E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Popov Die Hunde fliegen tief
3. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7017-4472-5
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4472-5
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alek Popov, 1966 in Sofia geboren, studierte dort bulgarische Philologie und war u.a. als Kulturattaché der bulgarischen Botschaft in Großbritannien und Nordirland tätig. Er arbeitet als Schriftsteller und ist zudem Autor einer Reihe von Erzählungen, Drehbüchern und Hörspielen. Popovs Werk wurde in mehrere Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem 'Helicon' für das beste Prosawerk 2002, 'Mission: London' (Residenz Verlag 2006). Sein zweiter Roman,'Die Hunde fliegen tief' (Residenz Verlag 2008), stand wochenlang an der Spitze der bulgarischen Bestsellerlisten und erhielt 2007 den renommierten Elias-Canetti-Preis. Alek Popov lebt in Sofia.
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PROLOG
Ich kann nicht glauben, dass sich mein Vater in der schwarzen Plastikschachtel befinden soll, die uns soeben vom Zollamt zugestellt worden ist. Es kann nicht sein. Die Schachtel steht auf dem Tisch im Wohnzimmer und die Blicke aller ruhen auf ihr. Tiefe Erschütterung! Ich weiß nicht genau, was sie erwartet haben. Es ist eine Schachtel wie jede andere, eine Verpackung. Ich hebe sie an, sie ist richtig schwer. An einer Ecke rieselt ein wenig schwarzer Staub heraus. Die Asche meines Vaters, nehme ich an. Ich wische sie mit dem Finger auf, rieche daran. Ich bin versucht, an meinem Finger zu lecken, merke aber, dass man mich mit wachsender Missbilligung anstarrt. Auf dem Deckel steht in kleinen Buchstaben der Name meines Vaters.
Es könnte auch jeder andere Name sein …
Dann werden plötzlich alle hektisch, eine Tischdecke wird aufgebreitet, ein Bild des Verstorbenen ausgesucht, Blumen werden dazugestellt, Kerzen angezündet, noch ein paar Pralinen und der kleine Hausaltar ist fertig. In der Folge gesellen sich immer neue Gegenstände hinzu: eine Ikone, ein Kreuz, Vaters Bücher, irgendein Diplom, eine Medaille. Meine Großmutter legt Wert darauf, das gesellschaftliche Ansehen meines Vaters zu unterstreichen. Meine Mutter ist geschäftig, scheinbar energisch und auf irgendwelche Nebensächlichkeiten konzentriert, doch in Wahrheit irrt sie im Jenseits umher. Sie versucht, den dichten Nebel zu durchdringen, der die Lebenden von den Toten trennt … Leute kommen zu Besuch; sie betrachten die schwarze Schachtel und schütteln die Köpfe. Alles ist so unerwartet. Gestern noch haben sie miteinander getrunken, heute ist er schon nicht mehr da.
Der Tod meines Vaters ist aus vielerlei Gründen schockierend. Erstens, er war noch sehr jung, kaum fünfzig Jahre alt. Zweitens, er war mit einem brillanten Verstand gesegnet, der für die Wissenschaft nun unwiederbringlich verloren scheint. Drittens, das Unglück geschah am Arsch der Welt, in Amerika, und das lässt uns noch hilfloser zurück. Viertens, niemand weiß genau, wie es passiert ist, was dem Vorfall eine unheilvolle Note gibt und allerlei absurde Gerüchte nährt. Fünftens, solche Ereignisse sind prinzipiell tragisch. Sechstens, wahrscheinlich gibt es noch einen Haufen anderer Gründe, auf die ich im Augenblick überhaupt nicht komme.
Es ist fast ein Jahr her, seit der Kommunismus zusammengebrochen ist.
Ich habe geahnt, dass ihm etwas in der Art zustoßen würde, früher oder später, wenn er so weitermachte … Ich rede von meinem Vater und seiner Trinkerei. Er machte weiter, als ginge es um die Weltmeisterschaft im Saufen, und wir konnten nichts weiter tun, als ihm die Daumen zu drücken. Ich habe keine Ahnung, was er in der restlichen Zeit beweisen wollte. All diese Integrale, Algorithmen und Theoreme, die er auskotzte – ich verstand davon nicht das Geringste. Die exakten Wissenschaften haben mich nie angezogen. Im Gymnasium war ich erschreckend schlecht in Mathematik. Ich kann auch nicht behaupten, dass er mich in besonderem Maße unterstützt hätte, er bedauerte mich vielmehr … Ich bedauerte ihn meinerseits, und zwar dafür, dass er unter einem Zwang stand, sich mit dieser undankbaren Materie zu beschäftigen; weil wir – ich, der ich so schlecht war, und er, der so genial war – uns paradoxerweise in derselben Lage befanden. Es spielt keine Rolle, wie lange eine Gleichung ist, wenn du sie nicht lösen kannst, und während ich nicht im Traum daran dachte, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, war es für ihn eine Frage auf Leben und Tod. Diese verfluchten Integrale sehen aus wie Angelhaken: Hast du erst einmal einen geschluckt, bist du geliefert. Ich frage mich, wer diese Angelruten auswirft, um die Karpfen aus dem Tümpel zu holen, den man Wissenschaft nennt?
Und da ist auch schon mein Bruder: Nedko, eine unförmige Briefträgertasche über die Schulter geworfen. Letztes Jahr ist er an der Aufnahmeprüfung für die Universität gescheitert, und aufgrund irgendeines dämlichen Gesetzes muss er sich jetzt ein halbes Jahr plagen, wenn er neuerlich antreten will. Der Staat sorgt eben dafür, dass sich die jungen Leute nicht ohne Arbeit herumtreiben. Ich habe den Verdacht, dass es nicht lange braucht, bis sich das wieder ändert. Im Moment gibt es allerdings keine Alternative.
Ich sage zu ihm: »Wir haben ein Paket aus Amerika bekommen.«
Nedko blinzelt verdutzt, starrt auf die schwarze Schachtel und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Die Arbeit bei der Post hat ihn zum Zyniker gemacht: Seine Tasche quillt über von Briefen, Zeitungen und Zeitschriften, die ihre Empfänger nicht so bald erreichen werden, jede Wette. Durch ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen ist Nedko auch für unser Viertel zuständig. Deshalb haben wir die Benachrichtigung über das traurige Paket auch mit zweiwöchiger Verspätung erhalten.
Nedko versucht, sich bei mir einzuschmeicheln, indem er mir die letzte Ausgabe von zuschiebt, die progressivste sowjetische Zeitschrift im Moment, in der sich regelmäßig Enthüllungen finden, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Mir ist jetzt freilich nicht nach Pikanterien mit stalinistischer Note. Ich betrachte die Schachtel und denke: Woher zum Teufel soll ich wissen, ob das tatsächlich die Asche meines Vaters ist? Oder nur die irgendeines Herumtreibers? Es ist völlig unmöglich! Ich teile Nedko meinen Verdacht mit, mein Bruder zuckt nur mit den Schultern.
»Wie bist du nur auf den Unsinn gekommen?«
Wie? Es bedarf keiner allzu großen Phantasie, um sich das vorzustellen, aber Nedko hat offenbar überhaupt keine Phantasie. Die Überführung der Leiche aus den USA nach Bulgarien hätte 2000 Dollar gekostet – eine Summe, die wir nie im Leben hätten aufbringen können. Die Versicherungsgesellschaft hat so getan, als ginge sie das alles nichts an. Die Universität zeigte sich knickrig. Die bulgarische Botschaft weigerte sich ebenfalls, für die Repatriierung in die Tasche zu greifen. So blieb als letzter Ausweg nur die Einäscherung. Mein Vater war Atheist, deshalb nahmen wir an, dass er nichts dagegen haben würde. Seine Asche wurde wie ein gewöhnliches Paket befördert.
Ein Paket aus Amerika.
»Das hast du schon gesagt.« Mein Bruder macht ein finsteres Gesicht.
»Es gibt eine Erzählung, die so heißt«, fahre ich fort. »Von Svetoslav Minkov.«
Sie ist in einem Sammelband mit Satiren aus den fünfziger Jahren erschienen und nimmt den Bourgeois und seine Werte aufs Korn. Eine Familie von Spießbürgern hat Verwandtschaft in den Staaten, die regelmäßig Pakete schickt. Die Waren von jenseits des Ozeans rufen unbeschreibliche Begeisterung hervor und geben Anlass zu endlosen Lobgesängen, wie großartig der Westen sei und wie verlottert die heimische Leichtindustrie. Eines Tages jedoch erreicht sie eine ungewöhnliche Sendung: Das Paket enthält eine versiegelte Metallschachtel ohne Aufschrift. Als sie sie öffnen, entdecken sie ein rätselhaftes graues Pulver, wie Staub. Sie setzen sich zusammen und grübeln: Was ist das wohl und wozu mag es gut sein? Schließlich überwindet sich der Vater und schüttet ein Löffelchen davon in seinen Kaffee. Das Pulver wirkt wie ein Tonikum, und sie kommen zu dem Schluss, dass es sich um irgendwelche Vitamine handeln muss. Sie beginnen, es zum Frühstück einzunehmen, und stoßen bald auf eine ganze Menge anderer Anwendungsmöglichkeiten. Als die wundertätige Droge zur Neige geht, beschließen sie, ihren Verwandten zu schreiben, damit sie ihnen davon noch mehr schicken. Doch dann erhalten sie einen Brief; er hätte zusammen mit dem Paket zugestellt werden sollen, doch offenbar war er in die Tasche eines Briefträgers geraten, der mein Bruder hätte sein können … Die Verwandten teilen ihnen darin mit, dass ihre Tante gestorben sei und dass sie ihnen ihre Asche schickten, damit sie in Bulgarien beerdigt werden könne. Damit hört die Familie auf, den Westen über den grünen Klee zu loben.
»Gefinkelt«, sagt mein Bruder.
Wenn ein Flugzeug abstürzt, suchen erst mal alle nach der Black Box. Darin werden Daten über die Navigation, den technischen Zustand der Systeme, die Gespräche der Besatzung, die Anweisungen des Kapitäns und so weiter gespeichert. Dieses Gerät, auch genannt, erlaubt einem, die Ereignisse an Bord unmittelbar vor dem Absturz zu rekonstruieren und die Gründe zu verstehen, die dazu geführt haben. Die Black Box, in der mein Vater zurückkehrte, enthält nichts dergleichen: Die Information ist gelöscht, zu Staub zerfallen. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich ihn kaum gekannt habe: Ich habe nicht verstanden, womit er sich beschäftigte. Ich habe seine Trinkerei verachtet. Ich habe vor seinem Zorn gezittert. Ich habe mich gefreut, wenn er verreisen musste. Ich hatte Angst, er könnte nicht wiederkehren – und so geschah es dann auch.
Eine Erinnerung erreicht mich aus meinem Gedächtnis wie eine Ansichtskarte aus dem...