E-Book, Deutsch, Band 23, 704 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
Proust Der gewendete Tag
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-27535-8
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 23, 704 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
ISBN: 978-3-641-27535-8
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die «Recherche» en miniature
Zum 150. Geburtstag des großen französischen Romanciers am 10.7.2021 erscheint hier ein Destillat von Prousts siebenbändigem Hauptwerk in Neuausgabe. Darin begegnet man bereits den Guermantes und Verdurins, Albertine und vielen anderen bekannten Figuren aus dem Proust-Kosmos, oft in überraschender Beleuchtung und reizvoller Akzentuierung. Bei «Der gewendete Tag» handelt es sich um ein Mosaik aus neunzehn Prosastücken, die von 1912 bis 1923 in Zeitschriften erschienen und «Die Suche nach der verlorenen Zeit» eindrucksvoll vorbereiten und ergänzen. In der kongenialen Übersetzung von Christina Viragh und Hanno Helbling bietet dieser spezielle Band Kennern wie Entdeckern einen komprimierten Proust. «Keine schönere Einladung zur Lektüre Prousts scheint denkbar als diese von ihm selbst ausgewählten Begegnungen eines vielschichtigen Bewusstseins mit einer unendlich genau erfassten Wirklichkeit.» Karlheinz Stierle, NZZ
Marcel Proust (1871-1922) wuchs in Paris auf und studierte dort Jura, war aber nur kurze Zeit als Anwalt tätig, da er als Sohn eines wohlhabenden Arztes finanziell unabhängig war. Er verkehrte in den Pariser Salons und führte das mondäne Leben eines Dandys, bis er im Alter von 35 Jahren wegen seines schlimmen Asthmaleidens zum Rückzug aus der Gesellschaft gezwungen war. In der Einsamkeit seiner Wohnung am Boulevard Haussmann verdichtete er seine Beobachtungen und Erlebnisse zu seinem Hauptwerk «A la recherche du temps perdu» (7 Teile, erschienen 1913-1927), das er erst wenige Monate vor seinem Tod beendete. Marcel Proust, 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, gilt neben Joyce und Kafka als Begründer der literarischen Moderne.
Weitere Infos & Material
Vorfrühling Letzthin las ich im Zusammenhang mit diesem vergleichsweise milden Winter – der heute zu Ende geht –, es habe in früheren Jahrhunderten Winter gegeben, da schon im Februar der Weißdorn blühte. Mein Herz klopfte heftig bei diesem Namen, dem Namen meiner ersten Liebe zu einer Blume. Noch heute bin ich, wenn ich sie betrachte, wieder gleich alt und gleich gestimmt wie damals, als ich sie zum ersten Mal sah. Erblicke ich in weiter Entfernung ihre weiße Gaze in einer Hecke, schon wird das Kind wiedergeboren, das ich damals war. So wird der schwache und nackte Eindruck, den andere Blumen auf mich machen, beim Anblick von Weißdorn durch weit zurückliegende, jüngere Eindrücke verstärkt, die ihn begleiten wie die frischen Stimmen von unsichtbaren Chorsängern, die bei gewissen Galavorstellungen die verbrauchte Stimme eines alten Tenors unterstützen und auffüllen müssen, während er eine seiner alten Weisen singt. Wenn ich also gedankenverloren stehen bleibe und den Weißdorn betrachte, so ist eben nicht nur mein Gesichtssinn, sondern es sind auch mein Erinnerungsvermögen und meine ganze Aufmerksamkeit im Spiel. Ich versuche herauszufinden, welche Tiefe das ist, von der sich die Blütenblätter abzuheben scheinen und die der Blume gleichsam eine Vergangenheit, eine Seele verleiht; warum ich da Kirchenlieder und vergangenen Mondschein zu erkennen meine. * Weißdorn sah ich – oder bemerkte ich – zum ersten Mal in der Marienandacht. Nicht zu trennen von den Mysterien, an deren Feier sie teilnahmen wie die Gebete, standen die Zweige auf dem Altar, wo sie sich, waagrecht aneinandergefügt, zwischen die Kerzen und geweihten Gefäße streckten, in festlicher Aufmachung und noch verschönt durch die Festons1 ihres Blattwerks, das mit kleinen weißen Knospen übersät war wie eine Hochzeitsschleppe. Weiter oben waren die Blüten offen und hielten das sie ganz umnebelnde Bukett ihrer Staubgefäße, eine letzte, flüchtige Zier, so nachlässig fest, dass ich beim Versuch, in meinem Inneren die Bewegung ihres Blühens zu mimen, unbewusst das stürmische Gebaren eines lebhaften und unachtsamen jungen Mädchens annahm. Als ich vor dem Weggehen beim Altar niederkniete, kam mir, wie ich wieder aufstand, von den Blüten ein bittersüßer Mandelgeruch entgegen. Trotz der schweigenden Reglosigkeit der Zweige war dieser an- und abschwellende Geruch wie das Summen ihres intensiven Lebens, von dem der Altar vibrierte wie eine ländliche Hecke, die von lebenden Fühlern besucht wird; sie kamen einem beim Anblick fast roter Staubgefäße in den Sinn, die noch den frühlingshaften Überschwang, das Aufreizende von Insekten, jetzt allerdings in Gestalt von Blumen, zu haben schienen. An jenen Abenden ließ uns mein Vater nach der Marienandacht, wenn das Wetter schön war und der Mond schien, statt dass wir gleich nach Hause gingen, über den Kreuzweg einen langen Spaziergang machen, den meine Mutter in ihrer Unfähigkeit, sich zu orientieren und sich auf dem Weg auszukennen, als strategische Großtat betrachtete. Wir kamen über die Allee zurück, die zum Bahnhof führte und wo sich die hübschesten Villen der Gemeinde befanden. In jedem Gärtchen verstreute der Mondschein wie Hubert Robert2 seine zerbrochenen Marmorstufen, Fontänen, halb offenen Gittertore. Sein Licht hatte das Telegraphenamt zerstört. Es blieb nur noch eine abgebrochene Säule, allerdings so schön wie eine unvergängliche Ruine. Von der Stille, die nichts verschluckte, hoben sich hie und da unverwischt Geräusche ab, die von sehr weit her kamen, kaum wahrnehmbar, aber so «bis ins Letzte» ausgefeilt, dass sie diesen Ferne-Effekt nur ihrem pianissimo zu verdanken schienen: wie jene ganz gedämpften, vom Orchester des Conservatoire so schön gespielten Stücke, von denen man keine Note verpasste und die doch in weiter Entfernung vom Konzertsaal zu erklingen schienen, während die langjährigen Abonnenten entzückt die Ohren spitzten, als hätten sie auf den fernen Vormarsch einer Armee gehorcht, die noch nicht in die Rue de Trévise eingebogen wäre. Ich schleppte mich dahin, fiel fast um vor Schlaftrunkenheit, der Lindengeruch, der in der Luft lag, erschien mir wie eine Belohnung, die man nur um den Preis allergrößter Mühen erhält und die das nicht wert ist. Auf einmal hieß uns mein Vater stehen bleiben, und er fragte meine Mutter: «Wo sind wir?» Erschöpft vom Marschieren, aber stolz auf ihn, gestand sie ihm zärtlich, dass sie keine Ahnung habe. Er zuckte die Achseln und lachte. Und dann zeigte er uns, als hätte er sie zusammen mit dem Schlüssel aus seiner Jackentasche hervorgeholt, unsere kleine Garten-Hintertür, die vor uns stand und mit ihrem Stück Straße gekommen war, um uns am Ende jener unbekannten Wege zu erwarten. Meine Mutter sagte bewundernd zu ihm: «Du bist großartig!» Von dem Augenblick an brauchte ich keinen einzigen Schritt mehr zu machen, der Boden lief für mich in diesem Garten, in dem meine Handlungen schon so lange nicht mehr von bewusster Aufmerksamkeit begleitet waren: Die Gewohnheit nahm mich in die Arme und trug mich ins Bett wie ein kleines Kind. * Eines Sonntags nach dem Mittagessen stieg ich zusammen mit meinen Eltern einen kleinen Weg hinauf, der zu den Feldern führte und der jetzt auf einmal von Weißdornduft nur so summte. Die Hecke bildete gleichsam eine Reihe von Kapellen, die unter den ausgestreuten, zu Altären gehäuften Blüten verschwand; darunter legte die Sonne Vierecke aus Helligkeit auf den Boden, als käme sie durch ein Kirchenfenster; der Duft verbreitete sich so sahnig, so in seiner Form eingegrenzt, als hätte ich mich vor dem Altar der Jungfrau Maria befunden, und die ebenso geschmückten Blüten hielten nachlässig ihr schimmerndes Bukett aus Staubgefäßen, zarte, strahlende Äderung im Flamboyantstil3, wie jene, die in der Kirche das Geländer des Lettners4 oder die Fensterkreuze durchscheinend machte und die sich weißfleischig wie die Erdbeerblume entfaltete. Wie naiv und bäuerlich schienen im Vergleich die Heckenrosen, die an diesem heißen Sonntagnachmittag in der prallen Sonne neben ihnen den ländlichen Weg hinaufstiegen, in der schlichten Seide ihrer rötlichen Bluse, die von einem Windhauch unordentlich wird. Aber ich konnte noch so lange vor dem Weißdorn stehen bleiben, um seinen unsichtbaren und beständigen Duft einzuatmen, ihn meinem Denken vorlegen, das nichts damit anzufangen wusste, ihn verlieren und wiederfinden, mich mit dem Rhythmus vereinigen, der die Blumen mit jugendlicher Fröhlichkeit und in Abständen hinwarf, die unerwartet waren wie bestimmte musikalische Intervalle – er verströmte unbeschränkt und unerschöpflich denselben Zauber, den er mich aber nicht weiter ausloten ließ als eine jener Melodien, die man hundertmal hintereinander abspielt, ohne tiefer in ihr Geheimnis einzudringen. Ich wandte mich einen Augenblick ab, um dann mit frischeren Kräften zu den Blumen zurückzukehren. Ich ging verstreuten Mohnblumen, faul zurückgebliebenen Kornblumen bis auf den Abhang nach, der hinter der Hecke steil zu den Feldern aufstieg und den sie da und dort verzierten, so wie auf der Bordüre einer Tapisserie das ländliche Motiv spärlich aufscheint, das sich dann auf dem Bild völlig durchsetzt; selten, vereinzelt wie allein stehende Häuser, die schon von der Nähe eines Dorfes künden, verhießen sie mir die riesige Weite, wo der Weizen wogt, wo sich Wolken kräuseln, und der Anblick einer einzigen Mohnblume, die hoch über ihrem Seilwerk den roten Wimpel hisste und ihn über der öligen schwarzen Boje dem Wind preisgab, ließ mir das Herz höherschlagen, wie dem Reisenden, der auf einem Schwemmland eine erste trocken liegende Barke erblickt, die neu geteert wird, und da schon ausruft: «Das Meer!» Dann ging ich zum Weißdorn zurück wie zu jenen Meisterwerken, die man besser zu sehen meint, nachdem man sie einen Augenblick nicht angeschaut hat. Ich empfand eine Freude wie dann, wenn man ein Werk seines Lieblingsmalers sieht, das anders ist als die anderen, oder wenn man vor ein Bild geführt wird, das man bisher als Bleistiftskizze gekannt hat, oder wenn ein uns nur vom Klavier her bekanntes Stück in den Farben des Orchesters eingekleidet erscheint, als mein Großvater mich rief, auf die Hecke eines Parks zeigte, an der wir entlanggingen, und sagte: «Du magst doch den Weißdorn so gern. Schau dir einmal diesen rosaroten an! Hübsch, nicht wahr!» Es war tatsächlich Weißdorn, aber rosaroter und noch schöner als der weiße. Auch er war für ein Fest geschmückt – für eines jener einzigen wahren Feste, nämlich der kirchlichen, die nicht wie die weltlichen von einer zufälligen Laune auf einen beliebigen Tag festgelegt werden, der nicht eigens ihnen geweiht ist und auch nichts wesentlich Festliches hat –, aber mit noch reicherem Schmuck, da die eng übereinander am Zweig steckenden Blüten, die wie Pompons an einem Rokoko-Bischofsstab keinen Platz undekoriert ließen, farbig und also, gemäß der in unserem Dorf herrschenden Ästhetik, von höherer Qualität sein mussten, betrachtete man die Preisskala im «Geschäft» am Platz oder beim Lebensmittelhändler, wo die teureren Biskuits die rosaroten waren. Und diese Blüten hatten eben eine solche Färbung gewählt, wie von etwas Essbarem oder von einer zarten Verschönerung an einer großen Fest-Toilette, eine Färbung, die Kindern am eindeutigsten schön vorkommt, weil sie ihnen den Grund für ihre Überlegenheit präsentiert und so in ihren Augen immer etwas Lebhafteres und Natürlicheres als die anderen Färbungen hat, auch dann noch, wenn sie begriffen haben, dass sie nicht für ihr Schleckmaul gedacht ist und...