E-Book, Deutsch, 426 Seiten
Parsons Sündenherz
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96148-404-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 426 Seiten
ISBN: 978-3-96148-404-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Julie Parsons wurde 1951 als Tochter irischer Eltern in Neuseeland geboren. Sie war noch ein Kind, als ihr Vater unter ungeklärten Umständen auf hoher See verschwand - ein Trauma, das sie nie loslassen sollte: »Ich werde niemals herausfinden, was mit meinem Vater geschehen ist, und vielleicht erzähle ich auch deswegen Geschichten, in deren Mittelpunkt Geheimnisse stehen - um sie selbst aufklären zu können.« Julie Parsons studierte in Dublin und arbeitete später als Radio- und TV-Produzentin, bevor sie als Schriftstellerin erfolgreich wurde. Ihr Debüt »Mörderspiel«, auch bekannt unter dem Titel »Mary, Mary«, wurde in 17 Sprachen übersetzt und ein internationaler Bestseller. Julie Parsons lebt heute in der irischen Hafenstadt Dun Laoghaire. Die Autorin im Internet: www.julieparsons.com Bei dotbooks veröffentlichte Julie Parsons ihre psychologischen Thriller »Mörderspiel«, »Todeskälte«, »Giftstachel«, »Eiskönigin«, »Seelengrund« und »Sündenherz«.
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Kapitel 4
Wie betrunken war Nick, als er das Mädchen zum ersten Mal sah? Nicht so stark, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er konnte noch stehen, sich auf einen Barhocker setzen und wieder herunterrutschen. Konnte noch zur Toilette gehen. Und den hellen gelben Urinstrahl noch genau in das fleckige Becken steuern, wobei sich sein Blick in dem verschmierten Spiegel an der graffitibekritzelten Wand mit dem des Mannes neben ihm traf. Er war noch in der Lage, den Reißverschluss hochzuziehen, sich die Hände zu waschen und in die Bar zurückzugehen, um noch etwas zu bestellen.
»Einen Krug Bier für meine Freunde, Barkeeper, bitte, wenn Sie so gut sein könnten«, rief er und wies auf die Typen, die zu beiden Seiten der Bar neben ihm saßen. Er war gerade so betrunken, dass er reden konnte, wenn er sich zusammennahm, und auch betrunken genug, dass er sich benommen und fast glücklich fühlte. So als könnte die Welt sich wieder in einen guten und schönen Ort zurückverwandeln. Wenn auch nur für ein paar kurze Augenblicke.
Und dann sah er das Mädchen. Sie stand auf der viereckigen Bühne, die sich vor der Bar entlangzog. Den ganzen Abend hatten dort Mädchen getanzt, aber er hatte kaum darauf geachtet. Das Bier interessierte ihn mehr. Es war eine viel stärkere Droge als das zur Schau gestellte, nackte Fleisch. Die meisten Mädchen waren nichts Besonderes. So hässlich oder so hübsch wie jeder beliebige Querschnitt der Bevölkerung. Einige waren klein, andere hochgewachsen, manche mollig und einige richtig dürr. Manche hatten schlaffe Brüste, andere hatten mit Silikon so sehr nachgeholfen, dass die Brüste ein Eigenleben führten. Die meisten sahen starr über die Köpfe des Publikums hinweg, wobei ihre Kiefer im Rhythmus der Musik auf dem Kaugummi herumkauten und sie, ohne recht bei der Sache zu sein, ihre Brustwarzen betasteten oder eine Hand zur Scham hinunterwandern ließen. Er war sicher, dass sie dabei an nichts anderes dachten, als was sie zum Abendessen kochen könnten oder wie lange der Babysitter blieb.
Aber es war schon spät. Die Bargäste hatten gewechselt. Die Stadtfremden mit ihren vollen Brieftaschen und ihren an den Reisebussen wartenden Ehefrauen waren gegangen. Diese hier in Grüppchen zusammensitzenden Männer, deren Hände ständig mit Schlüsseln, Zigaretten oder Geld hantierten, kamen aus einer anderen Welt. Genauso wie das Mädchen, das jetzt über ihnen auf der Bühne stand. Nick trat zurück, um sie besser sehen zu können. Ihr Körper war außergewöhnlich schön. Sie war eine erfahrene Tänzerin. Sein Blick wanderte an ihren langen Beinen entlang, über den glatten, runden Bauch zu den kleinen, zarten, hochstehenden Brüsten hinauf. Ihre Haut war weiß. Sie sah unberührt, fast kindlich aus, an der Schwelle zwischen Pubertät und Erwachsenenalter. Er hob sein Glas, nahm einen großen Schluck und betrachtete ihr Gesicht. Eine Maske, die irgendein Tier darstellte, verdeckte ihre Gesichtszüge. Kleine Ohren ragten über ihren Kopf hinaus. Dreieckige Schlitze umrahmten ihre Augen, und eine spitze Schnauze gab ihr ein gefährliches und verschlagenes Aussehen, was überhaupt nicht zur zierlichen Schönheit ihres Körpers passte. Nick fühlte sich plötzlich benommen, als er zu ihr aufblickte. Als er beobachtete, wie sie sich vor ihm auf der Bühne hin und her bewegte, rauschte das Blut in seinen Ohren. Im Raum war ein merkwürdiges Schweigen eingetreten. Alle waren verstummt und sahen dem Mädchen mit der Maske zu. Er drehte sich um, blickte auf die anderen Männer und deren nach oben gewandte Gesichter und fragte sich, was sie wohl empfanden.
Und dann fragte er sich nichts mehr. Die Maske des Mädchens hing bedrohlich nah über ihm. Sie war ihm vertraut und doch so fremd. Er bemerkte, dass sie jetzt in der einen Hand eine Peitsche hielt. Eine Reitpeitsche aus steifem, geöltem Leder. Sie schwang sie über der Menge, kam damit knallend immer näher heran und schlug sich mit einer plötzlichen Bewegung, die ihn vor Überraschung zurückzucken ließ, hart auf den rechten Oberschenkel. Dann wieder auf das linke Bein, und sie drehte sich um und schlug sich auf das Gesäß. Er wäre gern zu ihr hinaufgesprungen, um ihr die Peitsche zu entreißen. Aber alle Männer um ihn herum hatten angefangen zu klatschen und zu johlen. Immer wieder ließ sie die Peitsche knallen, manchmal so scharf, dass er sich duckte und zurückzuckte, dann wieder zog sie sie ganz sanft über ihre Haut, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Männer feuerten sie an, konnten ihre Erregung kaum noch im Zaum halten, und Nick war jetzt einer von ihnen und rief nach mehr. Sie beugte sich zu ihm herunter und ließ die ausgestreckte Peitsche über seinen Kopf weg sausen. Er spürte den Hieb auf seinem Haar und wich zurück.
Und dann hörte die Musik ohne Vorwarnung schlagartig auf, und sie trat vor, beugte ein Knie, machte einen artigen Knicks und riss sich mit einer ausholenden Bewegung die Maske vom Gesicht, ließ sie am Band herunterbaumeln und sich drehen und hielt sie schließlich wie ein Henker einen abgeschlagenen Kopf zum Entzücken der Menge hoch. Er starrte die Maske an und sah, was es war. Ein Fuchs mit halb offener Schnauze und kleinen spitzen, zu einem Grinsen entblößten Zähnen. Er hob den Blick von der Maske zu dem Mädchen. Ihre Haare waren weißblond gefärbt und klebten schweißnass am Kopf. Sie schnappte nach Luft, aber auf ihren zarten Zügen lag ein Ausdruck rauschhaften, triumphierenden Glücks. Mit geradem Rücken parallel zur Bühne stehend knickste sie noch einmal und stellte dabei einen Fuß vor. Eher wie eine Ballett-Tänzerin, nicht wie eine Stripperin, dachte er, als sie den Kopf fast bis zum Boden neigte und die Fuchsmaske nur ein paar Zentimeter über seinem Gesicht baumeln ließ. Als sie dann den Oberkörper zur vollen Größe aufrichtete, sich auf die Zehenspitzen stellte, sich umdrehte und von der Bühne durch das Gedränge am Ende der Bar auf eine Tür zuging, sah er sie genauer.
»Mann.« Der Typ neben Nick hob sein Glas. »Was hältst du davon? Echt 'ne scharfe Schnitte.« Er trank aus und streckte Nick fragend sein Glas entgegen. »Wie wär's, Kumpel? Dasselbe noch mal?«
Aber Nick antwortete nicht. Er spürte den sauren, stechenden Geschmack von Bier und Galle im Rachen, sein Magen hob sich vor Übelkeit, und klebriger Schweiß stieg ihm aus Ekel vor sich selbst übelriechend in die Nase. Plötzlich sah er das Gesicht des Mädchens im Halbdunkel der überfüllten, rauchgeschwängerten Bar ganz klar vor sich. Es war Róisín Goulding, das Mädchen von nebenan. Die Schwester von Chris, Brians und Hilarys Tochter. Sie und ihr Bruder waren viel älter als Owen gewesen. Er war einundzwanzig, sie neunzehn. Sie waren mit Marianne O'Neill, Owens Kindermädchen, befreundet. Sie gingen bei den Cassidys ein und aus. Und Owen war auch oft bei ihnen. Lief ständig hinter ihnen her. Hörte mit ihnen Musik. Kam nach Hause und hatte allerhand Geschichten zu erzählen. Was sie getan hatten, wohin sie gegangen waren, wen sie getroffen hatten. Er bettelte, noch spät mit ihnen unterwegs sein zu dürfen, wenn es schon Nacht war und sie sich im Gartenhäuschen der Gouldings versteckten, um den Fuchs zu beobachten, die Füchsin, die mit ihren Jungen in den Garten kam. Sie schlich im Mondlicht auf den Rasen. »Los, Owen, du bist der Kleinste, da wird sie sich trauen. Geh, Owen, schau mal, ob sie dir aus der Hand frisst, gib ihr einen Keks, ein Stück Brot.« Als Nick im oberen Stockwerk am Fenster stand, fiel das Licht silbrigblau auf Dächer und Bäume und unten auf das helle Haar seines Einzigen, seines Sohnes.
Der weißblonde Schopf des Mädchens huschte jetzt durch die Menge an ihm vorbei. Er begann, sich hinter ihr durchzudrängen, schob die Leute weg, trat auf Zehen und kümmerte sich nicht um Proteste und überschwappende Gläser. Aber die Tür, hinter der er sie hatte verschwinden sehen, war verschlossen. Und als er am Griff riss, ihn zu drehen versuchte und dann die Schulter gegen den Holzrahmen stemmte, packte ihn ein Sicherheitsmann, dessen T-Shirt sich straff über seinem breiten Brustkorb und seinen muskulösen Armen spannte, und zog ihn energisch mit derbem Griff zurück.
»Kommt nicht in Frage, Mann, da kommst du nicht rein. Außer wenn du vorne dafür bezahlt hast und die kleine Lady das in Ordnung findet. Und heute abend hat sie nichts in der Richtung gesagt. Also, reiß dich zusammen, geh zu deinen Freunden zurück, trink noch 'n Bier, sonst ...« Er stieß Nick vor die Brust und grinste, als dieser zurücktaumelte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten.
»Verpiss dich, lass mich in Frieden, nimm deine verdammten Pfoten weg«, sagte Nick, zog sich wieder hoch und merkte plötzlich, dass er nuschelte. »Ich weiß doch, dass sie es ist, es geht in Ordnung. Sie will mich bestimmt sehen. Ich weiß es. Ich sag Ihnen doch, lassen Sie mich rein. Hey«, er trat wieder vor und straffte die Schultern, »hörst du mir überhaupt zu, du Arschloch?« Als der Rausschmeißer warnend einen Finger an die Lippen hielt und dann einen schweren schwarzen Schlagstock von der einen in die andere Hand wandern ließ, wich er schnell wieder zurück. »Na, na, so was wollen wir doch in einem netten Lokal wie diesem hier nicht hören. Sie will Sie nicht sehen, sie will überhaupt niemand sehen, der nicht bezahlt hat. Ich hab dir's erst mal auf die nette Tour gesagt, mein Freund. Wenn ich dir's noch mal sagen muss, wird es beim zweiten Mal nicht mehr so freundlich. Also verschwinde einfach, hol dir an der Bar noch was zu trinken und geh dann nach Haus. Oder anders ausgedrückt: Das Charity Hospital ist gleich zwei Straßen weiter auf der Tulane Avenue. Dort kümmert man sich sehr gut um die Leute. Sogar um solche Arschlöcher wie dich.«
Iberville, Bienville, Conti, St. Louis, Toulouse, St. Arm,...




