E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Pieper Über die Liebe
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-13760-1
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-641-13760-1
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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VORWORT
Quellen und Horizont von Piepers Denken
Begonnen sei mit einer Anekdote: Im Jahr 1994, als Josef Pieper seinen 90. Geburtstag feierte, fand in Münster ein großes Symposium statt, zu dem ich mit einigen Dresdner Studierenden fuhr. Angekündigt war ein Vortrag Piepers selbst zur Liebe als einer Form der platonischen mania. Als der 90-Jährige den Saal betrat, gestützt auf den Arm von Freunden, und gebrechlich zum Katheder ging, sagte einer der Dresdner Studenten neben mir mit einem (verbotenen) Witz der alten DDR: »Das Politbüro wird hereingetragen.« Und es war ja fast auch lächerlich, von einem Greis einen Vortrag über die Ekstase der Liebe zu hören. Pieper hielt seinen Vortrag. Und nach dem Vortrag brach unter den Studenten schiere Bewunderung aus. Man hatte Alter und Gebrechlichkeit vergessen vor der kraftvollen Stimme, dem Schwung, der spürbaren Geistigkeit dieses Mannes.
Josef Pieper (1904–1997) stellte in der deutschsprachigen Philosophie eine Ausnahmeerscheinung dar. Als Zeitgenosse fast des ganzen 20. Jahrhunderts kannte er viele Strömungen, gehörte aber weder dem Neukantianismus noch der Phänomenologie, weder dem Neuthomismus noch der Existenzphilosophie oder später der analytischen Philosophie an. Vielmehr entwickelte Pieper eine »Philosophische Anthropologie« – so der Titel seiner Münsteraner Professur –, in der er aufgrund profunder Kenntnis der antiken und mittelalterlichen Philosophie Platon, Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin für die Gegenwart fruchtbar machte. Weniger bekannt ist, dass Pieper auch Aufklärung (Kant) und Deutschen Idealismus (Schelling) kritisch verarbeitete und seine Thesen von zeitgenössischen, auch soziologischen Konzepten (Heidegger, Sartre, Gadamer, Gehlen) konstruktiv absetzte. Als Anreger seines Denkens können Erich Przywara, aber auch Romano Guardini und Stanislaus von Dunin-Borkowski gelten.
Bemerkenswerterweise begann Pieper selbst als Theoretiker von Soziologie und Sozialphilosophie1, bis ihm das Dritte Reich den Boden des Arbeitens weitgehend entzog. Seine sozialphilosophische Reflexion lässt sich auch immer wieder in den späteren Abhandlungen zu Tugenden finden.
In der Mitte der kardinalen und der göttlichen Tugenden: die Liebe
Wie folgerichtig Pieper seine Erkundungen des »Guten« anlegt, zeigt sich in seinem Durchgang durch die gesamte klassische Tugendlehre, die nichts anderes meint als das Ethos menschlicher Haltungen und Kräfte im Blick auf die Wirklichkeit. Ethos heißt wörtlich »Weidezaun«, wie überhaupt viele griechische Begriffe aus der Bauern- und Fischersprache stammen. Im Ethos, im Weidezaun, bleibt die Herde in Schutz, außerhalb herrschen Verwirrung und Bedrohung. Das Ethos schafft also den Raum einer Wirklichkeit, worin sich leben lässt; es markiert die Grenze zum Unbestehbaren, schützt vor der Auflösung des Wirklichen durch die Lüge, die in etwas Unwirkliches leitet. Zu solchen Zerstörungen führen auch Extreme, und es gibt sie sogar, ja gerade dort, im Bereich der Liebe oder der falsch verstandenen Verpflichtung zur Liebe.
»Das Gute ist das Wirklichkeitsgemäße«2, lautete die den jungen Pieper ergreifende, bis ins Tiefste treffende Formulierung Romano Guardinis (1885–1968) auf Burg Rothenfels. Das Gute ist das Maß und das Maßvolle, worin der Mensch leben kann, worin Wirklichkeit Gestalt gewinnt. Nach dem Viergespann3 der Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß unternahm Pieper die Deutung der Dreiheit von Glaube, Hoffnung und Liebe, die in der klassischen Überlieferung die göttlichen Tugenden heißen, weil sie den Menschen an die Gottheit heranführen, indem sie ihn »göttlich« zu leben lehren. All diese Freilegungen entbehren jedes frömmelnden Untertons, wie überhaupt Piepers Sprache sowohl nüchtern wie zugleich immer wieder überraschend vom »Flügelschlag des Geistes« bewegt ist.
Mit der Untersuchung Über die Liebe von 1972 traf es erneut zu, dass Pieper kritisch, wach, klärend in eine Zeit hineinsprach, die in Sprache und Verhalten vom Eros zur forcierten Sexualität wechselte – ein Umsturz, der bis zum heutigen Tag andauert und die Neuauflage des Buches 2014 sinnvoll macht. Was Pieper an intellektuellen Missverständnissen und gewalttätigem Umgang mit der Liebe aufzeigt, wie er an die Diagnose ein therapeutisches Erhellen und Umdenken anschließt, kurz wie er in die Freiheit des richtigen Liebens führt, kann in zehn meisterhaften Kapiteln mitvollzogen werden. Nach 40 Jahren sexueller Revolution wirkt die Analyse taufrisch, umfassend, wirklichkeitsnah.
Wesensbestimmung von Liebe
Sprachliche Unterscheidungen, sachliche Einheit
Der erste Schritt des Nachdenkens lautet: Was ist Liebe? Als Zentralgebot des Christentums schließt diese Liebe ja auch das Verhalten zum Nächsten ein, der als Bild Christi wahrgenommen werden soll. Um aber keinen Verwechslungen aufzusitzen, muss der vielgefächerte Charakter der Liebe deutlich werden.
Der souveräne Umgang mit dem verflochtenen, übergroßen, weitverzweigten Thema liegt an der merklichen Freude des Autors an gedanklichen Herausforderungen. Sie mitzudenken wird zum reichen Gewinn. Denn das Übergroße wird nicht kleingeredet, verengt, ins Einseitig-Handliche gezwängt, sondern der Horizont tut sich immer größer auf, wächst im Fortgang in die Höhe wie in die Breite – denn nicht allein das Erotisch-Sexuelle, das Bedürfen und Begehren kommen zu Wort, auch die Liebe zum Kind, zum Freund, zum Schönen, zu Gott – und zum eigenen Selbst. So gibt es die zentrale Unterscheidung von eros (dem Begehren, Habenwollen) und agape (dem Uneigennützigen, Bewundern, Seinlassen) und einer dritten Spielform, der philia, der Freundschaft in der Spannung auf ein drittes, gemeinsam Geliebtes; im Lateinischen lauten die Begriffe: amor, caritas und amicitia.
Und bei all den so unterschiedlichen Weisen der Spannung auf das Gesuchte, Ersehnte hin fließen die vielen Gewässer des Liebens doch am Ende in einen Strom zusammen, sodass sich die angebliche »Armut« der deutschen Sprache, die vom Irdischen, sogar vom Vulgären, bis zum Göttlichen nur ein einziges Wort zu sagen weiß, doch rechtfertigt. Auch wenn – wie das erste Kapitel bereits augenöffnend entfaltet – die romanischen Sprachen, das Englische und das Russische mehrere Wörter zur Unterscheidung von »Liebe« anbieten, so ist doch die eine große Zusammenfassung der Tönungen und Farben selbst eine Aufforderung, das solcherart Unterschiedene zu unterfangen. Und als Randbemerkung bleibt hängen, dass die Antike, sowohl die griechische wie die römische, den sexus zwar sehr wohl kannte und zelebrierte, dass aber weder im Begriff eros noch im Begriff amor erstrangig der Sex mitschwinge, sondern Sex durchaus dem weit ausholenden Feld von Begehren, Sehnsucht, Begeisterung = mania ein- und untergeordnet sei.
Statt spannungsloser Verschmelzung:
spannungsvolles Einssein von Zweien
Als bewundernder Leser des Symposiums greift Pieper einige Bestimmungen des platonischen Eros auf. So das Empfinden einer »Wiedervereinigung« durch die Liebe, ihr »immer schon«, wie es Aristophanes in seinem Mythos vom ursprünglichen Kugelmenschen erzählt, nach dessen Teilung die beiden Hälften sehnsüchtig zusammenstreben. Wichtig aber ist Piepers Folgerung: Liebe schafft nicht nur Einheit, sondern setzt sie schon voraus. Dabei ist Einheit nicht als Unterschiedslosigkeit gedacht, sondern als Einssein von Zweien, als lebendige Spannung, und nicht als totes Eines.
Diese Augenöffnung wird wichtig: Liebe ist nicht Sehnsucht nach Ganzheit, sondern nach erregendem Unterschied (in der Ganzheit). Der Satz der Liebe heißt nicht: Ich bin du, oder: Du bist ich. Der Satz lautet vielmehr: Du bist mein; ich bin dein. Einswerdung heißt nicht Verschmelzung (obwohl dieser fatale Irrtum beständig wiederholt wird). Das Glück der Einswerdung würde ja sofort mit den beiden untrennbar Verschmolzenen verschwinden. Ebensowenig wie Liebe blind, vielmehr sehend macht, ebenso wenig wird der Geliebte, die Geliebte aufgelöst, sie werden bestätigt, festgehalten – wer oder was sollte sonst geliebt werden? Liebe ist nicht Vernichtung von Identität (des einen wie des anderen), sondern Stiftung von Identität, so dicht wie nie zuvor. Liebe schafft überhaupt den, der liebt, und das Gegenüber, das geliebt wird. Sie ist so erfasst ein unerhörter schöpferischer Akt, sie ruft ins Dasein, was noch nie so war. Von daher ist Verschmelzung eine irreführende, undurchdachte Vorstellung; sie will das Einswerden betonen, löscht aber unversehens die Einswerdenden dabei aus.
Der Grund-Satz der Liebe lautet nach Pieper, nach dem Sichten aller Arten der Zuneigung, des Gönnens und des Wollens: »Es ist gut, dass es dich gibt.«4 Wie könnte dann »dass es dich gibt« verschwinden sollen? Erst hier käme dann wirklich ein Egoismus des Liebens zum Vorschein, eine egomanische Besitzergreifung, sogar ein Auffressen des anderen, das nur dadurch gemildert wird, dass das eigene Ich wiederum vom anderen verzehrt wird. Aber ist gegenseitiger Kannibalismus der Höhepunkt der Liebe? Es ist offenbar, dass damit der Kern der Liebe merkwürdig...




