Petraschka / Descher | Argumentieren in der Literaturwissenschaft. Eine Einführung | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

Petraschka / Descher Argumentieren in der Literaturwissenschaft. Eine Einführung

Descher, Stefan - Petraschka, Thomas - Praxistipps, Ratgeber
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-15-962496-9
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Descher, Stefan - Petraschka, Thomas - Praxistipps, Ratgeber

E-Book, Deutsch, 200 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

ISBN: 978-3-15-962496-9
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
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Erfolg im literaturwissenschaftlichen Studium durch überzeugendes Interpretieren! Wie begründet man die Interpretation eines literarischen Texts? Antworten auf diese Frage geben zu können, ist entscheidend für den Studienerfolg in allen literaturwissenschaftlichen Fächern. Praxisnah und anschaulich erklärt die vorliegende Einführung u. a., welche Formen des Argumentierens es gibt, was gutes Argumentieren für Interpretationen auszeichnet und wie man Argumente sprachlich darstellt. Zudem wird in den argumentativen Umgang mit Forschungsliteratur eingeführt und anhand von vielen Beispielen aus studentischen Hausarbeiten und literaturwissenschaftlichen Interpretationen erläutert, wie gutes Argumentieren in der konkreten Schreibpraxis aussehen kann. - Argumentationstechniken und -methoden verständlich erklärt - Mit wertvollen Praxistipps - Für Studierende der Germanistik sowie anderer Fachrichtungen mit literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt »Stefan Descher und Thomas Petraschka geben die im Untertitel versprochene ?Einführung? in Grundlagen des Argumentierens mit großer begrifflicher Präzision, analytischer Sorgfalt und in einem angenehm unprätentiösen Ton.« Kathrin Kazmaier, Lichtenberg- Jahrbuch

Thomas Petraschka, geb. 1982, ist Akademischer Rat (Neuere deutsche Literaturwissenschaft) an der Universität Regensburg.
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[68]Induktiver Argumenttyp 3: Expertenargumente


Ein weiterer Typ von induktiven Argumenten ist das Expertenargument. Bei Expertenargumenten wird eine These bzw. Konklusion dadurch begründet, dass ein Experte oder eine Expertengruppe eben diese These vertritt. Dieser Argumenttyp wird häufig da eingesetzt, wo man eine Konklusion z. B. aus Zeit- oder anderen Gründen nicht selbst stützen kann und sich daher auf das Wissen relevanter Experten verlässt wie im folgenden Beispiel:

  • P1:

    97 % aller Klimaforscher sind davon überzeugt, dass der Klimawandel zum großen Teil menschengemacht ist.

  • K:

    Also ist der Klimawandel zum großen Teil menschengemacht.

Wie dieses Beispiel deutlich macht, kann es grundsätzlich legitim sein, Expertenargumente zu verwenden: Wenn unter Experten für ein bestimmtes Gebiet fast vollständiger Konsens herrscht, dann ist es durchaus vernünftig, sich auf deren Meinung zu verlassen. Natürlich wäre es gut, die Konklusion selbst zu überprüfen. Aber dafür bräuchten wir viel Zeit und andere Ressourcen, die nicht immer zur Verfügung stehen.

Expertenargumente wie das Klima-Argument haben folgendes Argumentschema:

  • P1:

    Experte(ngruppe) E ist der Auffassung, dass .

  • K:

    Also: .

Auch in der Literaturwissenschaft kommen Expertenargumente nach diesem Muster immer wieder zum Einsatz. Denken Sie [69]z. B. an Sätze wie diesen: »Schon Harald Weinrich hat gesagt, dass in Brechts Gedicht metaphorisch die Situation eines Exilanten beschrieben wird.« Die These, dass in Brechts Gedicht metaphorisch die Situation eines Exilanten beschrieben wird, wird hier durch den Hinweis darauf begründet, dass ein Experte für Literatur (Harald Weinrich ist ein bekannter und renommierter Literaturwissenschaftler) diese These vertreten hat. Wie bei unserem Klima-Argument kann auch nicht nur von Experten, sondern von einer ganzen Expertengruppe die Rede sein, z. B. so: »Die literaturwissenschaftliche Forschung hat festgestellt, dass in Brechts Gedicht metaphorisch die Situation eines Exilanten beschrieben wird.« Gerade Fälle der letzteren Art, bei denen man sich auf einen (vermeintlichen oder echten) Konsens unter Experten beruft, tauchen in literaturwissenschaftlichen Interpretationen immer wieder einmal auf.

Wie Sie vielleicht schon vermuten, bringt dieser Argumenttyp einige Probleme mit sich. Daher möchten wir uns etwas ausführlicher dazu äußern, was man bei seinem Gebrauch beachten sollte. Denn gerade in der Wissenschaft kann es natürlich sehr problematisch sein, sich nur auf das zu verlassen, was andere denken und sagen. Nur weil jemand etwas sagt oder von etwas überzeugt ist, muss es ja nicht gleich richtig sein – und zwar selbst dann nicht, wenn es sich um einen echten Experten, z. B. einen renommierten Literaturwissenschaftler handelt. Expertenargumente werden oft auch als ›Autoritätsargumente‹ bezeichnet, weil man sich in solchen Fällen auf die Meinungen anderer Personen beruft und diese Personen dabei als Autoritäten in bestimmten Sachfragen behandelt. Wir vermeiden diesen Begriff hier aber, weil er unnötige negative Nebenklänge mit sich bringt: ›Autorität‹ klingt nach Zwang, Dogmen und blindem Gehorsam. Das wäre mit der Wissenschaft unvereinbar.

[70]Expertenargumente sind tatsächlich mit Vorsicht zu behandeln. Wie das Klimawandel-Beispiel zeigt, müssen sie aber nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Sie können durchaus sinnvoll und manchmal sogar unvermeidbar sein. Sinnvoll bzw. ›rational akzeptabel‹ können sie sein, wenn das Vertrauen in die Expertenmeinung nicht blind ist und sich eben nicht auf Autoritätsgläubigkeit, Zwang, Dogmen und Gehorsam, sondern auf Einsicht gründet: Manchmal ist es eine gute Idee, der Meinung von Experten zu vertrauen – dann nämlich, wenn sie tatsächlich die nötige ›Expertise‹ mitbringen.

Alltagsbeispiele können das klarmachen. Denken Sie etwa an die Diagnose eines Radiologen oder die Vorhersage einer Sonnenfinsternis durch Astronomen: Wenn Ihnen ein Radiologe aufgrund eines Röntgenbilds sagt, dass Sie sich den Arm gebrochen haben, dann dürfen Sie begründet der Meinung sein, dass Sie sich tatsächlich den Arm gebrochen haben – und zwar auch dann, wenn Sie selbst auf dem Röntgenbild nur unverständliche Flecken erkennen können. Und wir können sicher sein, dass am 12. August 2026 tatsächlich eine Sonnenfinsternis in Island zu sehen sein wird, wenn Astronomen das vorhersagen, auch wenn wir selbst nur mit viel Aufwand eigene Messungen und Berechnungen anstellen können, um das zu überprüfen. Und haben Sie schon einmal selbst überprüft, ob der Klimawandel wirklich durch den Menschen beeinflusst wird? Auch hier verlassen wir uns völlig zu Recht auf das, was 97 % aller Klimaforscher sagen. Zweifel an Expertenmeinungen ist selbstverständlich immer möglich – aber nicht immer sinnvoll.

Wie gesagt: Expertenargumente sind manchmal kaum zu vermeiden, etwa wenn uns die Zeit, die Ressourcen oder die Fertigkeiten fehlen, um diese oder jene Auffassung selbst zu überprüfen. Auch die Literaturwissenschaft ist in vielen Fällen eine Art Mannschaftssport, in dem man nicht allein unterwegs [71]ist, sondern auf den Erkenntnissen anderer Forscher aufbaut und auch aufbauen  – denken Sie z. B. an das Wissen, das Sie aus Literaturgeschichten oder Lexika gewinnen können. Da wir nicht immer alles selbst begründen können, sind Expertenargumente manchmal gute argumentative ›Abkürzungen‹.

Damit das Vertrauen in Expertenmeinungen nicht blind ist und Expertenargumente tatsächlich rational akzeptabel sein können, müssen aber bestimmte Bedingungen erfüllt sein. So muss es sich bei dem Experten z. B. um einen Experten handeln: Ein Zahnarzt ist natürlich ein Experte auf dem Gebiet der Zahnheilkunde, aber wenn man etwas über die Gedichte Philipp von Zesens (1619–1689) wissen will, vertraut man wohl eher einer Spezialistin für Barocklyrik. Der Experte muss zudem zu seiner Auffassung gekommen sein, also nicht durch Kaffeesatzlesen oder mystische Offenbarung, sondern durch verlässliche und methodisch geleitete Forschung. Insofern muss sich seine Auffassung auch zumindest lassen. Und schließlich verlangt ein rational akzeptables Expertenargument auch, dass der Experte eine Position vertritt, die weitgehend von anderen Experten geteilt wird und daher ist.

Selbst wenn all diese Bedingungen erfüllt sind, muss man – wie bei allen induktiven Argumenten – trotzdem noch damit rechnen, dass die Konklusion falsch sein kann. Selbst die größten Experten können sich täuschen und die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Irrtümern auch der anerkanntesten Forscher.

Auch für die Literaturinterpretation gilt also: Expertenargumente sind heikel und sollten nur dann verwendet werden, wenn sie den eben erwähnten Ansprüchen genügen. Aber in bestimmten Situationen und wenn die erwähnten Bedingungen erfüllt sind, müssen sie nicht grundsätzlich schlecht sein. [72]Das kann man sich abschließend an folgendem Beispiel klar machen. Stellen Sie sich vor, Sie möchten eine Hausarbeit über ein Gedicht Joseph von Eichendorffs schreiben, in dem von einem Wald die Rede ist. Für Ihre Hausarbeit könnte es nun sinnvoll sein, sich darüber zu informieren, was das Motiv des Waldes bei Eichendorff typischerweise bedeuten kann bzw. was es konnotiert. Hier werden Sie in der Regel nicht das Gesamtwerk Eichendorffs untersuchen, was mit extrem viel Aufwand verbunden wäre, sondern Sie greifen auf bestehende Forschungsergebnisse zurück. Sie lesen z. B. den Aufsatz einer Literaturwissenschaftlerin, die eine exzellente Eichendorff-Kennerin ist und die Bedeutung des Waldes im Gesamtwerk Eichendorffs gründlich untersucht hat. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass die Expertin zur Auffassung gekommen ist, dass der Wald bei Eichendorff oft mit Einsamkeit konnotiert ist. Wenn Sie nun in Ihrer Hausarbeit schreiben »Wie die Analysen von Literaturwissenschaftlerin X gezeigt haben, ist der Wald bei Eichendorff oft mit Einsamkeit konnotiert«, dann geben Sie damit zu verstehen, dass Sie eine bestimmte These akzeptieren, die besagte Eichendorff-Expertin eben diese These vertreten hat. Man kann das nach unserem Argumentschema für Expertenargumente so rekonstruieren:

  • P1:

    Die Eichendorff-Expertin X ist der Auffassung, dass der Wald in der Dichtung Eichendorffs oft ein mit Einsamkeit konnotierter Ort ist.

  • K:

    Also ist der Wald in der Dichtung Eichendorffs oft ein mit Einsamkeit konnotierter Ort.

Um zu beurteilen, wie gut die Konklusion in diesem Argument gestützt wird, müssen wir prüfen, ob die oben genannten Bedingungen erfüllt sind: In unserem Beispiel ist X tatsächlich eine Expertin, nämlich eine [73]Literaturwissenschaftlerin und Eichendorff-Kennerin. Sie ist zu ihrer Einschätzung gekommen, weil sie das Gesamtwerk Eichendorffs gründlich untersucht hat. Mit viel Zeit und Aufwand könnten wir ihre Erkenntnisse sogar...



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