von Mycroft Canner genügte, um din Stärkstin erschaudern zu lassen, doch jetzt betrachten diese Teufelsaugen ganz zahm den Boden. Es sind braune Augen, wenn mensch sie denn sieht, hellbraun und antik anmutend, wie die braune Färbung, die alten Wein runder schmecken lässt als neuen. Auf ninsem Oberlippe findet mensch eine Narbe, wo sie einmal zu oft mit Gewalt gespalten wurde, was den Eindruck von versteckten Reißzähnen erweckt. Aber die wahre Belohnung verbirgt sich unter der Uniform, auf der Haut, die dort freigelegt wird, diesem Wandteppich aus Narben in allen Formen und aus allen Jahrgängen: die zerknitterten Ränder alter Schnitt- und Bisswunden, die rauen Verbrennungen, die Wunden an Hand- und Fußgelenken, die Ley-Linien der Chirurgie, Einschusslöcher, rund wie kleine Küsse, alle übereinandergeschichtet wie eine Graffitiwand, die nin dazu verleitet, ninsen eigenes Zeichen hinzuzufügen. Hinter jeder Narbe steckt eine Geschichte, und ich habe viele glückliche Stunden damit verbracht, diese Haut zu erkunden und Fragen zu ihnen zu stellen; Mycroft antwortet in etwa einem Drittel aller Fälle.
Der Mycroft, an den ihr euch aus den Nachrichten erinnert, war hager und muskulös wie ein ausgehungerter Aasfresser. Das hat sich nicht geändert. Der wildeste Streuner wird nach einem Jahr warmer Umarmungen und Streicheleinheiten weich, aber nicht Mycroft. Ich glaube nicht, dass Mycroft nur zur Selbstgeißelung hungert. Es könnte sein, dass nin einen solchen Körper nicht mit dem ungesunden Fraß verunreinigen will, den die Kundninnen den Diensterninnen anzubieten pflegen, aber ich vermute, dass unser Raubtier gewöhnliche Nahrung nur noch schwer hinunterwürgen kann, nach all dem, was es gekostet hat. Ninsen berühmte Mütze (und selbst ich war überrascht, als ich erfuhr, dass sie von Dominic Seneschal stammt) ist rund, braun, erinnert an die einins Zeitungsjungen, besteht jedoch mehr aus Flicken als aus Stoff und weist nur noch die Reste einer Krempe auf. Wisst ihr, dass Mycroft euch angelogen hat? Er sagte, es gäbe keinin Bettlerkönignin, din die Diensterninnen befehligt, aber der Anblick dieser Mütze lässt die anderen ebenso schnell Haltung annehmen wie der einer Krone. Die anderen Diensterninnen verehren Mycroft nicht wegen der Verbrechen, sondern wegen dem, was Mycroft seitdem getan hat. Es erstaunt sie, dass es in dieser Hölle einen Engel gibt, der bereit ist, sie so gut zu beschützen, wie es einem gefallenen Engel möglich ist.
Din Mycroft von heute ist in der Realität tatsächlich so unterwürfig wie in den Büchern, einin selbst ernanntin Sklavnin in dieser Welt, die keine kennt. Aber wenn man eine Weile mit nim zusammensitzt, mit nim redet, nin lockt, schwindet die Förmlichkeit, der Buckel, der die immer noch starken Schultern verbirgt, lockert sich, die Hände fangen an, sich wie Krallen auszustrecken, und schließlich kommt die Bestie, die ich din wahrin Mycroft nenne, an die Oberfläche. Sie ist nicht in nim gefangen, versucht nicht, auszubrechen, sondern ruht einfach im Inneren dins Sklavnins Mycroft wie ein Schiff, das auf etwas Besonderes wartet, im Hafen. Din Sklavnin Mycroft kennt nur einen Ausdruck: den der Entschuldigung. Die Miene dins echten Mycroft ist nicht lesbar, oder besser gesagt ist es falsch zu versuchen, sie zu lesen, so wie die Form eines Hundegesichts den Anschein erweckt, dass es lächelt oder die Stirn runzelt, obwohl man in Wirklichkeit nur menschliche Ausdrucksformen auf ein unmenschliches Ding projiziert.
Wie die meisten von uns habe ich Mycroft Canner zum ersten Mal in den Nachrichten gesehen, kurz nach der Festnahme, als die Polizei nin an einer Reihe von Einsatzkräften vorbeiführte. Mycroft war damals so gelassen. Nin sonnte sich in der Prozession, als wäre der durchsichtige Sargkäfig ein Triumphwagen. Wir hatten Mycrofts Gründe für die Mardi-Morde bereits aus den aufgezeichneten Reden erfahren, die nin bei den späteren Leichen hinterlassen hatte. Dies war der größte Gewaltakt dieses Jahrhunderts, und er wurde nicht von einer Regierung, einer Kirche, einem Stamm oder einer Armee begangen, sondern von einim Einzelnen. Seit Dorfbewohner zum ersten Mal im Namen ihrins Häuptlings angespitzte Stöcke schwangen, lag das Gewaltmonopol beim Staat, aber das Hive-System beendete das. Mycroft beschrieb ninsen Morde als die Demonstration einer Freiheit, die wir in dieser Ära zwar besaßen, aber noch nicht erkannt hatten. Als einen Beweis für den Fortschritt der Geschichte, denn siebzehn Tote hatten ausgereicht, um die Welt zu schockieren. Historisch betrachtet beschränkte sich die Welt nur an guten Tagen auf siebzehn Todesfälle. Philosophninnen haben lange über den Wilden Menschen spekuliert, darüber, ob das Gewissen angeboren ist oder von der Gesellschaft eingepflanzt wurde und ob der menschliche Geist tatsächlich in der Lage ist, Böses um des Bösen willen zu tun – selbst die abscheulichsten Mörderninnen neigen dazu, sich irgendein Ziel vorzustellen (Rache, Profit, persönliches Vergnügen, irgendeinen wahnsinnigen Befehl). Das ist eine wichtige, sogar grundlegende Frage: Können wir uns für Handlungen entscheiden, die die Welt nur schlechter machen, ohne dass wir ihnen einen, wenn auch perversen Nutzen zugestehen? Doch wir konnten nicht herausfinden, ob die wahre menschliche Bestie damals existiert hatte, als sie noch wie einin Handwerkernin im Zeitalter der Massenproduktion war, vernachlässigbar neben den unendlich größeren Übeln: Demozid und Krieg. Vor den Kameras predigte Mycroft, dass in dieser Zeit des Friedens, in der wir unseren Hive und unsere Werte selbst wählen, die Menschen endlich die Chance haben, das Schlimmste auf der Welt zu werden, und das Recht, stolz zu sein, wenn wir uns dagegen entscheiden. Das war...




