Pessoa / Zenith | Baron von Teive | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

Pessoa / Zenith Baron von Teive

Die Erziehung zum Stoiker
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403212-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Erziehung zum Stoiker

E-Book, Deutsch, 112 Seiten

ISBN: 978-3-10-403212-2
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Ricardo Reis - Fernando Pessoa, der größte Dichter Portugals des 20. Jahrhunderts, träumte immer davon, alle Menschen zugleich zu sein. In seinem Werk hat er sich diese Sehnsucht erfüllt: unablässig erschuf er neue Dichter, schenkte ihnen eine Biographie und schrieb ihnen die unterschiedlichsten Werke zu. Die legendäre Truhe, in der man Pessoas Manuskripte lang nach seinem Tod fand, enthält so das größte Stimmentheater der Weltliteratur, dessen Partitur die neue Pessoa-Ausgabe Band für Band enthüllt. Álvaro Coelho de Athayade ist der 20. Baron von Teive und der einzige Selbstmörder im Werk Pessoas. Seine persönliche Chronik ist eine Sammlung negativer Lebenslektionen, und voll Schmerz muss er erkennen, dass er die Bücher, die er schreiben wollte, nicht schreiben kann. Der Text des Halbheteronyms ist eine wichtige Ergänzung zum »Buch der Unruhe«: »Träumen ist besser als sein. Im Traum gelingt alles so mühelos!«

Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem »Buch der Unruhe« bekannt geworden. Einen Großteil seiner Jugend vebrachte er in Durban, Südafrika, bevor er 1905 nach Lissabon zurückkehrte, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos - und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person, jemand« bedeutet.
Pessoa / Zenith Baron von Teive jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


… die Nachsicht mit all meinen – im übrigen fast nichtigen und fast nur im Verlangen nach Einsamkeit bestehenden – Launen und Wünschen.

In der Kindheit nachtragend und rachsüchtig, legte ich mit dem Erwachsenwerden diese kleinliche, weil übertriebene Form der Empfindsamkeit ab. (Ich nehme an, das Erwachen meines abstrakten Denkvermögens war in irgendeiner Weise daran beteiligt.) Doch trage ich sie noch immer in mir, wenn auch anders. Es schmerzt mich noch immer, wenn mir ein Gedanke entfällt, ein Satz, den ich schreiben wollte, wenn ich einen Gesichtspunkt nicht zu Papier bringe. Ich weiß nur zu gut, daß es mir oft nicht gelänge, diesen Entwürfen reale Gestalt zu geben. Zugleich ist eine Eifersucht auf mich selbst in mir, ein Geiz, der mich zum Abstrakten treibt, und ich habe bemerkt, daß Geiz und Rachsucht, vielleicht weil sie beide Erscheinungsformen der Kleinlichkeit sind, miteinander verwandt sind und gleichen Blutes.

Plötzliche Einfälle, trefflich, teils in überaus passenden Worten zum Ausdruck gebracht – doch unzusammenhängend, noch zu verknüpfen, wie Monumente zu errichten; aber ich würde sie nicht wollen, wenn sie die Ästhetik zur Gefährtin hätten und nicht Fragmente einer möglichen Erzählung blieben –, nichts als Zeilen, die wunderbar scheinen, es in Wahrheit aber nur wären, wenn man um sie herum jene Erzählung geschrieben hätte, in der sie ausdrucksvolle Momente waren, synthetische Formulierungen, Verbindungen … Einige Formulierungen waren geistreich, trefflich, doch unverständlich ohne den nie geschriebenen Text.

Ich setze einem Leben ein Ende, das, wie mir schien, voller Glanz hätte sein können, den auch nur zu wollen ich unfähig war. Hatte ich Gewißheit, fiel mir stets ein, daß alle Narren eine noch größere hatten.

Die Sorge um Präzision, das intensive Ringen um Perfektion – weit davon entfernt, zum Handeln anzuregen – sind Charakterzüge, die im Innersten zum Verzicht führen. Träumen ist besser als sein. Im Traum gelingt alles so mühelos!

Tausend Gedanken – jeder einzelne davon ein Poem –, die nutzlos gediehen. So zahlreich, daß ich mich nicht an sie erinnern konnte, als ich sie noch hatte, geschweige denn, als sie mir bereits entglitten waren.

Die kleinen Emotionen sind geblieben. Ein Lufthauch über einem stillen Landstrich fährt mir [?] durch die Seele. Ein musikalischer Windstoß aus einer fernen Alleenphilharmonie ruft Klänge in mir wach, wie keine Symphonie es im entferntesten vermag. Der Anblick einer alten Frau vor ihrer Haustür stimmt mich milde und gütig. Ein Kind, das abgerissen vor mir steht, erleuchtet mich. Mich erfreut ein Spatz, der sich auf einem Leitungsdraht niederläßt, und all dies ist stärker als ich, wie eine unenträtselbare Vision der Wahrheit.

Ich gehöre zu einer Generation – und nehme an, ich bin nicht der einzige –, die zugleich den Glauben an die Götter der alten Religionen und an die der modernen Irreligionen verloren hat. Ich kann weder Jehova noch die Menschheit akzeptieren. Christus und der Fortschritt sind für mich Mythen aus ein und derselben Welt. Ich glaube weder an die Jungfrau Maria noch an die Elektrizität.

Ich bin immer ein millimetergenauer Denker gewesen, habe es peinlich genau mit der Sprache genommen, die ich schreiben, und mit der Abfolge der Gedanken, die ich darlegen wollte.

Der Tod meiner Mutter hat das letzte äußere Band zerrissen, das mich noch mit meiner Empfindungsfähigkeit für das Leben verband. Anfangs war ich benommen – befallen von jener Benommenheit, die einen keine Fehler begehen läßt, aber einer Leere im Gehirn gleichkommt, einer intuitiven Erkenntnis des Nichts. Dann wurde mir der Überdruß zur Seelenangst und erstarrte mir zum Ekel.

Ihre Liebe, die mir, solange sie lebte, nie klar gewesen war, wurde offenbar, als ich sie verlor.

Ich entdeckte – wie man alles Wertvolle erst im Verlust entdeckt –, daß ich Zuneigung brauchte wie die Luft, die man atmet, ohne sie wahrzunehmen.

Ich habe alle Voraussetzungen, um glücklich zu sein, bis auf das Glück. Die Voraussetzungen sind nicht miteinander verbunden.

Ich bin die Reife, René[5] war die Jugend. Nicht die Gattung ändert sich, sondern die Art; das immergleiche Kreisen des Geistes um sich selbst, die immergleiche Unzufriedenheit.

Die Jugend ist ungeachtet ihrer Ängste von einem blinden Drang zum Leben geleitet. Rousseau[6] […], war aber wortführend in Europa. Chateaubriand[7] klagte und träumte und war dennoch Minister. Vigny[8] sah seine Stücke auf der Bühne. Antero[9] predigte den Sozialismus. Leopardi[10] war Philologe[11].

Ich lege meine Feder[12] nieder, ohne sie niederzulegen, und sehe durch das zum nächtlichen Feld hin offene Fenster, wie der Schein des runden, hohen Mondes eine neue Sicht der Dinge sichtbar macht. Wie oft begleitet mich ein solcher Blick durch meine endlosen Meditationen, meine ziellosen Träume, meine wachen Nächte ohne Taten und Worte.

Ich empfinde mein Herz wie ein anorganisches Gewicht.

In ihrem schwarzen Schweigen zeichnen die reglosen Morgenröten sich ab, als gäbe es eine Wahrheit.

Eine rationale Lebensführung ist unmöglich. Der Verstand gibt keine Regeln vor. Und so habe ich begriffen, was sich vielleicht hinter dem Mythos vom Sündenfall verbirgt. Der fürchterliche und tatsächliche Sinn jener Versuchung, der Adam erlag, als er vom sogenannten Baum der Erkenntnis aß, traf das Auge meiner Seele, wie ein Blitz das Auge eines Körpers treffen kann.

Seit es Verstand gibt, ist alles Leben unmöglich.

Mein bewußter Verzicht auf jede metaphysische Spekulation, mein moralischer Ekel vor jeder Systematisierung des Unbekannten rühren nicht, wie bei den meisten, die mit mir übereinstimmen würden, von der Unfähigkeit zu spekulieren. Ich habe darüber nachgedacht, und ich weiß es.

Ich habe vor allem das Fundament für eine Art psychologischer Erkenntnislehre gelegt. Ich habe zu meinem Verständnis der verschiedenen Systeme ein Kriterium geschaffen, das ihre Produzenten analysiert. Ich will damit nicht sagen, ich hätte herausgefunden, daß eine Philosophie schlicht Ausdruck eines Temperaments ist. Darauf, nehme ich an, sind bereits andere vor mir gekommen. Wohl aber habe ich alleine herausgefunden, daß ein Temperament eine Philosophie ist.

Die Selbstbespiegelung eines Individuums im Medium der Literatur und Philosophie habe ich immer für ein Zeichen mangelnden Anstands gehalten. Wer schreibt, bemerkt nicht, daß Schreiben auch Sprechen ist, viele schreiben daher Dinge, die sie nie wagen würden zu sagen. Manche ergehen sich seitenlang in Analysen und Erklärungen ihres Wesens, wohingegen sie sich niemals (zumindest einige von ihnen) erlauben würden, eine Zuhörerschaft, selbst eine ihnen gewogene, mit einem Vortrag über ihre eigene Persönlichkeit zu langweilen.

Pessimismus ist, wie ich habe feststellen können, oft ein Phänomen sexueller Ablehnung. So auch eindeutig bei Leopardi und Antero. Ein System, das auf persönlichen sexuellen Phänomenen beruht, kann ich nur für erbarmungslos vulgär und schmutzig halten. Alle vulgären Menschen müssen sich einen deutlich sexuellen Anstrich geben; er zeichnet sie gewissermaßen aus. Sie können keinen Witz ohne eine sexuelle Anspielung machen, sind unfähig, auch nur ein geistreiches Wort außerhalb eines sexuellen Kontextes zu äußern. Alle Paare müssen in ihren Augen einen sexuellen Grund haben, Paar zu sein.

Was aber hat das System des Universums mit den sexuellen Unzulänglichkeiten des einen oder anderen zu tun?

Ich weiß sehr wohl, daß ich mich auf diesen Seiten gegen ebendas Prinzip wende, das ich ihnen zugrunde lege. Aber sie sind ein Testament, und in einem Testament ist derjenige, der es verfaßt, gezwungen, von sich selbst zu sprechen. Sterbende haben Anspruch auf eine gewisse Toleranz, und diese Worte sind die eines Sterbenden.

Nicht in unserem Individualismus liegt das Übel, sondern in seiner Beschaffenheit; er ist statisch statt dynamisch. Nicht von dem, was wir denken, hängt unser Wert für uns ab, sondern von dem, was wir tun. Wir vergessen, daß das, was wir nicht getan haben, wir auch nicht gewesen sind, daß die erste Funktion im Leben die Aktion ist, ebenso wie der erste Aspekt der Dinge die Bewegung.

Wir messen unseren Gedanken einzig Bedeutung bei, weil wir sie gedacht haben, wir halten uns nicht, wie der Grieche[13] sagte, für »das Maß aller Dinge«, sondern für deren Regel oder Richtschnur; so schaffen wir in uns nicht eine Interpretation, sondern eine Kritik des Universums – das wir nicht kritisieren können, da wir es nicht kennen –, die Schwächsten und Gestörtesten unter uns aber erheben diese Kritik zu einer Interpretation – einer Interpretation, die einer Halluzination gleichkommt, nicht durch Deduktion, sondern durch simple Induktion. Es handelt sich um eine Halluzination im eigentlichen Sinne, das heißt, um eine aus einer falsch verstandenen Tatsache heraus entstandene Illusion.

Ist der moderne Mensch unglücklich, ist er Pessimist.

Es ist schändlich und erniedrigend, wenn wir unsere Kümmernisse auf das gesamte Universum übertragen; und es ist erbärmlich...


Koebel, Inés
Inés Koebel, geboren in Bamberg, arbeitete als Buchhändlerin und freie Feature Autorin. Sie übersetzt aus dem Französischen und Portugiesischen, hat den Band ›Brasilien erzählt‹ (S.Fischer 1994) ediert und ist Mitherausgeberin der neuen Pessoa-Werkausgabe, zuletzt erschien von ihr der Band ›Er selbst‹. Neben dem ›Buch der Unruhe‹ hat sie die Gedichte von Álvaro de Campos, Alberto Caeiro und Ricardo Reis übertragen sowie Baron von Teive und Pessoas statisches Drama ›Der Seemann‹.

Pessoa, Fernando
Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem 'Buch der Unruhe' bekannt geworden. Einen Großteil seiner Jugend vebrachte er in Durban, Südafrika, bevor er 1905 nach Lissabon zurückkehrte, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos – und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie 'Person, jemand' bedeutet.

Fernando PessoaFernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem 'Buch der Unruhe' bekannt geworden. Einen Großteil seiner Jugend vebrachte er in Durban, Südafrika, bevor er 1905 nach Lissabon zurückkehrte, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos – und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie 'Person, jemand' bedeutet.
Inés KoebelInés Koebel, geboren in Bamberg, arbeitete als Buchhändlerin und freie Feature Autorin. Sie übersetzt aus dem Französischen und Portugiesischen, hat den Band ›Brasilien erzählt‹ (S.Fischer 1994) ediert und ist Mitherausgeberin der neuen Pessoa-Werkausgabe, zuletzt erschien von ihr der Band ›Er selbst‹. Neben dem ›Buch der Unruhe‹ hat sie die Gedichte von Álvaro de Campos, Alberto Caeiro und Ricardo Reis übertragen sowie Baron von Teive und Pessoas statisches Drama ›Der Seemann‹.

Fernando Pessoa (1888-1935), der bedeutendste moderne Dichter Portugals, ist auch bei uns mit dem »Buch der Unruhe« bekannt geworden. Einen Großteil seiner Jugend vebrachte er in Durban, Südafrika, bevor er 1905 nach Lissabon zurückkehrte, wo er als Handelskorrespondent arbeitete und sich nebenher dem Schreiben widmete. 1912 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker und Essayist. Er schuf nicht nur Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, sondern Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme, darunter Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Álvaro de Campos – und er schrieb eben auch als Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie »Person, jemand« bedeutet.

Inés Koebel, geboren in Bamberg, arbeitete als Buchhändlerin und freie Feature Autorin. Sie übersetzt aus dem Französischen und Portugiesischen, hat den Band ›Brasilien erzählt‹ (S.Fischer 1994) ediert und ist Mitherausgeberin der neuen Pessoa-Werkausgabe, zuletzt erschien von ihr der Band ›Er selbst‹ . Neben dem ›Buch der Unruhe‹ hat sie die Gedichte von Álvaro de Campos, Alberto Caeiro und Ricardo Reis übertragen sowie Baron von Teive und Pessoas statisches Drama ›Der Seemann‹.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.