Pickar | In den Spiegeln - Teil 1 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 115 Seiten

Pickar In den Spiegeln - Teil 1

Das Haus der Kraniche
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-9815154-0-4
Verlag: Anna macht Urlaub
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Das Haus der Kraniche

E-Book, Deutsch, 115 Seiten

ISBN: 978-3-9815154-0-4
Verlag: Anna macht Urlaub
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



'In den Spiegeln' ist eine ironische, unterhaltsame und zugleich mysteriöse Geschichte über die Erlebnisse des jungen Jan-Marek Kámen. Der Sohn böhmischer Einwanderer lebt arbeitslos und zumeist bekifft in einer kleinen schäbigen Wohnungen in München. Er wird von obskuren Alpträumen geplagt und sein einziger Besitz ist eine umfangreiche Comicsammlung. Als er in ein Mietshaus im Westend umzieht, lernt er Manzio kennen, den anderen schrägen Charakter im Haus. Die beiden freunden sich schnell an, denn sie verbindet nicht nur die Passion für Cannabis sondern auch ein zynischer, abweisender Blick auf ihre Väter und die Welt, in die sie sich unfreiwillig geworfen fühlen. Mit der Zeit erwecken der seltsame Hausmeister und seine chinesische Ehefrau das Interesse der beiden jungen Männer. Durch sie entdecken die beiden Freunde im Keller des Mietshauses ein unbegreifliches Geheimnis.

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1.03 Claustrophilia   Nero, der Hund, war damals gestorben. Es geschah noch in derselben Nacht, nach unserem Gruppenausflug. Er hatte sich an der toten Ratte vergiftet. Irgendjemand meinte, dass solche Dinge einfach passieren. Mein Schulfreund Jirka, dem der Hund gehört hatte, saß tagelang stumm in seiner Bank und starrte ausgebrannt auf die Tafel. Wir anderen verstanden nicht wirklich, was in ihm vorging. Verlust kann erfahren, nicht erklärt werden. Sechs Tage später, samstagabends, stand ich erneut vor dem Kanaldeckel. Doch diesmal war ich allein. Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich müde über dem Horizont und die westlichen Fenster der sonst grauen, tristen Hochhäuser verwandelten sich in unzählige goldene Spiegel, die das Viertel in ein rostiges, warmes Licht tauchten. Es war mir zuerst nicht möglich, den Deckel zu bewegen. Ich sah mich nach einer Metallstange um und versuchte es erneut mit Hilfe der Hebelwirkung. Es funktionierte. Ich hatte nach einer zehnminütigen schweißtreibenden Arbeit das eiserne Rad ein wenig beiseitegeschoben. Nun zwängte ich mich hastig in den Spalt hinein, denn ich wollte nicht, dass im letzten Augenblick ein pflichtbewusster Rentner beim Abendspaziergang meinen Plan vereitelte. Unter der Erde hatte mein Vater das Sagen. Während hier im Norden der Stadt die Betonriesen wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schossen, baute er dazu die unterirdischen Kanäle und Rohrleitungen. Er erschuf den Rachen der Stadt, seine Gedärme. Er holte Leitungswasser hinein und leitete das Abwasser hinaus. Er verlegte elektrische Leitungen und baute Wartungsschächte. Ich habe ihn stets beneidet um diese täglichen Abenteuer. Mit einem gelben Schutzhelm auf dem Kopf konnte er sich hier stundenlang aufhalten und nach Belieben durch die endlos wirkenden Gänge spazieren. Seine Arbeiter waren ein seltsames, gemischtes Volk — das erkannte ich schon als Kind. Es waren sogar einige Physiker und Chirurgen darunter. Männer, die während der Normalisation nicht bereit gewesen waren, ein Parteibuch zu beantragen oder irgendwann, irgendwo eine falsche Bemerkung über Mutter Partei gemacht hatten. Und Mütter schätzen keine Kritik. Hier schickte man sie tagtäglich mit den raubeinigsten Trinkern auf den Bau, damit auch sie nach einer Weile raubeinige Trinker wurden und die Welt der Lichtpartikel und Nervenzellen ihnen wie ein ferner, absurder Traum erschien. Im Gang angelangt, schaltete ich meine Taschenlampe ein und ging bedächtig los. Was wollte ich hier? Was trieb mich hinab in die Finsternis? Vielleicht die Lust an einem kleinen Geheimnis, die junge Knaben seit Menschengedenken in Schwierigkeiten bringt. Vielleicht ein Trieb. Perversion... Das Abenteuer, in die Innereien der Stadt hineinzuklettern. Schon als Fünfjähriger hatte ich fasziniert Geschichten über Jonas im Bauch des Wals gelauscht, oder gar von Baron Münchhausen, der ein ganzes Schiff in den Verdauungstrakt eines Wals steuerte. Etwas in mir verstand vom ersten Tag an, dass man zuerst verschlungen werden muss, um einen Weg hinaus zu finden. Vielleicht wollte ich einfach nur mehr über meinen Vater erfahren. Er nahm sich zunehmend weniger Zeit für seine Familie. Nach Hause kam er meistens, wenn ich schon schlief. Oft tauchte er tagelang gar nicht auf. Mutter erzählte mir, das sei wegen der verstärkten Bauplanung in der Stadt, die ihn von uns fernhielt. Sie wirkte nicht sehr traurig, als sie mir das sagte. Außer Frage stand jedoch, dass mich mein Vater angesichts meiner unterirdischen Aktivitäten zu Hackfleisch verarbeitet hätte. Feine Staubpartikel schwebten und irisierten in dem nun einsa men Lichtstrahl meiner Lampe und nach hundert Metern hatte ich die bereits beschriebene Biegung erreicht. Selbstbewusst ging ich weiter, doch nach weniger als hundert Schritten blieb ich stehen. Die Luft atmete sich gut, und ein weiterer kindlicher Aberglaube wurde widerlegt. Es konnte sich nur um eine Geschichte handeln, die uns Erwachsene eingeflüstert hatten. Jedes Kind sollte zuhause über die Jahre hinweg eine große Liste führen. Auf der einen Seite sollte es Striche machen für jede Wahrheit, die es von seinen Eltern zu hören bekommt, und auf der anderen Seite für jede Lüge. Für die Lügen sollte es allerdings deutlich mehr Platz auf der Liste einplanen. Ich horchte an der großen Wasserleitung und stellte erstaunt fest, dass sie diesmal rauschte und plätscherte. Ich legte mich bäuchlings auf das Rohr und streckte mich aus. Meine Taschenlampe schaltete ich aus, denn ich wollte die Dunkelheit spüren. Erst jetzt, in einem Zustand absoluter Ruhe fühlte ich die feine Vibration der Wasserleitung. Die Wassermasse, die dort unter meinem Leib vorbeiströmte, ergriff mich. Ich wollte dazugehören und in einer psychedelischen Jagd durch die Gänge rasen, immer schneller, vorbei an Filtern, Gittern und Turbinen, bis zu der Stelle, wo das Wasser sich in die Moldau ergoss. Rasch richtete ich mich auf, um mein Hemd auszuziehen. Ich fröstelte, doch ich wollte es genau wissen. Tief atmete ich den Geruch der feuchten Wände ein, das Fluidum einer geheimnisvollen Welt, und ergötzte mich an dieser maßlosen, unerschöpflichen Freiheit des Handelns und Fühlens. Ich streckte die Arme aus, als wäre ich ein Flugzeug, und ließ mich von meiner Phantasie durch die tropische Nacht tragen. Die Motoren brummten sanft unter meinem Brustkorb. Links unten Jakarta und schon bald vor uns: Singapur. Ich schloss die Augen. Nach einer Weile stand ich wieder auf und ging weiter durch den Tunnel. Ich glitt geradezu entlang der Wasserrohre. Der Gang endete in einem Raum, vielmehr in einer großen Nische, in der einige schwere Maschinen standen. Ich blieb dort stehen und leuchtete die raue Betonwand entlang. Plötzlich fingen meine Ohren ein entferntes Geräusch ein. Ich zuckte zusammen und sank instinktiv auf die Knie. Hektisch tastet ich am Gehäuse der Taschenlampe, bis es mir gelang, sie auszuschalten. Ich konnte nur noch lauschen, vorbei an meinem pochenden Herz und meinem Atem. Da war es wieder. Es waren Stimmen, ferne Schreie. Auf eine seltsame Art weinerlich und roh. Ich knipste das Licht wieder an und orientierte mich. Die Stimmen kamen aus einer Abzweigung, die sich zu meiner Linken befand. Ich sah mich um, blickte zurück in die dunkle Tiefe des Gangs hinter mir und dachte an das einzig Richtige: zurückzugehen. Doch diese Welt besteht nicht aus den Früchten richtiger und braver Entscheidungen. Sie ist durchgerüttelt von unlogischem Verhalten und unerklärbaren Zwängen. Und so sah ich wieder nach vorne und begann meinen langsamen Gang auf den Ärger zu. Nach zehn Metern schaltete ich die Taschenlampe aus und schlich nur noch blind weiter. Meine rechte Hand glitt dabei über die grobe Wand, als versuchte sie, meine Augen zu ersetzen. Die Stimmen wurden immer lauter. Ich begann zu verstehen, dass sie nicht in meiner Sprache redeten. Es hörte sich wie Deutsch an, doch das sprach ich damals noch nicht. Ich erreichte eine weitere Kreuzung und blickte vorsichtig um die Ecke. Nur wenige Meter entfernt sah ich zwei Männer im Schein eines rostigen Lichts. Der eine war an ein dünnes und endlos erscheinendes Rohr gekettet, das unter der Decke angebracht war. Er hing in seinen Fesseln und über sein Gesicht strömte Blut. Er hustete trocken, während sich der Speichel auf seiner Unterlippe zu langen Fäden verband und vor seine Füße tropfte. Der andere schwieg in diesem Augenblick. Er ging nachdenklich in diesen engen Katakomben auf und ab, als würde er seinen nächsten Schritt überlegen. Dann sah er kurz hoch zu dem Gefangenen und rief ihm halbleise etwas zu, das ich nicht verstand. Der Hängende röchelte und schluckte schwer. Der andere drehte sich nun vollständig um und ließ mich dadurch sein Gesicht sehen. Er besaß dichte Augenbrauen, unter denen graue, starre Augen leuchteten, und kantige Lippen. Er wirkte unausgeschlafen und gereizt. Gegen den kalten Betonstein gedrückt, bemerkte ich, dass mein Herz wie eine Lokomotive pochte. Der Mann sprach nun ganz leise, als erklärte er dem Hängenden schüchtern seine Gefühle. Dann plötzlich lief eine Welle des Zornes über sein Gesicht. Er trat auf den Gefangenen zu und ich sah etwas in seiner Hand aufblitzen. Der Hängende kreischte los, während der wütende Mann sich an einer der beiden, am Rohr befestigten Hände zu schaffen machte. Nur Augenblicke später hielt er dem heulenden Kerl seinen eigenen Finger unter die Nase. Unkontrolliert warf ich mich zurück um die Ecke und saß dort starr im Dunkeln, während ich die Hand auf meinen Mund presste. Aus der Finsternis drangen Schreie zu mir, immer lauter und immer scheußlicher. Ich versuchte, meinen Arm um den Kopf zu legen, um so die Ohren zu verschließen. Doch ich konnte die unverständlichen Sätze des Folternden nicht überhören. Sie brannten sich in mein Gedächtnis ein, wie die Inschrift auf einem Grabstein: »Fila vidakóme? Fila vidakóme?« Dann wurde es still. Meine Augen waren noch immer zusammengepresst und meine Arme um den Kopf gefaltet. Nur langsam hob ich meine Augenlider und senkte meine Ellbogen. Er stand über mir. In seiner Hand hielt er eine elektrische Laterne, mit der er in mein Gesicht zielte. Ich saß starr und zitterte wie ein in die Ecke gedrängtes Kaninchen. Sein zweiter Arm tauchte aus dem Licht und griff nach meinem Hemd. Mühelos hob er mich auf und stellte mich auf die Beine. Ich strauchelte, doch sein fester Griff wanderte zu meinem Kragen und hielt mich wie eine Holzpuppe auf den Beinen. Ich spürte eine heiße Flüssigkeit entlang meiner Oberschenkel rinnen. Er führte mich an meiner Hand wie ein Opferlamm um die Ecke. Dort hing...



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