Pollack Kontaminierte Landschaften
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7017-4457-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 120 Seiten
Reihe: Unruhe bewahren
ISBN: 978-3-7017-4457-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Pollack geboren 1944 in Bad Hall. Studium der Slawistik und osteuropäischen Geschichte. Übersetzer polnischer Literatur, Journalist und Autor, 1987- 1998 Korrespondent des SPIEGEL in Wien und Warschau. Zahlreiche Preise, u. a. den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln (2007) und den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2011). Lebt im Südburgenland und in Wien. Zuletzt erschienen: 'Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater' (2004), 'Wer hat die Stanislaws erschossen? Reportagen' (2008), 'Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien' (2010).
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II.
Zahlreiche Beispiele zeigen, dass die Bemühungen, Massengräber für immer verschwinden zu lassen, in den meisten Fällen zum Scheitern verurteilt sind, obwohl die Verantwortlichen, oft unterstützt von den Behörden, keine Mühe scheuen, um die Spuren zu verwischen und eine spätere Suche und vor allem Identifizierung der Opfer zu erschweren oder vollends unmöglich zu machen. So war das auch beim Kocevski Rog südlich von Ljubljana. Der Zugang zu den verschütteten Gräbern wurde lange Zeit untersagt, eine Aufklärung der Geschehnisse verschleppt und behindert. Eine Änderung trat erst ein, als das kommunistische Regime in Jugoslawien zusammenbrach. Doch alle Versuche, die Geschehnisse durch hartnäckiges Leugnen und Verschweigen aus der Welt zu schaffen, änderten nichts daran, dass die Landschaft kontaminiert ist. Und das wussten und wissen nicht nur die Täter, sondern auch andere Menschen, überlebende Opfer, Angehörige der Toten, zufällige Bewohner der betreffenden Landstriche. Bei meinem ersten Besuch im Hornwald hatte ich einen alten Mann getroffen, der als Kind zufällig eine Massenerschießung beobachtet hatte. Er war mit seinem Vater in den Wald gegangen, um Brennholz oder Pilze zu sammeln, als plötzlich Lastwagen gefahren kamen, auf die Menschen gepfercht waren, bewacht von Soldaten. Die beiden versteckten sich, und aus sicherer Entfernung wurden sie Augenzeugen des Massakers und der anschließenden »Entsorgung« der Leichen in den Karstspalten. Lange Zeit hat der Mann darüber geschwiegen, aus Angst, sein Wissen könnte ihm und seiner Familie schaden. Jahrzehntelang durfte in der Öffentlichkeit über die Massaker nicht gesprochen, geschweige denn geschrieben werden. Sie waren tabu. Ein von Sicherheitsorganen und Zensur streng gehütetes Staatsgeheimnis. Ähnlich reagierten die sowjetischen Behörden lange Jahre im Falle von Katyn, und genauso verhält sich das weißrussische Regime bis heute hinsichtlich Kuropaty. Die Obrigkeit verordnet Schweigen, in der trügerischen Hoffnung, dass dadurch die Ereignisse der Vergangenheit irgendwann in Vergessenheit geraten. In der Regel erreichen sie dadurch genau das Gegenteil. Auch beim Hornwald nährte die offizielle Vertuschungspolitik bloß die Gerüchte, es wurde getuschelt und gemunkelt, hinter vorgehaltener Hand wurden Zahlen von Opfern genannt, die kurz nach Kriegsende im Wald verschwunden und nie mehr aufgetaucht waren. Dabei kann es angesichts des Fehlens verlässlicher Unterlagen und der Unübersichtlichkeit des Terrains nach so vielen Jahren ohnehin höchstens grobe Schätzungen geben. Mit einiger Gewissheit liegen im Kocevski Rog Zehntausende Tote. Aber auf genaue Zahlen kommt es nicht an, die Erfahrung hat uns gelehrt, dass der Schrecken in nackten Ziffern nicht fassbar ist. Wichtiger als Zahlen sind die Namen der Opfer, weil wir nur auf diese Weise einzelne Schicksale erzählen können, eine unabdingbare Voraussetzung, um diese Menschen dem Vergessen zu entreißen und den Überlebenden und Nachkommen ihre Geschichte zu überliefern.
Die Karsthöhlen beim Krenbichel, pod Krenom, sind nicht die einzigen Massengräber in der Region von Kocevje. Inzwischen kann man Bilder verborgener Massengräber im Internet finden, eine ganze makabere Diashow. Jama pod Macesnovo gorico, Jama v Rugarskih klancih, man sieht eine in die Tiefe führende Spalte, gesichert durch einen einfachen Zaun aus rohen Rundhölzern, wie man ihn hierzulande von Viehweiden kennt. Izvirna Jama, die Höhlen beim Žago Rog und in Dvojno brezno pri Cink križu, um nur einige dieser unheimlichen Örtlichkeiten zu nennen. Meist wurden die Zugänge zu den Höhlen und Spalten nach den Massakern gesprengt, um eine spätere Bergung der Leichen zu erschweren oder unmöglich zu machen. Insgesamt wird die Zahl der verborgenen Massengräber in Slowenien auf über 600 geschätzt – die meisten wurden bislang nur flüchtig untersucht und teilweise geöffnet. An eine Öffnung aller Gräber ist nicht gedacht.
Auf dem Weg aus dem Hornwald verirrte ich mich, irgendwo nahm ich eine falsche Abzweigung und geriet auf einem schmalen Forstweg immer tiefer in den Wald hinein, bis ich schließlich zu einer Lichtung gelangte, auf der ich Halt machte, um mich anhand meiner Karte zu orientieren. Am Waldrand standen, wie schwarze Mumien, alte, halb verdorrte Obstbäume, Zwetschken, Äpfel, Birnen, ein untrügliches Zeichen, dass sich hier einmal ein Dorf befunden haben musste. Nach einigem Suchen entdeckte ich im hohen Gras ordentlich übereinandergeschichtete Steine, Reste von Fundamenten, in einer Senke stand Wasser, so dicht mit Entenlinsen bewachsen, dass es sich kaum von der Umgebung abhob. Der Dorfweiher? Ein ehemaliger Löschteich? Ich war nicht sicher, in welcher der vielen verschwundenen Ortschaften ich gelandet war, Kuntschen, Rotenstein, Schönberg, Neulag? Auf Befehl Berlins waren noch während des Krieges die meisten Gottscheer Deutschen ausgesiedelt worden, die Dörfer blieben leer und verwaist zurück. Nach dem Krieg wurden viele Dörfer zerstört, dem Erdboden gleichgemacht. Einige Dorfnamen waren mir aus den Erzählungen meines Großvaters geläufig, in den meisten hatte es damals Wirtshäuser gegeben, in denen er auf seinen ausgedehnten Waldgängen eingekehrt war. Aus einem dieser Orte stammte auch ein junges Mädchen, eine Liebschaft meines Großvaters. Er hatte damals in Gottschee, der größten Ortschaft der gleichnamigen deutschen Sprachinsel, als Konzipient bei einem Rechtsanwalt gearbeitet, die freie Zeit jedoch bevorzugt auf der Jagd verbracht, in seiner Jagdhütte am Krenbichel. Wo und wie er das Mädchen, mit dem er ein flüchtiges Verhältnis hatte, dem eine Tochter entsprang, kennengelernt hatte, weiß ich nicht. Diese Geschichte hat er in seinen Erzählungen über Gottschee verständlicherweise nie erwähnt. Von der Affäre habe ich erst lang nach seinem Tod erfahren. Das Mädchen entstammte einfachen Kreisen, in denen man auf Ordnung und Anstand bedacht war. Daher wurde die junge Kindsmutter von der Familie nach Amerika geschickt, vermutlich zu dort lebenden Verwandten, man wollte offenbar die Schande aus dem Haus haben. Das neugeborene Mädchen behielt man zurück. Obwohl Großvater sich nie um seine Tochter kümmerte – ich glaube nicht, dass er jemals Alimente bezahlte –, wurde sie nach ihm benannt: Er hieß Rudolf, also wurde sie auf den Namen Rudolfine getauft. Das vermochte ihn nicht zu erweichen. Ein Jahr nachdem seine uneheliche Tochter zur Welt kam, heiratete er meine Großmutter, die aus einer wohlhabenden und angesehenen deutschen Familie in Laibach/Ljubljana stammte.
In den Erzählungen des Amstettener Großvaters tauchte häufig noch ein zweiter Name auf, der, ähnlich wie Gottschee, ebenfalls spannende Jagdabenteuer und zugleich heimelige Wärme verhieß: Tüffer. In Tüffer hatte der Großvater eine glückliche Kindheit erlebt. Dort hatte er als kleiner Bub, mit vier oder fünf Jahren, von meinem Urgroßvater sein erstes richtiges Gewehr bekommen, kein Spielzeug, sondern einen Tesching, mit dem man Vögel erlegen konnte. Doch er war damit stets vorsichtig umgegangen, hatte nie im Spaß auf Mensch oder Tier gezielt. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht. In Tüffer war alles wunderbar gewesen, den Namen verband ich mit einem naturverbundenen, sorgenfreien Leben, mit Freiheit und Abenteuern, die mir der geliebte Großvater in den buntesten Farben ausmalte. Erst viel später, als der Großvater nicht mehr lebte, erfuhr ich, dass Tüffer in der ehemaligen Untersteiermark lag und slowenisch Laško hieß. Eine kleine, unter einen steil aufragenden vulkanischen Hügel namens Hum hingestreute Ortschaft im Sann-Tal, zehn Kilometer südlich von Cilli/Celje, in der die Familie des Großvaters zu Hause war. Eine bürgerliche deutsche Familie, kreuzbrav und fleißig, deutschnational und kinderreich. Der Urgroßvater, aus dem Rheinland in die Untersteiermark gezogen, betrieb eine Gerberei, die ihm und den Seinen sicheren Wohlstand und ein kommodes Leben verschaffte. Auch vom Leben in Tüffer wusste mein Großvater zahllose Geschichten zu erzählen, von den herrlichen Fischgründen in der Sann, reich an Huchen, Forellen und Welsen, auch Wallern genannt, mit denen er stundenlang zu kämpfen hatte, bevor er sie an Land ziehen konnte, von den Streifzügen mit seiner Flinte durch die weiten Kastanien- und Buchenwälder, vom ersten kapitalen Eber, den er, noch ein Bub, erlegt hatte, von Nächten, verbracht an hell lodernden Lagerfeuern, aber auch von den Kochkünsten seiner Mutter und der slowenischen Köchin, die miteinander wetteiferten, wer die bessere Potitze zu backen verstand, einen mit verschiedenen Köstlichkeiten gefüllten Germkuchen. Tüffer konkurrierte in seinen Erzählungen mit der Gottschee, wohin er nach Beendigung des Studiums gezogen war, um seiner unstillbaren Jagdleidenschaft zu frönen – von der Arbeit als Advokaturskandidat, als angehender Rechtsanwalt, hat er nie berichtet. Tüffer und Gottschee, von denen ich so viel hörte, bildeten in meiner Vorstellung eine einzige imaginäre, glückliche Landschaft, nach der ich mich viele Jahre lang sehnte.
Am 24. Juli 2008 stieß eine...