E-Book, Deutsch, 310 Seiten
Pistorius Als ich unsichtbar war
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8387-1132-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Welt aus der Sicht eines Jungen, der 11 Jahre als hirntot galt
E-Book, Deutsch, 310 Seiten
ISBN: 978-3-8387-1132-4
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gefangen im eigenen Körper. Martin ist zwölf, als ihn eine rätselhafte Krankheit befällt: Er verliert seine Sprache, die Kontrolle über seinen Körper, ist nach wenigen Monaten völlig hilflos. Die Ärzte sagen seinen Eltern, er werde für immer schwerstbehindert bleiben. Was niemand ahnte: Im Kokon seines Körpers verbirgt sich ein schrittweise erwachender Geist und eine zutiefst lebendige Seele. Als Martin aufwacht, kann er nur mit den Augen Lebenszeichen geben. Eine Pflegerin erkennt schließlich, dass er sehr wohl bei Bewusstsein ist und alles um sich herum mitbekommt. Dann endlich erhält er die Hilfe, die er benötigt, um sich ganz ins Leben zurück zu kämpfen. Martin Pistorius erzählt bewegend und absolut authentisch darüber, was ihn in den elf Jahren der Hilflosigkeit am Leben gehalten hat. Sein dramatisches Buch über seine Erfahrungen zeigt, dass mit der Unterstützung einer Familie, die nicht aufgibt und einem großen Lebenswillen sogar Wunder möglich sind.
Martin Pistorius, geboren in Südafrika, ist nach seiner Erkrankung auf unglaubliche Weise ins Leben zurückgekehrt. Heute lebt er mit seiner britischen Frau in England und arbeitet als Webdesigner.
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(S. 59-60)
Jetzt bin ich bereit, die ersten Steigeisen in die Felswand der Kommunikation zu schlagen. Die Schalter, die ich benutzen werde, um einen Computer zu bedienen, sind eingetroffen, und ich habe bereits mit ihnen geübt. Ich weiß, dass sie erheblich mehr sind als nur Schrauben und Muttern, Plastikscheiben oder ein Geflecht aus elektrischen Drähten.
Reden, chatten, diskutieren, scherzen, schwätzen, mich unterhalten, verhandeln, klatschen: All dies liegt jetzt im Bereich meiner Möglichkeiten, dank der Schalter. Loben, fragen, danken, anfordern, beglückwünschen, hinterfragen, reklamieren und debattieren: Auch das wird mir bald möglich sein. Doch zunächst müssen wir entscheiden, welches Softwareprogramm wir kaufen sollen, daher bestellen meine Eltern verschiedene Demonstrations-CDs aus Europa und Amerika, um sie zu testen. Wochen werden zu Monaten, während meine Mutter Stunden damit verbringt, im Internet nach Webseiten zu suchen, die nur langsam geladen werden. Mein Vater widmet seine Abende dem Studium von Informationen, die er tagsüber auf der Arbeit ausgedruckt hat.
Ich schaue und höre zu, und dabei komme ich langsam dahinter, was mir am ehesten helfen wird, mich auszudrücken. Wie ein Künstler, der die Farbe so mischt, dass sie die richtige Konsistenz für die Leinwand hat, muss ich die richtige Software wählen. Jetzt, fast sechs Monate nach den ersten Tests, drängen mich meine Eltern, ihnen zu sagen, was ich haben möchte. Sie fragen mich, da sie gesehen haben, dass ich meinen Kopf nicht mehr wie ein geprügelter Hund hängen lasse, nachdem es jetzt interessante Dinge gibt, die ich mir anschauen kann.
Hoffnung keimt in meinen Eltern auf, als sie winzige Anzeichen erkennen, was ich eventuell zu leisten imstande bin. Ich denke unentwegt darüber nach, wie sich mein Leben verändern wird, sobald wir endgültig entschieden haben, welche Software wir nehmen. Der Gedanke, dass ich vielleicht schon bald meine ›Stimme‹ so oft ich will sagen höre »Ich habe Hunger«, erstaunt mich.
Die Erkenntnis, vielleicht fragen zu können »Was gibt’s im Fernsehen?«, verblüfft mich. Diese einfachen Sätze sind mein ganz persönlicher Mount Everest, und die Vorstellung, ich könnte sie bald beherrschen, ist schier unglaublich. Ich bin auf gewisse Symbole angewiesen, die ich neugierig betrachte. Wer wird durch ein ausdrucksloses Gesicht mit einem Fragezeichen darin dargestellt, und Was ist ein Viereck mit einem Fragezeichen in der Mitte.
Dies sind die Bausteine für Fragen, die ich bislang nicht habe stellen können. Ich möchte oder Ich will erscheint als ein Paar Hände, die nach einem roten Block greifen, während zwei parallel laufende dicke schwarze Linien Ich bin bedeuten. Auf dieses Symbol werde ich vielleicht häufiger als auf alle anderen zurückkommen, da ich so unsicher bin, was ich nach diesen beiden kurzen Wörtern sagen soll. Ich bin … Was? Wer? Ich weiß es nicht. Ich hatte nie die Möglichkeit, es herauszufinden. Bevor ich beginne, diese Fragen zu beantworten, muss ich die Grundlagen aller Sätze beherrschen – einfache Wörter und deren Symbole. Saft, Tee, Zucker, Milch, Hallo, auf Wiedersehen, ich, du, wir, sie, nein, ja, Huhn, Chips, Fleisch, und, Haar, Mund, Brot, tschüss: Erst wenn ich diese gelernt habe, kann ich anfangen, sie zusammenzusetzen und Sätze damit zu bilden.




