E-Book, Deutsch, Band 2, 272 Seiten
Reihe: Ice Guardians
Praßler Ice Guardians 2. Der magische Eissplitter
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96052-399-4
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Entdecke mit der mutigen Heldin die Eismagie. Spannendes Abenteuer Fantasy-Buch für Kinder ab 10 Jahren mit dem Thema Klimaschutz
E-Book, Deutsch, Band 2, 272 Seiten
Reihe: Ice Guardians
ISBN: 978-3-96052-399-4
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Maria Praßler schreibt Drehbücher, Prosa und Kinderbücher. Sie war für den Deutschen Filmpreis nominiert und las beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Mit ihrer Familie lebt sie in Berlin.
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Zeit für Neues
Sonnenstrahlen brachen zwischen den Gipfeln hindurch, und Cléo spürte die sanfte Wärme auf ihrer Haut. Sie saß auf einem moosbewachsenen Baumstumpf neben einem kleinen, plätschernden Bachlauf und streckte ihre nackten Füße ins Wasser, das in der Sonne glitzerte. Blinzelnd schaute sie nach oben zur höchsten Bergspitze. Dort thronte die Gletscherakademie, die sie ab diesem Schuljahr besuchen würde. Cléo fühlte ein Kribbeln am ganzen Körper.
Sie hörte Geröll poltern – waren das Gämsen, die die Steilhänge durchschritten? Durchs Wasser purzelten quirlige, runde Vögelchen, wie hießen die? , dachte Cléo und musste lächeln. Sie war wieder in den Bergen, nur das zählte. Vier Wochen Ferien lagen hinter ihr. Aus dem Holz des Baumstumpfs stieg eine leichte, feuchte Kühle auf, die wahrscheinlich schon den nahenden Herbst ankündigte. War das typisch für einen September in den Alpen?
Mit Jahreszeiten kannte Cléo sich nur schlecht aus. Sie war unter Palmen aufgewachsen und mit ihrem Vater elf Jahre lang von einem heißen, sonnenverwöhnten Ort zum nächsten gezogen. Doch bald würde es Winter werden, zum ersten Mal in ihrem Leben.
Und es würde Winter bleiben. Auch auf dem Gletscher gab es keine Jahreszeiten, nur das ewige Eis – zumindest sollte es so sein: ewig und unzerstört.
Wo blieb Héctor? Cléo zog ihre Füße aus dem Bach, schüttelte sie aus und trocknete sie an der Fleecejacke ab, die sie oben an ihrem großen Rucksack befestigt hatte. Kaum war Cléo wieder in ihre Wanderschuhe geschlüpft, erhob sie sich, schirmte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne ab und blickte suchend in den Schulhof hinab. Direkt unter ihr lag die Schule, die sie vor den großen Ferien besucht hatte: das Mont-Blanc-Internat, kurz MB. Dort hatte sie den gestrigen Tag und die Nacht verbracht – besser gesagt –, um sich von ihrem Jetlag auszuruhen und frisch gestärkt den Weg zum Gipfel anzutreten. Im Moment waren nur wenige Kinder zwischen den Gebäuden – zwischen , und Turnhalle – unterwegs, schließlich hatte das Schuljahr noch nicht begonnen.
Dennoch hatte Héctor, ein älterer Schüler der Gletscherakademie, der am MB als Mentor aushalf, schon mal die allerersten Neuankömmlinge begrüßen wollen. »Nur fünf Minuten, okay?«, hatte Héctor beteuert. Cléo hatte ihm versprechen müssen, auf ihn zu warten. Allerdings dauerten die fünf Minuten inzwischen schon eine halbe Stunde. Mindestens.
So langsam wurde Cléo ungeduldig. Als sie auf den Baumstumpf stieg, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen, sah sie, dass Héctor gerade zwei Viert- oder Fünftklässlern mit schwerem Gepäck den Weg in die wies und dem Kleineren der beiden die Reisetasche abnahm, aus der Skier ragten. Cléo machte Héctor ein Zeichen, er solle sich beeilen, doch er schaute nicht zu ihr.
Am liebsten wäre Cléo alleine losmarschiert. Die Gletscherakademie wartete doch auf sie, sie musste hoch! Cléo blickte in den nahen Wald, durch den der Weg nach oben führte, und glaubte, schon die würzigen Tannennadeln, die harzigen Bergkiefern und die süßlichen Pilze zu riechen. Es war der Wald, in dem Cléo zum ersten Mal ihrem Patentier begegnet war, einem wunderschönen Luchs. Mit golden funkelnden Augen hatte er sie angesehen, als würden sie sich schon immer kennen. Wenn er in ihrer Nähe war, fühlte Cléo sich sicher.
Doch das war sie nicht. Auch deshalb musste sie auf Héctor warten – ein kleiner Kompromiss, andernfalls hätte ihre Grand-mère sie gar nicht erst in die Ferien ziehen lassen. Mit Schaudern dachte Cléo an Jacques Frost, den Seilbahnbesitzer aus dem Val de Chavoix, der hinter ihr her war. Weil sie – vielleicht – die Eissplittermagie besaß, die er brauchte. Cléo wusste nicht viel mehr über diese Magie als deren Namen und Abkürzung – ESM. Alles Weitere würde sie wahrscheinlich an der Gletscherakademie lernen.
Falls sie jemals dort ankäme.
Cléo gähnte. Der lange Flug nach Europa steckte ihr noch in den Knochen. Eigentlich hatte Cléo nicht fliegen wollen – mit einer Schiffspassage wäre jedoch von ihren großen Ferien so gut wie nichts übrig geblieben. »An der Gletscherakademie leistest du doch deinen Beitrag, Cléo«, hatte Rick, ihr Vater, versucht, ihr gut zuzureden. »Du tust mehr fürs Klima als die meisten Menschen, die ich kenne.« Cléo war sich nicht sicher, ob das reichte, und hatte vor, den nächsten Besuch bei Rick ohne Flieger zu planen.
Sie blickte wieder in den Schulhof hinab – Héctor war nicht mehr zu sehen. Hatte er sich schon auf den Weg gemacht? Doch auf dem Pfad, der vom MB hochführte, lief niemand. Vermutlich begleitete Héctor gerade die zwei Neuankömmlinge in die . Cléo tippte seine Nummer auf ihrem neuen Handy an, und als er nicht ranging, machte sie ein paar Fotos und schickte ihrem Vater ein Guten-Morgen-Selfie nach Martinique. Dort, einen ganzen Ozean entfernt, war es noch mitten in der Nacht. Cléo stellte sich vor, wie ihr Vater genau in diesem Moment einen kräftigen Schnarcher ausstieß, wie er sich umdrehen und weiterschlafen würde. Sie lächelte.
Ping! Cléo blickte auf ihr Handy. , las sie Héctors Nachricht.
Cléo seufzte. Héctor half gern, genau genommen ein bisschen gern. Das war seine Art. Cléo hatte ihn erst in den Ferien näher kennengelernt, weil beide in die gleiche Richtung aufgebrochen waren – nach Amerika. Héctor zu seiner Familie nach Peru, Cléo zu ihrem Vater in die Karibik, auf die Insel Martinique, wo er – nachdem er mehrere Wochen im künstlichen Koma gelegen hatte – endlich wieder er selber war und seinen Alltag bewältigen konnte.
Die Grand-mère – , ihres Zeichens Schulleiterin des MB und der Gletscherakademie – ging nicht davon aus, dass sich Jacques Frosts Einfluss bis auf einen anderen Kontinent erstreckte, dennoch hatte sie darauf bestanden, dass Héctor ihre Enkelin zumindest ein Stück weit begleitete; sicher war sicher. Zwar fand Cléo das ziemlich übertrieben, letzten Endes hatte sie sich aber doch gefreut, auf der langen Reise jemanden zum Reden zu haben. Zumal Rosalinde, Cléos treue Gefährtin, eine braune Langschwanzmaus mit rosa Schnauze, die großen Ferien bei Malaika in Tansania verbrachte. Die kleine Maus wollte einfach mal so richtig Urlaub machen, Martinique kannte sie schließlich in- und auswendig! Im neuen Schuljahr wollten Rosalinde und Cléo sich an der Gletscherakademie wiedersehen.
»Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen«, hatte Rosalinde beim Abschied gesagt. »Nicht in vier Wochen, nicht in fünfzig Epochen, sonst muss ich vor Wut kochen … und, ähm, werde noch zum Rochen, und dann, blubb, bin ich weg! Nee, nee, nicht mit mir, das sag ich dir!«
Cléo hatte gelacht, und Rosalinde hatte ihren Kopf schief gelegt: »Oh Mann, das findest du jetzt wieder mal schlecht gereimt, oder? schlecht etwa?!«
»Auf keinen Fall!«, hatte Cléo sich zu sagen beeilt und ihr Kichern notdürftig unterdrückt.
»Oh doch, Cléo Dulac!«, hatte Rosalinde gerufen und sie zum Abschied fest umarmt. »Ich kenne dich!«
Ja, Rosalinde kannte Cléo, und das war ein großes Glück. Schweren Herzens hatte Cléo sie nach Tansania ziehen lassen, auch wenn sie wusste, dass Rosalinde bei Malaika in guten Händen war. Rosalinde war nun mal eine Weltenbummlerin, und das musste sie akzeptieren, so schwer Cléo der Abschied auch gefallen war.
Cléo schwang sich ihren großen Rucksack auf den Rücken und ging ein paar Schritte – nicht weit, nur ein klein wenig in Richtung Wald. Sie wollte endlich hoch zur Gletscherakademie. Wie würde ihr Zimmer aussehen? Welche neuen Schulfächer gab es? Mit wem würde sie die Klasse teilen? Hoffentlich mit Tara. Und mit Malaika.
Doch hatte Malaika die überhaupt bestanden? Oder musste sie zurück aufs Mont-Blanc-Internat? Malaika hatte die ganzen Ferien vergeblich auf eine Nachricht der Schulleitung gewartet – und mit ihr Cléo; jeden Tag waren die Sprachnachrichten, Fotos und Emojis zwischen Martinique und Tansania hin- und hergeflitzt, gemeinsam hatten sie gebangt, vier Wochen lang. Was, wenn Malaika nicht aufgenommen war …? Cléo spürte einen Kloß im Hals. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie gedankenverloren bis an den Waldrand gelaufen war. Sie schloss die Augen und sog den Duft des Waldes tief in sich ein.
Cléo wusste, dass sie umkehren musste, um an der Weggabelung oberhalb des MB auf Héctor zu warten. Eigentlich. Und doch blieb sie einfach stehen, als hielte – sie konnte nicht sagen, was – sie zurück. Cléo öffnete ihre Augen wieder. Ein sanfter Windhauch trug ein leises Rascheln zu ihr, das aus den Geräuschen der Umgebung fein und klar heraustrat. Es schien direkt an sie gerichtet.
Cléo sah, wie sich die Zweige wiegten. Ein Tier musste durchs Unterholz streifen. Oder waren es mehrere? Das Rascheln wurde lauter, deutlicher, und es waren nicht nur die Äste eines einzigen Baumes, die erzitterten.
Schlichen die Tiere direkt auf sie zu? Cléo hielt den Atem an. Doch nicht aus Furcht. Schon sah sie helles Fell durch die Zweige schimmern – weiches, helles Fell mit dunklen Tupfen. Und Pinselohren! Aber nicht nur zwei … War das ihr Luchs, der immer näher kam – und zwar...