E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Pratt Twilight Imperium: Zerfallenes Imperium
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96658-861-4
Verlag: Cross Cult Entertainment
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
            ISBN: 978-3-96658-861-4 
            Verlag: Cross Cult Entertainment
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
TIM PRATT ist ein mit dem Hugo-Preis ausgezeichneter SF- und Fantasy-Autor und Finalist u. a. für die World Fantasy, Sturgeon, Stoker, Mythopoeic und Nebula Awards. Er ist Autor von über zwanzig Romanen und einer Vielzahl von Kurzgeschichten. Seit 2001 arbeitet er für Locus, das Magazin für Science-Fiction und Fantasy, bei dem er derzeit als leitender Redakteur tätig ist.
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KAPITEL 1
In der Nacht, bevor die Aliens kamen, stand Bianca Xing auf der südlichen Wiese und starrte hinauf in die Dunkelheit. Wie immer wurde ihr Blick von einem bestimmten Teil des Nachthimmels angezogen: von einer leere Stelle in der Mitte eines unregelmäßigen Dreiecks, das von drei Sternen gebildet wurde. Dieser scheinbar willkürliche Punkt wanderte im Laufe der Jahreszeiten am Firmament entlang – mal tauchte er ab, mal stieg er auf, manchmal lag er hinter dem Horizont versteckt –, aber seit sie alt genug war, um nach oben zu schauen, verspürte sie eine unerklärliche Faszination für diese drei Sterne und die Dunkelheit, die sie umgab. Nach fast zwanzig Jahren hier auf Darit, in denen ihr ganzes Leben von Klippen und Wiesen und Wäldern (und der Herde von Capriden, mit ihren Hörnern und der schmutzigen Wolle) geprägt gewesen war, war sie der Antwort darauf keinen Deut näher gekommen, warum dieser Punkt am Himmel ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Vielleicht, weil es der am weitesten entfernte Ort ist, den ich mir vorstellen kann«, sagte sie laut. »Ein Ort, der so weit weg ist, dass selbst seine Sterne von hier aus nicht sichtbar sind.« Der Wind wehte ihr das lange, weißblonde Haar aus der Stirn und sie hoffte, dass es romantisch und tragisch aussah, auch wenn niemand sie beobachtete.
Bianca besaß eine dramatische Ader, sehr zur Belustigung ihrer Eltern, und war dafür bekannt, ein wehendes Nachthemd zu tragen und nachts über die Felder zu laufen, während sie über ihr Leben jammerte. Sie war sich ihrer selbst zu sehr bewusst, um das in vollem Ernst zu tun, aber es half ihr, sich die Zeit zu vertreiben.
Bei ihren nächtlichen Wanderungen bestand keine wirkliche Gefahr. Raubtiere wurden durch den Schutzzaun ferngehalten – der eigentlich dazu da war, die Capridenherde zu schützen, aber für sie ebenso nützlich war – und der nächste Mensch befand sich kilometerweit entfernt. Außerdem handelte es sich dabei lediglich um Torvald, der auf der Mech-Farm arbeitete, und der würde ihr nichts antun. Er war so alt, dass er sie sowieso nicht mehr über die Felder jagen konnte, ob mit böser Absicht oder ohne.
Niemand hatte sie je über die Felder gejagt, egal ob mit tödlicher oder mit romantischer Absicht. Dieser Umstand nervte sie zutiefst. Bei den seltenen Ausflügen ihrer Familie in die Stadt, um dort Handel zu treiben oder an den monatlichen Dörflerversammlungen teilzunehmen, sah sie manchmal andere Jugendliche, die ihr schöne Augen machten, aber es gab niemandem, dem sie ebenfalls schöne Augen machen wollte, außer vielleicht Mallory Zeen (ihr Bizeps!) oder Compton Sadler (seine Wimpern!), aber die beiden waren schon miteinander in einer Beziehung und außerdem reich, nicht so ein Bauernkind aus dem Randbezirk wie sie. Bianca ignorierte standhaft die gelegentlichen Flirtversuche der Söhne und Töchter und Enbys, die den Hof besuchten; als sie sich eines Sommers gelangweilt hatte, hatte sie ihren Nachbarn Grandly ein wenig zu sehr ermutigt und seitdem klammerte er sich an sie wie eine Zecke. Grandly war zwar nett und beide Elternpaare meinten, sie würden gut zusammenpassen, aber Grandlys Leben war genauso wie das von Bianca, abgesehen von einem Stechkrautbeet oder einem Wurzelkeller mehr oder weniger. Sie wollte vom Leben, nicht mehr vom gleichen Einerlei.
Ihre Mutter Willin sagte, sie habe ihre Ziele zu hoch gesteckt: »Du schaust immer zu den Sternen auf, Bianca, aber es gibt auch wunderbare Dinge hier unten direkt vor deinen Füßen.« Ihr Vater Keon paffte bloß seine Pfeife und meinte: »Mmmmh, ja ja.«
Eltern.
Allerdings würde Bianca bald zwanzig werden und die Zeichen waren in letzter Zeit deutlicher geworden. Sie musste herausfinden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, denn jede Nacht auf den Feldern herumzuhängen würde nirgendwo hinführen, auch wenn sie stets darauf achtete, zuerst alle ihre Aufgaben zu erledigen. Ihre Optionen waren einfach alle schrecklich. Paarbindung mit Grandly? Nein, danke. Bei Torvald auf dem Schrottplatz arbeiten? Besser, aber immer noch zu wenig. Einen Sack voll Essen stehlen und sich auf den Weg machen, um ihr Glück zu suchen? Viel besser, aber sie könnte einmal komplett um Darit herumlaufen und trotzdem den Sternen – der Ort, wo sie hinwollte – kein bisschen näher kommen. Sie hatte Geschichten über Weltraumreisen gelesen, aber niemand auf Darit war dazu in der Lage.
Ein neues Licht erschien am Himmel. Zuerst dachte Bianca, es sei eine verirrte Reflexion von einem der Orbitalspiegel. Darit war eine felsige, kalte, unwirtliche Welt, aber die ursprünglichen, inzwischen längst verstorbenen Kolonisten hatten Maßnahmen ergriffen, um gewisse Regionen des Planeten bewohnbar zu machen, vor allem durch Orbitalspiegel, die Licht bündelten, um die Oberflächentemperatur in Dutzenden von Zonen zu erhöhen. Außerdem gab es die schwebenden Regenmacher, bauchige, blassgraue Gebilde, die unablässig hoch oben durch die Luft glitten, Wasser sammelten und die Wolken zum Regnen anregten. Der alte Torvald spekulierte, dass hier noch weitere uralte Technologien am Werk waren – atmosphärische Maschinen, die als Berge getarnt waren, Kohlenstoffspeicher, die wie Bäume aussahen, vergrabene Bodenanreicherungsgeräte –, doch wer wusste das schon mit Sicherheit? Ihre Vorgänger hatten große Macht besessen, aber niemand kannte das Ausmaß oder wusste, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatten, Teile einer Eiskugel wie Darit bewohnbar zu machen.
Sie blinzelte und entschied, dass es sich bei dem Licht nicht um eine Spiegelreflexion handeln konnte, weil es sich zu schnell bewegte. Also nur eine Sternschnuppe? Nein, denn der Streifen wurde langsamer und stoppte und verdichtete sich dann zu einem festen Punkt, der nicht mehr blinkte. Jetzt sah er wie ein Stern aus, aber Bianca kannte jeden Stern in ihrem Teil des Himmels und ließ sich davon nicht täuschen.
Sie starrte das Licht eine lange Zeit an, aber es tat nichts Interessantes. Vielleicht war es ein Schiff? Ein echtes Raumschiff? Torvald hatte auf der Mech-Farm einige Schrottteile, von denen er , dass sie von Schiffen stammten, aber die waren kaputt, rostig und verbogen. Dieses Raumschiff musste elegant, schimmernd und mächtig sein, wie jene in den Geschichten.
Vielleicht war es ein Abgesandter des Kaisers der Galaxie!
Sie hatte über das Imperium in Büchern gelesen, die sie aus dem Gewölbe unter dem Dörflerversammlungssaal mitgehen gelassen hatte, und der alte Torvald kannte eine Menge Geschichten über Kriege, Schlachten und Intrigen, aber sie stimmten nicht alle miteinander überein, was er auch selbst zugab. Was könnte der Kaiser von einem Ort wie diesem überhaupt wollen? Vielleicht verfügte Darit über irgendeine seltene Ressource, die das Imperium brauchte – es gab überall verlassene Minen, also vielleicht existierte hier ein Erz, das man nirgendwo anders finden konnte? Möglicherweise ging es auch um eine seltene Pflanze oder vielleicht waren die Capriden die Quelle einer Wunderdroge, die Unsterblichkeit verlieh, und der Kaiser wollte hier einen Raumhafen bauen und neue Menschen aus der ganzen Galaxie ansiedeln.
Womöglich waren sie eigentlich wegen hier. Das war der Beginn einer alten Fantasie, die sie im Laufe der Jahre sorgfältig ausgeschmückt hatte: Sie war insgeheim eine Prinzessin, die zu ihrer eigenen Sicherheit auf einem abgelegenen Planeten versteckt worden war, aber wenn die Zeit gekommen war, würde sie gerettet werden und ihr ruhmreiches Geburtsrecht zurückerlangen.
weit hergeholt war das gar nicht. Bianca war adoptiert worden und ihre biologischen Eltern waren unbekannt, so viel stimmte also. Ihr Vater hatte sie als Baby im Wald gefunden, schreiend und hilflos, und ihre Eltern hatten sie seither wie ihr eigenes Kind aufgezogen. Die Wahrheit über ihre Herkunft war das Geheimnis, das im Mittelpunkt ihres Lebens stand – in einer kleinen Gemeinde wie der ihren war das Auftauchen eines unbekannten Kindes ein waschechtes Mysterium. Was, wenn sie heimlich die Tochter des Kaisers war, gezeugt mit einer Mätresse, und die Frau des Kaisers wollte sie töten, also hatte ihr Vater sie auf diesen abgelegenen Planeten geschickt, wo sie sicher war, weil niemand nach ihr suchen würde? Vielleicht gehörte das neue Licht am Himmel zu einem Schiff voller Attentäter, die sie ermorden wollten, bevor sie den Thron besteigen konnte?
Bianca runzelte die Stirn. Nein, zu düster. Besser: Die gemeine Frau des Kaisers war tot, der Kaiser war krank und da es keine anderen Erben gab, brauchte man sie, denn ohne sie würde das Imperium zusammenbrechen! Sie waren hier, um sie auf einem kaiserlichen Vergnügungsschiff mitzunehmen, sie in schimmernde Roben zu kleiden, sie mit seltenen Juwelen zu krönen und ihr gute Manieren und Verhaltensweisen beizubringen.
Sobald sie auf der imperialen Hauptwelt landete – sie hatte vergessen, wie Torvald sie genannt hatte, Mehibatel Rocks oder so? –, würden ihre treuen Untertanen ihren Namen...





