Pitlor | Die Heldin der Geschichte | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch

Pitlor Die Heldin der Geschichte

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7517-2059-5
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch

ISBN: 978-3-7517-2059-5
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Die Ghostwriterin Allie bringt sich und ihren Sohn Cass gerade so durch. Von ihrem Idealismus in Bezug auf Mutterschaft und feministische Erziehung musste sie sich längst verabschieden, zu Gunsten der pragmatischen Frage, wo eigentlich die Miete für den nächsten Monat herkommen soll. Doch dann ergattert sie einen hochkarätigen Auftrag: Sie soll ein Buch für die bekannte Aktivistin Lana schreiben. Die ist ebenfalls Mutter, kennt jedoch keine wirtschaftlichen Nöte und hat zudem Ambitionen auf ein politisches Amt. Die Zusammenarbeit der beiden ungleichen Frauen birgt ungeahnten Zündstoff ...



Heidi Pitlor ist Autorin der Romane Drei Tage im Sommer, The Daylight Marriage und Die Heldin der Geschichte. Seit 2007 fungiert sie als Herausgeberin der Reihe The Best American Short Stories und ist Programmleiterin bei Plympton. Ihre Texte sind u.a. in der New York Times, dem Boston Globe, Lit Hub, Ploughshares und der Huffington Post erschienen. Sie lebt in der Nähe von Boston.
Pitlor Die Heldin der Geschichte jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Kapitel 1


In einer Bibliothek habe ich mal gesehen, wie eine Frau die Biografie von Mutter Teresa in die Hand nahm und sie Sekunden später ins Regal zurückstellte. Als Nächstes griff sie zu den Memoiren von Peter Kennedy, JFKs Neffen. The House That Uncle Jack Built, stand in pseudokrakeliger Schrift auf dem Cover, darunter prangte der Autorenname in fetter Baskerville, doppelt so groß wie der Titel. Das Buch hätte genauso gut Warum ich Hosen mag heißen können, ausschlaggebend für die Verkaufszahlen war nicht, wie das Buch hieß, sondern wer es geschrieben hatte. Die Frau überflog den Klappentext auf der Rückseite, strich sich elegant eine Strähne hinters Ohr und blätterte schließlich darin herum.

Ich schätzte sie auf Anfang vierzig, ungefähr in meinem Alter also. Sie trug Jogginghose, Fendi-T-Shirt und rosa Sneakers, machte also vermutlich in den Berkshires Sommerurlaub. Ich blieb ein paar Meter vor ihr stehen, denn ich wollte ihre Reaktion sehen, wenn sie las, wie der kleine Peter Kennedy »die Hand an die Ewige Flamme hielt« und sich dabei drei Finger verbrannte. »Der Friedhofsverwalter kam angelaufen, nannte mich einen ungezogenen Rotzlöffel und verwies unsere kleine Gruppe des Ortes. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, dass ich mit dem Verstorbenen verwandt war.«

Welche feinstofflichen Eigenschaften muss ein Text haben, um seine Leserschaft nach nur einem oder zwei Sätzen zu fesseln? Als ich mir diese Frage stellte, las ich selbst gerade einen dieser Ratgeber, wie man Babys zum Schlafen brachte. Meine Erwartung daran war klar: Mein Sohn und ich sollten nachts mehr als drei Stunden Nachtruhe bekommen, und das am Stück. Parallel dazu hatte ich mich schon zur Hälfte durch ein Buch für Alleinerziehende durchgeackert.

Wie es der Teufel wollte, spuckte mein Sohn just in diesem Moment seinen Schnuller aus und begann zu zetern, ein rhythmischer Klagelaut, der mich stark an das Meckern einer Ziege erinnerte. Die Frau blickte von ihrem Buch auf und musterte mich, eine kompakte Person mit schulterlangem, wirrem, bräunlich-grauem Haar, die einen jammernden, nur mit Red-Sox-T-Shirt und Windel bekleideten Säugling auf dem Arm hielt. Mein linkes Hosenbein war nass, weil Cass mir kurz zuvor auf die Jeans gespuckt und ich auf der Toilette versucht hatte, den Fleck zu entfernen. Die Frau starrte uns an, während ich krampfhaft versuchte, Cass zu beruhigen, ihn wiegte, ihm ins Ohr pustete, alles vergeblich.

Um sie nicht weiter zu belästigen, hastete ich ins Foyer, wo ich glücklicherweise den Schnuller im Ausschnitt meines Kapuzenpullis wiederfand und ihn meinem Sohn erleichtert in den Mund stopfte. Als Cass sich wieder beruhigt hatte, sah ich, wie die Bibliothekarin an der Ausleihe der Frau die Kennedy-Memoiren zurückgab. Das erfüllte mich mit großem Stolz, ein kleiner Triumph. Auf dem Weg zum Ausgang wich sie einem Mann aus und stieß dabei gegen mich.

»Verzeihung«, sagte ich, als wäre es meine Schuld gewesen. »Ich hoffe, das Buch gefällt Ihnen. Es soll gut sein, habe ich gehört.«

»Ich habe kein Geld dabei«, erwiderte sie, den Blick fest auf meine ausgelatschten Flipflops gerichtet.

»Was?«

»Ich kann Ihnen nichts geben.«

»Was? Nein!« Ich lachte kurz auf, was Besseres fiel mir in diesem Moment nicht ein.

Die Frau zog ihr Handy aus der Tasche und verschwand durch die Tür.

Ich sah ihr verdattert hinterher, Cass auf dem Arm.

Hätte ich keine Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben, wäre ich der Frau vielleicht anders begegnet, hätte sie womöglich gebeten, ihre Vorurteile zu überdenken, vor allem, was meine vermeintliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht betraf. Keine Ahnung, was genau ich ihr gesagt hätte, aber zumindest hätte ich sie darauf hingewiesen, dass ich die Autorin des Buches war, das sie da gerade in Händen hielt.

Allerdings hätte sie mir wohl kaum geglaubt, wieso sollte sie auch? Und überhaupt: Begegnete ich ihr nicht ebenfalls mit Vorurteilen? Vielleicht gehörte sie sogar selbst zur Familie der Kennedys oder hatte in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Bettlerinnen gemacht. Möglicherweise hatte sie selbst finanzielle Probleme, wobei das eher unwahrscheinlich war – kurz darauf sah ich sie in einem Mercedes SUV vorbeigleiten.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits ein halbes Dutzend Bücher für diverse zweitklassige VIPs geschrieben, die allesamt unter ihrem Namen erschienen waren, darunter ein reicher Ölbaron, einige Verwandte von echten Berühmtheiten und ein paar abgehalfterte Stars. Die wenigsten meiner Autorinnen und Autoren besaßen schriftstellerisches Talent, aber sie waren mir alle auf ihre ganz eigene Weise ans Herz gewachsen. Sie hatten sich mir anvertraut, ein paar hatten sogar intimste Geheimnisse preisgegeben, und im Gegenzug dafür hatte ich mich bemüht, weniger schmeichelhafte Charakterzüge zu kaschieren und alles zu betonen, was ihr Image verbesserte. Mit manchen hatte ich noch Jahre später Kontakt. Nach dem Tod des ehemaligen Astronauten Clyde Elliott schickte ich seiner Frau einen Strauß Schwertlilien, ihre Lieblingsblumen. Sie bedankte sich mit einer herzlichen Karte: Sie haben aus den ausschweifenden Erinnerungen eines alten Mannes eine wohlklingende Ballade gemacht. Ich antwortete ebenfalls mit einer Karte: Ihre Worte haben mich sehr bewegt, genau wie meine Zeit mit Elliott. Natürlich verschwieg ich ihr, dass ihr Mann, trotz meiner Abfuhren, beharrlich mit mir geflirtet und einmal zu mir gesagt hatte, er sei dafür, dass man seiner Gattin zur Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer das Fahren verbieten solle. »Frauen am Steuer«, hatte er kopfschüttelnd gemurmelt. Wenn ich im Zuge meiner Arbeit die Wahrheit verschleierte oder sie neu erfand – was mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen war –, musste ich mich oft über die Grenzen des gedruckten Wortes hinausbewegen.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass sich die im Folgenden geschilderten Ereignisse lange vor der #MeToo-Bewegung und Brett Kavanaughs höchst umstrittener Bestätigung als Richter am Obersten Gerichtshof der USA ereigneten. Das alles fand statt, bevor man unzählige Kinder an der mexikanischen Grenze von ihren Eltern trennte und vier weibliche Kongressabgeordnete of Colour vom Präsidenten der Vereinigten Staaten dazu aufgefordert wurden, »dahin zurückzukehren, wo sie hergekommen sind, und zu helfen, ihre total kaputten und von Kriminalität verseuchten Länder wieder in Ordnung zu bringen«. Im Rückblick betrachtet sehen viele Dinge natürlich oft anders aus, so auch jetzt, im Jahr 2018, da ich diese Worte schreibe. Obwohl das alles noch nicht so lange her ist, lebten wir damals doch in einem anderen Land. Das soll allerdings keine Rechtfertigung sein.

Im Januar 2016 rief mich mein Agent an, es ging um ein neues Buchprojekt. Für mich war dieser Auftrag wie ein Lottogewinn, denn das angebotene Honorar überstieg alles, was ich je für ein solches Buch bekommen hatte. Dazu kam, dass Nick Felles locker mein berühmtester Autor sein würde. Ich konnte meinem Agenten deshalb anfangs kaum glauben.

»Es stimmt aber«, sagte Colin. Er selbst würde ebenfalls fünfzehn Prozent einstreichen. »Und jetzt gönn dir erst mal ein Wellness-Wochenende.«

Ich verriet ihm nicht, dass es in meinem Leben Dringenderes gab als eine Maniküre und Gesichtsmassage. Mein letztes Buchprojekt, die Memoiren der Kongressabgeordneten Betsy McGrath, lag schon fast zwei Jahre zurück, und mein Erspartes war nahezu aufgebraucht. Ich arbeitete zwar nebenbei noch bei einer Landschaftsgärtnerei und als Aushilfslehrerin, aber es fiel mir trotzdem schwer, meine laufenden Kosten zu decken. Mein Wagen hatte vor Kurzem den Geist aufgegeben. Jeden Morgen erwachte ich mit dem unheilvollen Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein.

Als ich aufgelegt hatte, lief ich sofort zu Cass. »Wir können dir endlich ein Bett für große Jungs kaufen!« Ich schloss ihn fest in die Arme, als könnte ich meine Erleichterung in seinen kleinen Körper drücken, in sein weiches Gesicht.

»Okay. Das tut weh. Ich muss Pipi«, sagte er.

Wir versuchten gerade, die Windeln wegzulassen, daher war Eile geboten. Ich sauste mit ihm ins Bad.

Ungefähr einen Monat später fuhr ich mit einem wunderschönen gebrauchten Toyota Tacoma mit Rückbank vom Parkplatz eines Autohändlers, und Janis Joplin röhrte »Get It While You Can« aus dem Lautsprecher. Zehn Jahre zuvor hatte ich mich von der Festanstellung als Texterin bei einer Agentur in Manhattan befreit, um in meine Heimatstadt in den Berkshires zurückzuziehen und als Freiberuflerin mein Glück zu versuchen. Ich arbeitete am Küchentisch, wann und wie ich wollte. Wenn mir der Sinn danach stand, trug ich einfach nur T-Shirt und Schlafanzughose. Mit einer mittelmäßigen Beziehung hatte ich mich nie aufgehalten, stattdessen erzog ich meinen süßen, liebenswerten Sohn ganz allein. Ich war die Herrin in meinem Leben. Und jetzt, als ich mit meinem neuen Wagen an einer roten Ampel hielt, hatte ich das Gefühl, das Blatt würde sich endlich zu meinen Gunsten wenden.

Offenbar war ich die Einzige in meinem Bekanntenkreis, die Nick Felles’ Erfolgsserie Skinwalker Ranch über Gestaltwandler, UFOs, geopferte Rinder und supersexy Hexen noch nie gesehen hatte. Vor unserem Treffen zog ich mir also gleich die ganze Staffel rein und war tatsächlich gefesselt von der Ranch, wie Nick sie nannte. Die Serie war zwar brutaler als meine übliche Fernsehkost, überzeugte jedoch durch Cliffhanger, die besondere Mischung von Archaik und Futurismus und die attraktiven, oft nackten...


Heidi Pitlor ist Autorin der Romane Drei Tage im Sommer, The Daylight Marriage und Die Heldin der Geschichte. Seit 2007 fungiert sie als Herausgeberin der Reihe The Best American Short Stories und ist Programmleiterin bei Plympton. Ihre Texte sind u.a. in der New York Times, dem Boston Globe, Lit Hub, Ploughshares und der Huffington Post erschienen. Sie lebt in der Nähe von Boston.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.