E-Book, Deutsch, Band 3, 236 Seiten
Reihe: Ein Tanz zur Musik der Zeit
Powell Ein Tanz zur Musik der Zeit / Die Welt des Wechsels
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-941184-78-7
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 3, 236 Seiten
Reihe: Ein Tanz zur Musik der Zeit
ISBN: 978-3-941184-78-7
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anthony Powell (1905-2000) besuchte das Eton College, studierte in Oxford und heiratete eine Adlige. Er arbeitete als Lektor in einem Londoner Verlag, schrieb Drehbücher und Beiträge für britische Tageszeitungen, war Herausgeber des Magazins »Punch« und Autor zahlreicher Romane. Jene gesellschaftliche Oberschicht Großbritanniens, der er selbst angehörte, porträtierte er in seinem zwölfbändigen Romanzyklus »A Dance to the Music of Time«. Während seine Altersgenossen und Freunde Evelyn Waugh, Graham Greene und George Orwell sich auch im deutschsprachigen Raum bis heute großer Popularität erfreuen, ist Anthony Powell hierzulande noch nahezu unbekannt. Über den Übersetzer Heinz Feldmann vermerkte Anthony Powell in seinem Tagebuch: »I am lucky to have him as a translator.«
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Etwas mehr als ein Jahr danach starb Isbister. Er war eine kurze Zeit lang schwer krank gewesen und hatte sich während der Genesung eine Lungenentzündung zugezogen. Die Frage der Einleitung, auf unbestimmte Zeit in die Schublade versenkt, da St. John Clarke sich strikt geweigert hatte, Briefe zu diesem Thema zu beantworten, wurde jetzt durch die Nachrufe wieder ans Licht geholt. Da es zu der Zeit so gut wie keine allgemeinen Neuigkeiten gab, waren diese Berichte ausführlicher, als man das erwartet hätte. Einer von ihnen nannte Isbister »den britischen Frans Hals«. Fotografien von ihm wurden veröffentlicht, die ihn mit seinem Van-Dyck-Bart und in seinem Cape-Mantel zeigten, wie er mit Mrs. Isbister, einem früheren Modell, der ›Morwenna‹ vieler seiner Figurenbilder, spazierenging. Dies war eindeutig die Gelegenheit, eine weitere Anstrengung zu unternehmen, um »Die Kunst Horace Isbisters« fertigzustellen und zu veröffentlichen. Maler, besonders Akademiemaler, können schnell ins Dunkel zurückgleiten: vergessen, als hätten sie nie gelebt.
Fast als letzten Ausweg hatten wir deshalb vereinbart, dass ich mich außerhalb meiner Dienstzeit mit Mark Members treffen sollte, um mit ihm die Dinge ›von Mann zu Mann‹ zu besprechen. Members hatte für diese Zusammenkunft ausgerechnet das Ritz gewählt. Seit er St. John Clarkes Sekretär geworden war, hatte er eine Vorliebe für reiche Umgebungen entwickelt. Es war in jener sich hinziehenden, öden, freudlosen Woche nach Weihnachten. Mein eigenes Leben schien mir ein grenzenloser Stillstand, belebt nur durch die Arbeit an einem neuen Buch. Diese nie enden wollenden letzten Tage des sterbenden Jahres schaffen sozusagen einen Zustand moralischer Schwebe: eine Form des Lebens ist schon verweht, ehe eine weitere die Zeit gefunden hat, ihre neue, begrenzte Eigentümlichkeit geltend zu machen. Irgendwie kündigt sich oft ein nahe bevorstehender Wechsel der Lebensrichtung durch solche farblosen Flecken der Zeit an.
Den Piccadilly entlang blies ein Nordwind die Seitenstraßen herunter, heiser röhrend für jeweils ein, zwei Minuten, dann in Stille verfallend, um aber plötzlich, nach einer nur kurzen Pause, erneut loszulegen, als wüte er auf ewig gegen die Unbeständigkeit menschlichen Verhaltens. Die Bögen des Säulengangs boten einen gewissen Schutz gegen diesen Orkan und formten zugleich eine Art Vorraum, der an einer Seite durch beleuchtetes Glas in ein anderes, milderes Land führte, wo der Kampf gegen die Naturgewalten zumindest weniger deutlich zutage trat als auf dem Gehsteig. Draußen herrschte nördlicher Winter, hier unter Palmen ein fast tropisches Klima.
Obwohl es ein Samstagabend war, war es sehr voll in der Halle. Jener Hauch von Leben in wärmeren Städten, weit weg von London, wurde durch die Anwesenheit einer großen Gesellschaft von Südamerikanern verstärkt, die ganz in der Nähe des Platzes, den ich an einem der grauen Marmortische fand, ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie waren malerisch unter der in ihrer Grotte aus künstlichen Felsen und grünem, frischem Farn hockenden Bronzefigur der Nymphe gruppiert – eine große Familie, die sich über drei oder vier Tische ausgebreitet hatte und freundlich miteinander schwatzte. Sie bestand aus dunkelhäutigen jungen Männern mit bläulichem Kinn und hübschen, modisch gekleideten jungen Mädchen, die Letzteren im Alter herabgehend bis zu bloßen Kindern mit großen schwarzen Augen und hellfarbigen Schleifen im Haar. Ein gepflegter älterer Mann mit Glatze, die Rosette irgendeines Ordens im Knopfloch, den grauen Schnurrbart kurz gestutzt, unterhielt sich gewichtig mit zwei ungeheuer lebhaften Damen, beide eine Spur rundlich werdend in ihren schwarzen Kleidern.
Die Nymphe auf der Felsspitze über ihnen schien sofort Teil dieser romanischen Familiengesellschaft und doch auch gleichzeitig moralisch von ihr getrennt: ein englisches Mädchen vielleicht, das bei Verwandten wohnte, die Geschäftsinteressen in Südamerika hatten, zum ersten Mal verliebt nach einem Besuch auf einer benachbarten Estanzia. Jetzt hatte sie sich von ihren Gastgebern entfernt, um in Ruhe ihren köstlichen geheimen Gedanken nachzuhängen, während sie das Grimassen schneidende Gesicht des Flussgottes betrachtete, das auf dem kurzen Wandstück bei der Grotte in Stein gehauen war. Gedankenverloren und ohne der jungen Tritonen gewahr zu sein, die heftig versuchten, sie durch das wilde Schmettern ihrer Muscheltrompeten von der Quelle wegzuwehen, schaute sie verwundert, dass kein kristallener Schwall sich aus den verzerrten Kiefern des Wassergottes ergoss. Vielleicht hatte sie an einem solchen Ort einen Champagnerstrom erwartet. Obwohl völlig nackt, sah die Nymphe unermesslich sittsam aus, sicher weit weniger provokativ als einige der unter ihr sitzenden, voll bekleideten jungen Frauen, deren olivenfarbene Haut und seidene Strümpfe diese höchst unwinterliche Szene vervollständigen halfen.
Wenn man auf jemanden an einem öffentlichen Ort wartet, entwickelt sich ein Gefühl individueller Einsamkeit; und so hatte ich inmitten all dieser blassrosa und salbeigrünen Möbel und unter den in Cremefarben und Mattgold gehaltenen Dekorationen den Eindruck, ich sei von der übrigen Welt völlig abgeschnitten. Ich verfiel in Grübeleien darüber, wie kompliziert es sei, einen Roman über das englische Leben zu schreiben – ein Thema, das schon schwierig genug ist, wenn man es mit einer auch nur grob naturalistischen Art von Authentizität angeht, das aber noch weit komplexer wird, wenn man die innere Wahrheit der beobachteten Dinge vermitteln will. Jene mir gegenübersitzenden Südamerikaner, die von einem Kontinent kamen, den ich nie besucht hatte und über den ich nur die oberflächlichsten Informationsbrocken besaß, schienen im Zusammenhang mit einem Roman in gewisser Hinsicht leichter fassbar als die meisten der Engländer, die sich in diesem Raum aufhielten. Die Kompliziertheiten des englischen gesellschaftlichen Lebens und seiner Gewohnheiten sperren sich gegen Vereinfachungen, während Untertreibung und Ironie – deren sich alle Klassen dieser Insel in ihren Gesprächen bedienen – die normalen Betonungen wiedergegebener Rede umstoßen.
Wie, so fragte ich mich, könnte in einem Roman ein junger Mann wie zum Beispiel Mark Members beschrieben werden, der so viel mit mir gemeinsam hatte und doch so anders als ich war? Wie könnte dieser Unterschied jenem gravitätischen südamerikanischen Herrn mittleren Alters, der sich mit den rundlichen Damen in Schwarz unterhielt, fassbar gemacht werden? Aus einer gewissen Entfernung betrachtet, mochten Members und ich wohl zu Recht für fast identische Einheiten desselben Organismus gehalten werden, selbst für einen Soziologen kaum zu unterscheiden. Wir waren etwa gleichen Alters, hatten dieselbe Universität besucht und übten beide einen literarischen Beruf aus; allerdings nahm Members auf diesem Gebiet einen gewichtigeren Platz ein als ich, denn er hatte inzwischen mehrere Gedichtbände veröffentlicht und sich als Kritiker einen gewissen Namen gemacht.
Als ich an jenem Abend über Members nachdachte, war es mir unmöglich, ihn ohne Vorurteil zu sehen. Er war es gewesen, das erkannte ich jetzt, der St. John Clarke daran gehindert hatte, die Einleitung zu dem Isbister-Buch zu schreiben. Für sich betrachtet, war das verständlich. Er hatte in dieser Angelegenheit jedoch in einer Weise Ausflüchte gemacht, die seine Missachtung gegenüber der Tatsache bewies, dass wir uns schon eine lange Zeit kannten und immer ziemlich gut miteinander ausgekommen waren. Es gab ohne Zweifel auch auf seiner Seite Schwierigkeiten. Ich musste Vorurteile zu vermeiden suchen, wenn Members, wie ich mir beiläufig vorgestellt hatte, die Grundlage für einen Charakter in einem Roman bilden sollte. Andererseits konnte sich mein Vorurteil als genau das Element erweisen, durch das sich die sonst nicht fassbare Natur dessen, was an ihm von Interesse war, einfangen und unzweideutig bestimmen ließ und das durch seine selektive Kraft die leere, unergiebige Hülse aussonderte, die jene Seite Members’ bildete, die nicht übersetzbar war in die Form der Kunst: ein Element, das Members’ letztliches Wesen, sozusagen seine Stellung in der Ewigkeit, ins Medium der Worte hineinkonzentrierte.
Jede auch nur eine äußerst vage Andeutung überschreitende Darstellung meiner eigenen Persönlichkeit wäre, so überlegte ich, sicher ebenso schwer zu verwirklichen, jedenfalls jede, die nicht etwas absurd klänge. Für Mrs. Erdleigh mochten Verallgemeinerungen das Richtige sein; für mich dagegen war es weniger einfach, einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Selbst die bloßen Fakten hatten einen unwirklichen, fast satirischen Klang, wenn man sie zu Papier brachte, etwa in der Manier endlos vieler russischer Erzählungen des 19. Jahrhunderts: »Ich wurde als Sohn eines Infanterieoffiziers in der Stadt L. geboren …« In England war es fast unmöglich, durch solche Sätze etwas mitzuteilen, das für den Leser relevant sein würde. Zu viele Faktoren mussten bedacht werden. Auch die Untertreibung hatte eine banale Seite, denn während man mit ihrer Hilfe billige Romantik umging, konnte sie auch zur Aussparung unangenehmer Tatsachen verleiten.
Diesen Meditationen über das Schreiben wurde jedoch durch die Südamerikaner ein Ende bereitet, die sich nun geschlossen erhoben und mit vielem Reden und schrillem Gelächter die Stufen hinunter zum...