E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Parigger Der Dieb von Rom
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-401-80415-6
Verlag: Arena
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-401-80415-6
Verlag: Arena
Format: EPUB
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Die Vertreibung
Am Nachmittag des zweiten Tages war das Maultier so müde, dass es den Karren kaum mehr ziehen konnte. Mitleidig tätschelte ihm Marius die Flanke.
War es ein Wunder, dass die alte Mähre schlappmachte? Zwei Maultiere oder besser noch ein Ochsengespann gehörten vor einen Karren, selbst wenn er nichts enthielt als einige alte Möbel, Hausrat, Matratzen, ein paar Vorräte und einen großen Sack voller Erinnerungen.
Erinnerungen an ein kleines, fest gemauertes Haus, an Rebstöcke und Olivenbäume, an dunkle Zypressen, in deren schmalem Schatten man zur Mittagszeit ruhen konnte, und an Sonnenuntergänge, die das hügelige Land unendlich weit erscheinen ließen.
Aber dorthin gab es keine Wiederkehr, für lange Zeit jedenfalls nicht.
Mit einem unterdrückten Seufzer wischte sich Marius den Schweiß von der Stirn und strich die nasse Handfläche an seinem roten Schopf ab. Wenn ein Lüftchen aufkam, würde ihm das ein wenig Kühlung verschaffen. Er blinzelte in das grelle Blaugrau des Himmels, in dem reglos ein paar weiße Wolkenfetzen hingen. Im Moment sah es nicht danach aus. Die Hitze ließ die Luft flirren und biss in die Augen, dass sie brannten.
Wie schön wäre es, jetzt irgendwo zu liegen und zu dösen, nichts zu hören als das Summen der Bienen und das Schnarren der Zikaden …
»Junge, träum nicht!«
Die wütende Stimme seines Vaters schnitt in seine Gedanken.
»Halt an! Merkst du nicht, dass das Mistvieh bockt?«
Ohne dass Marius es gesehen hatte, war das Maultier stehen geblieben. Wie angewurzelt stand es da, den Kopf gesenkt, und ließ demütig die Flut von Schimpfwörtern und Flüchen über sich ergehen, die Marius Procilius Rufus der Ältere hervorstieß.
Er war ein leicht erregbarer Mann, rothaarig und hitzköpfig wie sein Sohn.
»Du verdammter, widerspenstiger Klepper, ich mach dir den Garaus!«, tobte er und hob die Faust, um sie auf den Kopf des unglücklichen Tiers niedersausen zu lassen.
»Halt, Vater! Wer soll uns den Karren nach Rom ziehen? Ich vielleicht? Oder der da?« Marius deutete auf den hageren alten Sklaven, der sich beim Zornesausbruch seines Herrn in sichere Entfernung zurückgezogen hatte. »Verfluch nicht das Maultier, verfluch lieber den, der uns in diese Lage gebracht hat!«
»Halt den Mund, Grünschnabel!«, grollte sein Vater. »Er hat nach dem Gesetz Roms gehandelt, ich hätte es genauso gemacht.«
Marius spürte, wie ihm die Galle hochkam. »Das Gesetz Roms«, stieß er verächtlich hervor. »Was ist das schon für ein Gesetz, das dem Reichen das Recht gibt, dem Armen das Wenige zu nehmen, was er hat? Ich pfeif auf das Gesetz!«
Als er den Gesichtsausdruck seines Vaters bemerkte, machte er schnell ein paar Schritte zurück, weg aus der Reichweite der väterlichen Faust.
Marius der Ältere wollte erneut losbrüllen, aber ein Blick in das müde Gesicht Gordianas, seiner Frau, die, ihre Tochter Procilia an sich gedrückt, wie verloren am Straßenrand stand, hielt ihn davon ab.
»Wir schieben«, befahl er mürrisch. »Du links, ich rechts. Alexios führt das Maultier.«
Gehorsam trat der alte Sklave zu dem erschöpften Tier, streichelte ihm die Nüstern und redete mit leiser Stimme auf es ein. Gleich darauf ging es weiter, holperten die eisenbeschlagenen Räder wieder über das staubige Pflaster.
Vater und Sohn liefen hinter dem Karren her, die Handflächen gegen die Rückwand gepresst. Mit gebeugtem Rücken, so dicht nebeneinander, dass sie sich fast berührten, schoben sie, um dem Zugtier seine Last zu erleichtern.
Verstohlen musterte Marius seinen Vater: die hornigen, von unzähligen kleinen Verletzungen vernarbten Hände, die Finger mit den eingerissenen, verwachsenen Nägeln, die grauen Augen, die starr und stur auf die hölzernen Planken gerichtet waren, das sonnenverbrannte Gesicht, von dem die Schweißtropfen herabperlten.
Verständnislos schüttelte er den Kopf. Mochte der Vater auch mit seinem Schicksal hadern, nie würde er dem zürnen, der es heraufbeschworen hatte.
Der reiche Römer, der sie von ihrem Pachtgut hatte vertreiben lassen, hatte das Recht auf seiner Seite, Punktum. Das Gesetz war das Gesetz, das hinterfragte man nicht. Auch dann nicht, wenn man sein Leben in Zukunft als mittelloser Plebejer* verbringen musste, als Ärmster unter den Armen, der nichts mehr besaß als sein jämmerliches Bürgerrecht, der nicht wusste, wie er für Frau und Tochter ein Dach über dem Kopf besorgen und das Brot für den nächsten Tag verdienen sollte.
Marius presste die Finger gegen die Wagenwand, bis das Blut aus ihnen wich. Es war ihr Land! Ihr Land, das sein Vater bebaut hatte, wie sein Großvater und dessen Vater vor ihm, und das er eines Tages hätte übernehmen sollen.
Ihr Land, nicht das eines römischen Geldsacks, der nie eine Furche in den harten Ackerboden gezogen, nie einen Weingarten gehackt und nie einen Ölbaum beschnitten hatte.
Er, Marius, würde sich das Land wiederholen. Nicht morgen, nicht in einem Jahr, vielleicht nicht in zehn Jahren. Aber irgendwann.
Verbissen schob er weiter, hörte nicht auf das Rumpeln und Knirschen der Räder, achtete nicht auf seinen schmerzenden Rücken. Er dachte zurück an den Tag, an dem der Beauftragte des reichen Römers zu ihnen gekommen war, und goss Öl in das Feuer seines Zorns, bis es heißer brannte als die Sonne.
»Du siehst, es hat alles seine Richtigkeit.« Der Freigelassene* deutete mit einem dicken Zeigefinger auf die Buchrolle, die er auf seinem Schoß ausgebreitet hatte. »Das heißt«, fügte er grinsend hinzu, »du siehst es und siehst es doch nicht. Denn du wirst kaum lesen können.«
»Ich nicht«, entgegnete Marius Procilius Rufus mit Würde. »Aber mein Sklave kann es.«
Er winkte Alexios, der sofort an den Tisch eilte, an dem die beiden saßen. »Erlaube, dass er die Rechnung überprüft! Nicht, dass ich an deiner oder deines Herrn Redlichkeit zweifle, aber es kann sich doch ein Fehler eingeschlichen haben … und er ist Grieche, du verstehst … er kennt sich aus mit Zahlen …«
»Nur zu, nur zu«, sagte der Freigelassene mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme und gähnte. »Lass ihn ruhig prüfen. Wenn du die Freundlichkeit hättest, mir den Becher noch einmal zu füllen …« Wieder grinste er: »Genau genommen ist das ja ohnehin schon der Wein meines Patrons.«
Marius, der in einer Ecke des Zimmers kauerte, hätte dem aufgeblasenen Wichtigtuer die Faust in das feiste Gesicht rammen können. Dieses affektierte Gehabe! Die gespitzten Lippen, der vom Becher abgespreizte kleine Finger, der näselnde Tonfall! Er trug eine Toga*, fleckenlos und weiß, als sei sie gerade aus der Bleiche gekommen, bei der Hitze und an einem normalen Tag eine Albernheit sondergleichen.
Auf den ersten Blick sah man ihm den Emporkömmling an; noch bei seinem letzten Besuch war er ein Sklave gewesen, schon damals wohlgenährt und geleckt, aber noch hübsch bescheiden und zuvorkommend in seinem Auftreten.
Widerwillig holte Marius den Weinkrug – hineinspucken hätte er mögen! – und goss den Männern gewässerten Wein nach. Dabei warf er einen Blick auf den Papyrus*, in den Alexios vertieft war. Zwar konnte auch er, ebenso wie seine jüngere Schwester Procilia, lesen, denn sie hatten in Alexios einen tüchtigen Lehrer gehabt; aber diese endlosen Aufstellungen und Zahlenreihen waren ihm dennoch ein Buch mit sieben Siegeln.
Er zog sich in seine Ecke zurück und hoffte inständig, dass ein Wunder geschähe und Alexios einen entscheidenden, alles ändernden Fehler fände.
Die Zeit verging. Niemand sprach ein Wort, nur der alte Sklave murmelte gelegentlich etwas Unverständliches vor sich hin.
Endlich hob er den Kopf und nickte bedauernd. »Es ist alles richtig, Herr. Die ausstehende Pacht, das Darlehen, die angefallenen Zinsen und Zinseszinsen machen weit mehr als den Wert des Hauses und aller beweglichen Habe einschließlich der Sklaven aus.«
Marius krampfte sich das Herz zusammen. Es war vorbei. Die letzte, winzige Hoffnung war in nichts zerstoben.
Zwei trockene Sommer und ein kalter Winter hatten genügt, um ihnen die Grundlage ihres Lebens zu rauben. Nach zwei Missernten hatte der Vater beim Eigentümer ihres Pachtguts ein Darlehen aufnehmen und um Stundung der Pacht bitten müssen. Zwei weitere dürftige Ernten und die Lage war aussichtslos geworden.
Aber warum bestand der Römer so plötzlich auf Rückzahlung? Was bedeuteten ihm die paar Tagwerk Land? Wahrscheinlich kosteten allein die Fliesen seines Bades das Doppelte!
Marius hielt es nicht mehr aus. Mit ein paar hastigen Schritten war er neben dem Freigelassenen und stemmte die Hände in die Seiten. »Warum?«, stieß er hervor. »Warum will dein Herr uns vertreiben? Irgendwann könnten wir schon zurückzahlen!«
Der Dicke hob die Schultern und antwortete geringschätzig: »Das glaubst du doch selbst nicht! Von nichts kommt nichts!« Er kicherte leise. »Im...




