Powell | Ein Tanz zur Musik der Zeit / Eine Frage der Erziehung | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 1, 256 Seiten

Reihe: Ein Tanz zur Musik der Zeit

Powell Ein Tanz zur Musik der Zeit / Eine Frage der Erziehung

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-941184-76-3
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, Band 1, 256 Seiten

Reihe: Ein Tanz zur Musik der Zeit

ISBN: 978-3-941184-76-3
Verlag: Elfenbein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der zwölfbändige Zyklus »Ein Tanz zur Musik der Zeit« - aufgrund seiner inhaltlichen wie formalen Gestaltung immer wieder mit Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« verglichen - gilt als das Hauptwerk des britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von dem gleichnamigen Bild des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich-Erzählers Jenkins - der durch so manche biografische Parallele wie Powells Alter Ego anmutet - bietet der »Tanz« eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und aufschlussreichen Einblick geben in die Gedankenwelt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten. So eröffnet Powell seinen »Tanz« in dem Band »Eine Frage der Erziehung« mit Szenen der Jugend: Jenkins in der Abschlussklasse des College, während eines Sprachaufenthalts in Frankreich sowie beim Five O'Clock Tea seines Universitätsprofessors. Der historische Hintergrund, hier die 1920er Jahre, scheint dabei immer wieder überraschend schlaglichtartig auf.

Anthony Powell (1905-2000) besuchte das Eton College, studierte in Oxford und heiratete eine Adlige. Er arbeitete als Lektor in einem Londoner Verlag, schrieb Drehbücher und Beiträge für britische Tageszeitungen, war Herausgeber des Magazins »Punch« und Autor zahlreicher Romane. Jene gesellschaftliche Oberschicht Großbritanniens, der er selbst angehörte, porträtierte er in seinem zwölfbändigen Romanzyklus »A Dance to the Music of Time«. Während seine Altersgenossen und Freunde Evelyn Waugh, Graham Greene und George Orwell sich auch im deutschsprachigen Raum bis heute großer Popularität erfreuen, ist Anthony Powell hierzulande noch nahezu unbekannt. Über den Übersetzer Heinz Feldmann vermerkte Anthony Powell in seinem Tagebuch: »I am lucky to have him as a translator.«
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1

Die Männer, die an der Ecke der Straße arbeiteten, hatten sich eine Art Lager aufgeschlagen, wo – durch rote, an dreibeinigen Ständern hängende Sturmlampen markiert – ein tiefes Loch in der Fahrbahn zu dem Netzwerk der unterirdischen Abwasserrohre hinabführte. Um den Eimer mit brennendem Koks vor dem Schutzzelt scharten sich mehrere Gestalten. Mit großen, pantomimischen Gebärden, wie Komiker, die durch Gesten die Vorstellung extremer Kälte vermitteln wollen, rieben sie sich die Hände und schlugen die Arme um ihre Körper. Einer von ihnen, ein hagerer Kerl in blauem Monteuranzug, größer als die übrigen, von spaßigem Gebaren und mit langer, spitzer Nase wie ein Shakespeare’scher Narr, trat plötzlich hervor und warf, als vollzöge er einen Ritus, einen Gegenstand – offensichtlich die lose in Zeitungspapier eingewickelten Reste zweier Bücklinge – auf die glühenden Kohlen. Die Flammen züngelten wild auf, und der Rauch drehte sich hoch in die Wirbel des Nordostwindes. Während der dunkle Qualm über die Häuser glitt, begann es leise aus einem trüben Himmel zu schneien, wobei jede der Flocken kurz aufzischte, wenn sie den Kokseimer erreichte. Die Flammen fielen wieder in sich zusammen, und die Männer wandten sich alle – so als ob die religiösen Pflichtverrichtungen für den Augenblick beendet seien – vom Feuer ab, ließen sich umständlich in die Grube hinab oder zogen sich in das Dunkel ihres Zeltunterstandes zurück. Der Schnee fiel weiter in grauen, zögernden, nicht sehr dichten Flocken, während ein scharfer Geruch bitter und gasig die Luft durchdrang. Der Tag neigte sich dem Ende zu.

Irgendwie weckt der Anblick von Schnee, der auf Feuer fällt, in mir immer Gedanken an die Welt der Antike: an Legionäre in Schafsfellen, die sich an einem Feuerkorb wärmen; an Bergaltäre, auf denen Opfergaben zwischen eisbedeckten Säulen glühen; an Zentauren, die Fackeln tragen und leicht an einem gefrorenen Meer entlanggaloppieren – an verstreute, unzusammenhängende Gestalten aus einer mythischen Vergangenheit also, die von dem gegenwärtigen Leben unendlich entfernt sind und die doch Erinnerungen an Reales und Erdichtetes mit sich bringen. Diese Projektionen aus klassischer Vergangenheit, aber auch etwas in der Körperhaltung der Männer selbst, als sie sich von dem Feuer abwandten, beschworen plötzlich die Szene des Gemäldes von Poussin, in der die Jahreszeiten, Hand in Hand und nach außen gewandt, zu der Musik der Leier tanzen, die der geflügelte, nackte Graubart spielt. Und diese allegorische Darstellung der Zeit weckte dann Gedanken an das irdische Leben: an die Menschen, wie sie, nach außen gewandt wie die Jahreszeiten, sich Hand in Hand in verschlungenem Rhythmus bewegen; wie sie langsam, methodisch und manchmal leicht unsicher schreiten in Wendungen, die erkennbare Formen annehmen, oder wie sie ausbrechen in wilde, scheinbar sinnlose Drehsprünge, während ihre Partner verschwinden, nur um dann wieder zu erscheinen und erneut dem Schaustück eine Struktur zu geben; wie sie unfähig sind, die Melodie, und unfähig vielleicht auch, die Schritte des Tanzes zu bestimmen. Die klassischen Assoziationen riefen aber auch Gedanken an die Zeit in der Schule in mir wach, wo so viele zuvor unvertraute Kräfte allmählich unerbittliche Klarheit angenommen hatten.


Wenn der Winter in jenes Flusstal vorrückte, stiegen gewöhnlich am späten Nachmittag die Nebel auf und streckten sich über das überflutete Gras, bis das Haus und all die Außenbezirke der Stadt eingehüllt waren in undurchsichtigen, frostigen, zigarrenrauchfarbigen Dunst. Das Haus sah auf andere mietskasernenä
hnliche Gebäude, die – Experimente in architektonischer Bedeutungslosigkeit – sich hineindrängten in den den Mittelpunkt bildenden Komplex eindrucksvoller, altertümlicher Bauten, die in vierseitigem, aber unregelmäßigem Stil angelegt waren. Angeschwemmte Rückstände der Jahre schwelten ungestört – und nicht ohne Melancholie – in dem rotbraunen Backsteingemäuer dieser mittelalterlichen Einfriedungen. Auch jenseits ihrer Kopfsteinpflaster und Bogengänge, mehr nach Norden hin, zwischen den Wiesen am Fluss und den Baumalleen, brütete, nicht weniger rätselhaft und untröstlich, die Erinnerung; und manchmal wurde ich fast erdrückt von der Dringlichkeit, mit der die Vergangenheit ihre schwermütigen Forderungen erhob.

Vor der Eingangstür verlief nach Westen hin eine Schotterstraße ins offene Land hinaus, das rauer war als diese gotische Parklandschaft: Weiden, Eisenbahnbrücken, ein Gaswerk, dann noch mehr Weiden – eine Art Steppe, wo das Klima immer extrem zu sein schien, wo es Schneeregen gab, oder Wind, oder drückende Hitze. Ein weites Gebiet, nur lose begrenzt durch die Windungen des Flusses, über dem immer – mal stärker, mal schwächer – der Geruch des Gasometers wehte, jetzt vielleicht in Erinnerung gerufen durch den Qualm des Koksfeuers. In den Anfangstagen des Monats konnte man noch Scharen von Jungen, in Grüppchen und einzeln, diesen Pfad entlangziehen sehen – die Wandervölker der Region, in ewiger Unrast ins Exil hinausstapfend bis zu der Stunde, wenn feuchte Wolken erneut begannen, die roten Häuser zuzudecken und die dahinterliegenden Zinnen und Spitztürme zu verzerren oder in Schleier zu hüllen. Dann, mit der Rückkehr des Nebels, zogen auch diese Nomaden, mit hängenden Köpfen und in lang auseinandergezogenen Reihen, immer wieder zurück in ihre verlassenen Behausungen.

Jetzt aber, zu diesem Zeitpunkt des Jahres, da Schulsport nicht mehr an fünf Tagen pro Woche stattfand, war die Straße leer; nur Widmerpool hoppelte, in einem einst weißen Pullover und mit einer mindestens eine Nummer zu kleinen Mütze, auf den flachen Absätzen seiner Spikes holprig, doch zielstrebig daher. Langsam, aber stetig hob er sich aus der Dämmerung heraus auf mich zu, während ich, gut eingepackt, wie ich mich erinnere, von einer Expedition zur Hauptstraße der Stadt zurückkam.

Es war bekannt, dass Widmerpool freiwillig jeden Nachmittag allein einen »Dauerlauf« machte. Jetzt kehrte er zurück von seinem Trab über die Äcker in dem Nieselregen, der seit den frühen Schulstunden gefallen war. Ich hatte ihn natürlich vorher schon oft gesehen, denn wir gehörten zu demselben Haus; selbst gesprochen hatte ich mit ihm schon, obwohl er ein wenig älter war als ich. Mir waren auch die Anekdoten über seine allgemein anerkannte Seltsamkeit vertraut. Bis zu diesem Augenblick hatten jedoch solche Geschichten ihn mir nicht zu einer lebendigen Person machen können. Erst auf dem trüben Dezemberasphalt jenes Samstagnachmittags im Jahre, ich glaube, 1921 nahm Widmerpool, mit seiner ziemlich stämmigen Figur, mit seinen dicken Lippen und seiner Metallbrille, die dem Gesicht wie gewöhnlich einen gekränkten Ausdruck gaben, feste Gestalt in meiner Vorstellung an. Während die feuchte, durchdringende Kälte von der Straße hochsprang, trieben zwei dünne Dampfstöße aus seinen von Natur aus weiten Nasenlöchern, und plötzlich schien er eine schmerzliche Mitmenschlichkeit zu besitzen, die die Gespräche über ihn mir nie hatten vermitteln können. Etwas Unbehagliches, Unelegantes in seiner Erscheinung drängte sich plötzlich dem Beobachter auf, als Widmerpool sich steif und fast majestätisch auf seinen Absätzen aus dem feinen Nebel herausschob.

Sein Ansehen war nicht hoch. Er war nicht Mitglied in einer Schulmannschaft; und obwohl bei weitem kein Trottel, war er doch kein besonders guter Schüler. Zu jeder Zeit des Jahres konnte man ihn für die Sportart trainieren sehen, die gerade ihre Saison hatte: im Winter einsame Läufe mit oder ohne Fußball; im Sommer »Streckenrudern« auf dem Fluss, wobei er heftig atmete und der Schweiß seine dicken Brillengläser beschlug, während er das schmale Boot durchs Wasser trieb. Soweit ich weiß, hat er nie auch nur das Semifinale in jenen Wettkämpfen erreicht, für die er immer meldete. Meistens war er allein, und auch wenn er mit anderen daherging, schien er irgendwie von ihnen getrennt. Im Hause wurde man eher auf ihn aufmerksam als im Freien, denn er hatte eine hohe Stimme und artikulierte sehr schlecht – so als ob die Zunge zu groß für den Mund sei. Diese Art zu sprechen gab seinen Worten immer den Anschein von Protest, den man auch schon fast erwartete, wenn man in sein Gesicht blickte. Zusätzlich zu seiner ausgeprägt lauten Sprechweise erzeugten die Gummiverstärkungen an den Sohlen und Absätzen seiner Halbstiefel, die er öfter trug als das, was Stringham immer »Widmerpools solide, vernünftige Schuhe« nannte, ein ununterbrochenes Quietschen. Ihr schrilles, rhythmisches Aufheulen, im Lautumfang begrenzt wie der Klang eines barbarischen Orchesters, kündigte warnend sein Näherkommen auf dem Linoleum entfernter Korridore an. Und ihr übelgelaunter, jaulender Klagegesang war erdacht, so schien es, als musikalischer Ausdruck einer Existenz voller Mühen und Verzicht, getrennt verbracht von dem täglichen Leben des Stammes. Vielleicht klingt das alles so, als sei er eine groteske und auffällige Erscheinung gewesen. Im Übermaß war Widmerpool weder das eine noch das andere. Er lebte sein Leben – wie viele andere auch – außerhalb meines engeren Gesichtskreises. Wegen des Altersunterschiedes kannte ich das meiste über ihn nur aus zweiter Hand. Und obwohl er mir an...

Die endlos langen, trostlosen Sonntagnachmittage in der Universitätsstadt wurden etwas erträglicher, wenn man Sillerys Teegesellschaften besuchte, wo jeder nach halb vier hereinschauen konnte. Das Wirken eines mathematischen Gesetzes der Serie regulierte die Zahl der Anwesenden bei diesen Zusammenkünften immer auf zwischen vier und acht Personen — die meisten von ihnen Studenten, aber gelegentlich befand sich auch ein Dozent unter ihnen. Ich wurde etwa Mitte meines ersten Trimesters durch Short, einen sanften Studenten in seinem zweiten Jahr, der zu Sillerys College gehörte und sich für Politik interessierte, in sie eingeführt. Short erklärte mir, dass Sillerys Gesellschaften seit Jahren eine fest etablierte Rolle in dem Leben der Universität spielten und dass die Trockenheit des Gebäcks, das ein äußerst wichtiges Element dieser Nachmittagspartys bildete, zu einem so abgedroschenen Thema akademischen Humors geworden sei, dass selbst Sillery manchmal auf die anhaltend ungenießbare Qualität dieser aus einer vergessenen Kuchenwelt herübergeretteten Fossilien anspielte. Bei diesen Gelegenheiten pflegte Sillery seine Gäste an die spaßigen oder absonderlichen Bemerkungen zu erinnern, die von früheren Generationen junger Männer, die in längst vergangenen Tagen
den Tee bei ihm eingenommen hatten, über das Gebäck fallengelassen worden waren; und er zitierte dabei besonders gern die glänzende Schar seiner Bekannten unter den ehemaligen Studenten, die im späteren Leben zu gewissen Würden aufgestiegen waren — eine Klasse, der er unverhohlene Hochachtung entgegenbrachte.


Anthony Powell (1905—2000) besuchte das Eton College, studierte in Oxford und heiratete eine Adlige. Er arbeitete als Lektor in einem Londoner Verlag, schrieb Drehbücher und Beiträge für britische Tageszeitungen, war Herausgeber des Magazins „Punch“ und Autor zahlreicher Romane. Jene gesellschaftliche Oberschicht Großbritanniens, der er selbst angehörte, porträtierte er in seinem zwölfhändigen Romanzyklus „A Dance to the Music of Time“. Während seine Altersgenossen und Freunde Evelyn Waugh, Graham Greene und George Orwell sich auch im deutschsprachigen Raum bis heute großer Popularität erfreuen, ist Anthony Powell hierzulande noch nahezu unbekannt.



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