Proust | Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 6 | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 500 Seiten

Reihe: Reclam Bibliothek

Proust Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 6

Die Entflohene
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-15-961070-2
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Entflohene

E-Book, Deutsch, 500 Seiten

Reihe: Reclam Bibliothek

ISBN: 978-3-15-961070-2
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Im September 2013, 100 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes der »Recherche«, begann bei Reclam eine neue Übersetzung von Marcel Prousts Meisterwerk zu erscheinen, die erste komplett aus einer Hand, die erste auch, die von dem erst in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts edierten endgültigen französischen Text ausgeht. Die Ausgabe bietet in jedem Band einen ausführlichen Anmerkungsapparat, der jene historischen und kulturhistorischen Informationen enthält, die der Leser erwartet. »Die Entflohene« ist der sechste Band des insgesamt siebenbändigen Romanwerks. Albertine ist gegangen - damit endete Band 5. Marcel versucht nun, sie mit Hilfe von Emissären und Briefen voller Versprechungen zurückzugewinnen. Das scheint zu gelingen, in ihrem letzten Brief kündigt sie ihre Bereitschaft zur Rückkehr an. Doch wird dieser Brief von einem Telegramm überholt, in dem Albertines Tante dem Erzähler mitteilt, dass ihre Nichte bei einem Reitunfall tödlich verletzt worden ist. Die folgenden Kapitel stehen im Zeichen der Trauer und der Trauerbewältigung. Marcel versucht zunächst, Klarheit über Albertines Homosexualität zu gewinnen, und beginnt erst nach einem allmählichen Prozess des Vergessens, sich für andere Frauen zu interessieren. Bei einem Spaziergang im Bois trifft er seine Jugendgeliebte Gilberte wieder. Sie hat inzwischen reich geerbt und ist als Mademoiselle de Forcheville zum Liebling des Faubourg Saint-Germain geworden. Mit seiner Mutter reist er nach Venedig, wo ihm Albertine schließlich ganz und gar gleichgültig wird. Bei der Heimfahrt erfährt er von der Heirat Gilbertes mit Robert de Saint-Loup. Zurück in Frankreich, macht Marcel einen Besuch bei der nun in Tansonville lebenden schwangeren »Strohwitwe« Gilberte de Saint-Loup, deren Mann noch immer beim Militär ist und der inzwischen ein überraschendes außereheliches Liebesleben führt.  

Marcel Proust (10.7.1871 Paris - 8.11.1922) kommt als ältester Sohn eines wohlhabenden Arzt-Ehepaares zur Welt, was ihm zeitlebens eine von ökonomischen Sorgen unbeschwerte Existenz ermöglichen wird. Bis er Mitte dreißig ist, führt er das mondäne Leben eines Dandys, danach widmet er sich ausschließlich seinem Romanwerk, an dem er bei Nacht in seinem korkgetäfelten, vom Rauch des Asthmapulvers durchzogenen Schlafzimmer am Boulevard Haussmann arbeitet. Die sieben Bände 'À la recherche du temps perdu' kreisen um die Reflexionen eines Erzähler-Ichs über Erinnerung, Wahrheit und Bedeutung, die nur im Mittelteil des ersten Bandes 'Un amour de Swann' (dt. 'Eine Liebe von Swann') durch die auktoriale Erzählung um Charles Swann unterbrochen wird. Im Frühjahr 1922 setzt Proust das Wort FIN - ENDE - unter das Manuskript des letzten Bandes 'Le temps retrouvé' (dt. 'Die wiedergefundene Zeit'), ein halbes Jahr später stirbt er, nur 51 Jahre alt.Proust verkehrte im literarischen Salon Madeleine Lemaires in Paris, ein kultureller Hotspot, in dem namhafte Politiker wie Raymond Poincaré, Paul Deschanel oder Léon Bourgeois, Adelige wie Prinzessin Mathilde Bonaparte oder die Comtesse Greffulhe sowie Schriftsteller wie Jacques Bizet, Guy de Maupassant, Paul Bourget und Robert de Montesquiou zusammenkamen. In diesem Milieu lernte er auch seinen späteren Geliebten und Lebensmenschen Reynaldo Hahn kennen, mit dem ihn ein lebenslanger Briefwechsel von rund 220 Schriftstücken verbindet. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer:Bernd-Jürgen Fischer, ursprünglich Mathematiker und Linguist, ist nach längerer Tätigkeit am Germanistischen Fachbereich der Freien Universität Berlin als freier Autor tätig und hat sein Interesse in den letzten zehn Jahren vorwiegend der französischen Literatur zugewandt.
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[7] Erstes Kapitel


Kummer und Vergessen*

»Mademoiselle Albertine ist gegangen!« Wie das Leiden doch so viel tiefer eindringt in die Logik der Psyche als die Psychologie! Einen Moment zuvor noch, als ich mich selbst analysierte, hatte ich geglaubt, eine solche Trennung, ohne sich noch einmal zu sehen, sei genau das, was ich wünschte, und als ich die schalen Vergnügungen, die Albertine mir bot, mit der Fülle von Wünschen verglich, um deren Verwirklichung sie mich brachte (und denen es die Gewissheit ihrer Anwesenheit bei mir zu Hause, der Druck meiner seelischen Atmosphäre, zwar gestattet hatte, in meiner Seele an die vorderste Stelle zu rücken, die jedoch bei der ersten Nachricht, dass Albertine gegangen sei, gar nicht erst in Konkurrenz mit ihr treten konnten, denn sie hatten sich sogleich verflüchtigt), hatte ich mich sehr scharfsinnig gefunden und gefolgert, dass ich sie nicht mehr sehen wolle, dass ich sie nicht mehr liebe. Doch die Worte »Mademoiselle Albertine ist gegangen« hatten meinem Herzen ein solches Leid zugefügt, dass ich spürte, ich würde dem nicht länger standhalten können. Demnach war also das, was ich für eine Belanglosigkeit gehalten hatte, schlicht und einfach mein ganzes Leben. Wie wenig man sich kennt. Ich musste meinem Schmerz unverzüglich ein Ende bereiten; so zartfühlend mir selbst gegenüber, wie es meine Mutter mit meiner sterbenden Großmutter gewesen war, sagte ich mir mit der gleichen guten Absicht, jemanden, den man liebt, nicht leiden zu lassen: »Hab einen Augenblick Geduld, man wird dir ein Heilmittel besorgen, sei ganz beruhigt, man wird dich nicht derart leiden lassen.« Und da ich dunkel ahnte, dass, wenn mir eben, bevor ich geläutet hatte, Albertines Fortgehen noch hatte gleichgültig oder sogar wünschenswert erscheinen [8] können, dies nur deshalb so war, weil ich es für unmöglich gehalten hatte, suchte mein Selbsterhaltungstrieb mit Gedanken der folgenden Art die ersten Linderungsmittel auf meine offene Wunde zu legen: »Das alles hat überhaupt nichts zu bedeuten, weil ich sie umgehend zurückkommen lassen werde. Mittel und Wege werde ich mir noch überlegen, aber so oder so wird sie heute abend hier sein. Folglich ist es sinnlos, dass ich mich aufrege.« »Das alles hat gar nichts zu bedeuten« – ich hatte mich nicht damit begnügt, das zu mir selbst zu sagen, auch bei Françoise hatte ich versucht, diesen Eindruck zu erwecken, indem ich ihr gegenüber mein Leiden nicht zu erkennen gab, denn selbst in dem Moment, in dem ich meine Liebe mit einer solchen Heftigkeit spürte, vergaß sie nicht, wie wichtig es ihr war, als eine glückliche Liebe zu erscheinen, als eine erwiderte Liebe, und ganz besonders in den Augen von Françoise, die Albertine nicht mochte und immer an ihrer Aufrichtigkeit gezweifelt hatte. Ja, gerade eben noch, bevor Françoise hereingekommen war, hatte ich geglaubt, Albertine nicht mehr zu lieben, hatte ich geglaubt, als exakter Analytiker nichts unberücksichtigt gelassen zu haben; ich hatte geglaubt, mein Herz von Grund auf zu kennen. Doch unser Verstand, so mächtig er auch sei, kann die Elemente nicht erkennen, aus denen es sich zusammensetzt und die man nicht ahnt, solange sie nicht von einem Ereignis, das sie herauszulösen vermag aus dem flüchtigen Zustand, in dem sie sich die meiste Zeit befinden, dem Beginn einer Verfestigung unterworfen werden. Ich hatte mich getäuscht, als ich glaubte, in meinem Herzen klarzusehen. Doch diese Erkenntnis, die mir die feinsten Wahrnehmungen meines Geistes nicht vermittelt hatten, war so hart, gleißend und fremd wie ein kristallisiertes Salz durch die jähe Reaktion des Schmerzes an mich herangetragen worden. Es war mir so selbstverständlich, Albertine um mich zu haben, und nun sah ich plötzlich ein ganz neues Gesicht der Gewohnheit. Bisher [9] hatte ich sie vor allem als eine zerstörerische Kraft angesehen, die alle Originalität und sogar die bewusste Wahrnehmung unterdrückt; jetzt sah ich in ihr eine furchteinflößende, so fest an uns geschmiedete Gottheit, deren nichtssagendes Gesicht so tief in unser Herz eingeprägt ist, dass diese Gottheit, die wir kaum zu erkennen vermochten, uns dann, wenn sie sich von uns löst, wenn sie sich von uns abwendet, schrecklichere Leiden zufügt als jede andere, und dann ist sie ebenso grausam wie der Tod.

Das Dringlichste war jetzt, Albertines Brief zu lesen, denn ich wollte auf Mittel sinnen, sie zur Rückkehr zu bewegen. Ich spürte, dass ich diese besaß, denn da die Zukunft das ist, was nur erst in unserem Denken existiert, erscheint sie uns durch einen Eingriff unseres Willens noch in letzter Minute beeinflussbar. Doch gleichzeitig erinnerte ich mich daran, dass ich schon andere Kräfte als nur die meinen auf sie hatte einwirken sehen, gegen die ich, stünde mir auch mehr Zeit zur Verfügung, nichts hätte ausrichten können. Was nützt es, dass die Stunde noch nicht geschlagen hat, wenn wir nichts daran machen können, was geschehen wird. Als Albertine noch im Haus war, war ich entschlossen, hinsichtlich unserer Trennung die Initiative zu behalten. Und dann war sie gegangen. Ich öffnete Albertines Brief. Er war folgendermaßen abgefasst:*

Mein Freund, entschuldigen Sie, dass ich es nicht gewagt habe, Ihnen die folgenden paar Worte selbst zu sagen, aber ich bin so feige, ich habe immer so große Angst vor Ihnen gehabt, dass ich, selbst wenn ich es erzwingen wollte, nicht den Mut aufbringen konnte, es zu tun. Hier also, was ich Ihnen hätte sagen sollen: Unser Zusammenleben ist unmöglich geworden, Sie haben ja an Ihrer Szene neulich abend gesehen, dass sich in unserer Beziehung etwas verändert hat. Was sich in jener Nacht noch bereinigen ließ, würde in wenigen Tagen nicht mehr gutzumachen sein. Es ist daher besser, da uns das [10] Glück beschieden war, uns zu versöhnen, als gute Freunde auseinanderzugehen; deshalb, mein Liebling, schreibe ich Ihnen diese Worte, und ich bitte Sie, so gut zu sein, mir zu verzeihen, falls ich Ihnen ein wenig Kummer bereite, indem Sie an den unermesslichen denken, den ich haben werde. Mein lieber Großer, ich will nicht Ihre Feindin werden, es wird schon hart genug für mich sein, Ihnen nach und nach, und doch recht schnell, gleichgültig zu werden; da meine Entscheidung zudem unwiderruflich ist, werde ich Françoise, noch bevor ich sie diesen Brief zu Ihnen bringen lasse, um meine Koffer bitten. Leben Sie wohl, ich lasse das Beste von mir bei Ihnen zurück. Albertine.

All das bedeutet nichts, sagte...



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