E-Book, Deutsch, 182 Seiten
Prieler-Woldan "Vielleicht hätte ich eine Familie. Vielleicht hat jemand um mich geweint"
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7065-6294-2
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das "fremdvölkische Kinderheim" in Spital am Pyhrn 1943–1945
E-Book, Deutsch, 182 Seiten
ISBN: 978-3-7065-6294-2
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maria Prieler-Woldan, Dr. phil., geb. 1958, Soziologin und historische Sozialforscherin, Linz (Österreich). Zahlreiche Publikationen, u. a. 'Das Konzil und die Frauen. Pionierinnen für Geschlechtergerechtigkeit in der katholischen Kirche' (2013), 'Von Kremsmünster nach Brasilien. Lebensbild Bischof Richard Weberberger' (2015), 'Das Selbstverständliche tun. Die Salzburger Bäuerin Maria Etzer und ihr verbotener Ein-satz für Fremde im Nationalsozialismus' (2018).
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2. Spital am Pyhrn – Dorf im Gebirge: Bevölkerung, Geschichte und politische Entwicklung
Spital am Pyhrn – Hospiz am Alpenübergang
Die Gemeinde Spital am Pyhrn, in der Ortschronik „Dorf im Gebirge“ genannt, ist ca. 90 Kilometer von der Landeshauptstadt Linz entfernt. Sie liegt, umgeben von Bergketten, im südlichen Oberösterreich am Ende des Garstnertales und zugleich am Fuß des Pyhrnpasses, der die Grenze zur Steiermark bildet. Die Verbindung zwischen den beiden Bundesländern ist heutzutage wetterunabhängig via Bahnbzw. Autobahntrasse durch den Bosrucktunnel gewährleistet.
Über den Pyrhnpass auf 945 m Seehöhe führten schon in alter Zeit Verkehrswege, z. B. die Verbindung von Aquileia (heute Italien, Region Friaul/Julisch-Venetien) nach Ovilava12 (Wels). Zur Kreuzzugszeit entstanden im österreichischen Raum an Pässen, wie z. B. auch am Wechsel und Semmering, Pilgerhospize, daher der Ortsname Spital. Sie dienten nicht nur Reisenden und Kranken, sondern sollten auch den Passverkehr sichern und den politischen Einfluss weltlicher und geistlicher Herrschaften gewährleisten. Daher wurden die Hospize großzügig mit Grund- und Forstbesitz sowie mit Bezugsrechten von Salz, Fisch und Wein ausgestattet. Das Hospital am Pyhrn, welches zum Bischof von Bamberg gehörte, besaß u. a. Höfe und Weingärten in der Steiermark und in der Wachau.13
Unter dem ersten Spitalmeister, der einer Bruderschaft von Laien und Klerikern vorstand, wurde 1198 eine Kirche gebaut, in deren Nähe sich nach der Rodung bäuerliche Liegenschaften und Hofgewerbe ansiedelten. So gab es im frühen 14. Jahrhundert schon eine Hoftaverne und einen Hofschmied und entlang des Trattenbaches drei Mühlen. Zur Versorgung der Bruderschaft und des anwachsenden Wirtschaftsverkehrs über den Pass sind zu dieser Zeit auch schon ein Hofbäcker sowie die Gewerbe von Schneider, Kürschner, Fassbinder, Zimmermann und Bader nachzuweisen.14
1418 wurde in Spital ein Chorherren-Stift eingerichtet. Im Zuge der Gegenreformation entstand zwischen 1642 und 1736 eine prächtige Barockanlage von Stift und Kirche, die das Ortsbild bis heute prägt. Nach Aufhebung des Stiftes 1807 übernahmen kurzzeitig Mönche aus St. Blasien im Schwarzwald die verlassenen Gebäude, sie zogen aber schon nach zwei Jahren nach Kärnten (St. Paul im Lavanttal) weiter, nicht ohne besondere Schätze mitzunehmen, eine kostbare Monstranz und wertvolle Schriften.15 Als Ort für Schätze, die entwendet, verwahrt und abtransportiert wurden, bekamen das Stift und seine Kirche nochmals im Nationalsozialismus Bedeutung, worauf ich weiter unten näher eingehe.
Wie die nach dem Süden weiterreisenden Mönche den Pyhrnpass überquerten, ist nicht überliefert. Zur Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia wurde jedenfalls die Passstraße verbessert, und ab 1842 führte eine Postlinie von Wels nach Liezen. Die Postkutsche konnte die Steigung über den Pass jedoch nur ohne Passagiere bewältigen, weshalb diese dort aussteigen und ein Stück zu Fuß gehen mussten.16
Der Errichtung einer ersten Lokalbahn auf der oberösterreichischen Seite folgte ab 1901 der Bau der Pyhrnbahn mit mehreren Talübergängen, kleineren Tunneln und schließlich dem 4,8 km langen Bosrucktunnel. Diese Verbindung der westlichen Teile der Monarchie mit deren Haupthafen Triest hatte allerdings weniger die Bequemlichkeit der Reisenden als vielmehr wirtschaftliche Überlegungen als vorrangiges Ziel, wie es der Reichstagsabgeordnete Dr. Sylvester im Mai 1901 im Abgeordnetenhaus erläuterte:
„Längs der neuen Strecke befinden sich reiche Lager von Gips, Alabaster, schwarzem und rotem Marmor, wertvollem Sandstein, Weißkalk, Tonlager, Steinkohle, Zement […], weiter Torfmoore, Schwefelquellen, Salzquellen und ungemein reiche Holzbestände. Über den Pyhrn gehen laut Mautgebühr zirka 10.000 Stück Vieh jährlich. Die bedeutendste Industrie, die durch diese Strecke gefördert wird, ist die Sensenindustrie. Vier Jahrhunderte lassen sich die Sensenschmiedezünfte nachweisen. Von den in Österreich im Jahre 1898 erzeugten Sensen fallen auf das Windischgarstner Tal fast der zehnte Teil. Infolge der schlechten Bahnverbindungen und die dadurch erschwerte Konkurrenz mussten17 von 22 Sensenwerken bereits sechs Werkstätten geschlossen werden […].“18
Diese Entwicklung konnte allerdings auch die neue Bahnverbindung nicht aufhalten, wie sich zeigen sollte.
Sensenschmieden, Hammerherren und der Lindenhof
Eines dieser traditionsreichen Sensenwerke und seine Familiengeschichte werden hier näher beleuchtet, weil das später errichtete dazugehörige Herrenhaus, der heutige Lindenhof, im 20. Jahrhundert an eine NS-Organisation vermietet wurde, die das „fremdvölkische“ Kinderheim betrieb.
Am „Vordern Hasenberg zu Spital am Pirn“ wurde im Jahr 1555 vom „Dechant zu Spital“ ein Grundstück zur Errichtung einer Sensenschmiede verkauft. Das erbaute Werk hatte im Lauf der Zeit verschiedene Besitzer. Durch wirtschaftliche Tüchtigkeit und gezielte Heiratspolitik kamen zur Schmiede weitere Gebäude, eine Alm und Viehbestand hinzu, bis im Jahr 1756 Gottlieb Weinmeister vom Prietal bei Leonstein und seine Braut Maria Theresia Moser vom Sensenhammer zu Knittelfeld in der Steiermark den gesamten Besitz um 7784,05 Gulden käuflich erwarben.19
Die Weinmeister-Dynastie führte dann den Betrieb und gab den Besitz weiter bis ins 21. Jahrhundert. Gottlieb Weinmeister I., der 1803 starb, übergab schon ein beträchtliches Vermögen. Fünf Söhne wurden alle Sensenschmiedemeister, zwei Töchter heirateten Besitzer von Hammerwerken. Weinmeisters Witwe Maria Theresia übergab 1807 an den Sohn Gottlieb Weinmeister II., der sich zeitgleich mit Zäzilia Zeitlinger, Sensenmeistertochter aus Molln, verheiratete. Seine Frau, die ihm drei Kinder gebar, starb jung, worauf Gottlieb ihr 1813 eine Kapelle errichten ließ und 1815 neuerlich eine Hammerherrentochter heiratete, neun weitere Kinder folgten. Er erwarb eine Alpe, ein weiteres Sensenwerk in der Grünau und Schurfrechte an Steinkohlen. 1831 ließ er sein Wohnhaus neu aufbauen: „Es wurde eines der schönsten Herrenhäuser der Sensenschmieden im Bereich der Innung Kirchdorf-Micheldorf “20.
Zur Blütezeit waren die Sensenwerke voll ausgelastet, der Wohlstand der sogenannten „Schwarzen Grafen“ zeigte sich in neu errichteten herrschaftlichen Häusern mit gehobener Wohnkultur, wertvollem Mobiliar, einer eigenen Tracht für die Unternehmer und deren Frauen. Gottlieb Weinmeister II. ließ sich um 1838 sogar auf einem Gemälde verewigen, das ihn im Kreis seiner biedermeierlich gekleideten großen Familie in seinem noblen Salon präsentiert21. Auch eine Schenkungsurkunde zur Übergabe des Besitzes an seine zwölf Kinder ist erhalten.
Sein Sohn Gottlieb Weinmeister III. (geboren 1808) heiratete seine Cousine vom Sensenhammer „an der Zinne“ und übernahm das väterliche Erbe 1845. Die Weinmeister-Brüder Franz in der Grünau und Gottlieb am Hasenberg hatten durch das Verfahren des schweißbaren Tiegelgussstahles die Sensen technisch verbessert, was auch dem Absatz nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz förderlich war: „Das Sensenwerk Vorderer Hasenberg beschäftigte 1851 28 Arbeiter und lag mit der Produktion von 40.000 Sensen und Sicheln an der Spitze der Sensenwerke des Tales. […] Die Konkurrenz brachte es mit sich, dass sich um 1856 zwei der Spitaler Werke, Hasenberg und Au, gegenüber den anderen beiden durchgesetzt hatten.“22
Was nach dieser wirtschaftlichen Blüte blieb, „war die gesellschaftliche Bedeutung der Hammerherren, die seit 1868 in der Genossenschaft zu Kirchdorf/ Micheldorf vereinigt waren. In Spital schienen sie in dieser Zeit überhaupt gleichsam einer großen Familie anzugehören.“23
Nach dem Tod Gottliebs im Jahr 1873 übergab seine Witwe Juliane 1881 an Sohn Franz (geboren 1846), der 1882 die Tochter eines Hausbesitzers und Müllnermeisters Cäzilia Kemetmüller (geboren 1855) heiratete.
Franz Weinmeister starb 1893 im Alter von nur 47 Jahren. Außerdem brannte 1895 das zur Firma gehörende Sägewerk ab, und überdies war die Blütezeit der Sensenerzeugung vorbei. Die Witwe Cäzilia Weinmeister konnte den Betrieb nicht weiterführen und musste Wald und Grundstücke verkaufen. Sie hatte jedoch eine Konzession für das Gastgewerbe übernommen24 und beherbergte Übernachtungsgäste, z. B. auch Studenten, die zum Wintersport kamen.
Die einzige Tochter, 1883 geboren und wie ihre Mutter Cäzilia genannt, verheiratete sich 1912 mit Ferdinand Schürrer (geboren 1870), einem ausgebildeten Apotheker, der schon als Student nach Spital zum Schifahren gekommen war und im Lindenhof Quartier genommen hatte. Aus Rücksicht auf die betagte Witwe und Mutter seiner Braut habe er nach der Heirat die Apotheke in Enns aufgegeben und sich in Spital niedergelassen, so wird in der Familie erzählt.25 Ferdinand Schürrer, der aus Waidhofen an der Ybbs stammte und aus Enns zuzog, führte dort jedoch keine Apotheke.26 Er war zum Zeitpunkt der Heirat schon 42 Jahre alt und hatte nach zwei...




