Pyankova | Das Zeitalter der Roten Ameisen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Reihe: Ecco Verlag

Pyankova Das Zeitalter der Roten Ameisen

Roman | Ein Dorf in der Ukraine der 30er Jahre in einem Notstand, der aktueller kaum sein könnte
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7530-0075-6
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman | Ein Dorf in der Ukraine der 30er Jahre in einem Notstand, der aktueller kaum sein könnte

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Reihe: Ecco Verlag

ISBN: 978-3-7530-0075-6
Verlag: Ecco Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Matschuchy, Ukraine, 1933: Die junge Jawdocha versucht verzweifelt, sich und ihre Familie am Leben zu halten - doch der Hunger setzt nicht nur ihren Körpern zu, sondern immer mehr Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung greifen zu verzweifelten, unmenschlichen Maßnahmen im Kampf um das nackte Überleben. Nur wenige Kilometer von ihnen entfernt wird Solja, die wohlhabende Frau des ortsansässigen Parteivorsitzenden, von ihren eigenen Dämonen heimgesucht und scheitert daran, Gewicht zu verlieren - und Swyryd, ein Repräsentant der sowjetischen Kommunalverwaltung, nutzt seine Machtposition, um seine große Liebe Hanna, Jawdochas Mutter, zu manipulieren.

In drei verschiedenen Erzählstimmen erschafft Tanya Pyankova das erschreckend aktuelle Psychogramm einer Zeit und einer Nation, das relevanter nicht sein könnte: Die von der Sowjetunion besetzte Ukraine erlitt eine Hungersnot, die das Leben vieler Millionen Menschen forderte - und die von den Besatzern als politisches Machtinstrument gezielt hervorgerufen worden war. Dieser Genozid ging als Holodomor ('Tötung durch Hunger') in die Geschichte ein.



Tanya Pyankova wurde 1985 in der Region Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren. Sie ist Autorin mehrerer Romane und Gedichtbände, die in ihrer Heimat zahlreiche Preise gewonnen haben, außerdem ist sie Leiterin der Literaturagentur Potion sowie Organisatorin einer Vielzahl von Literaturfestivals, Theateraufführungen und Poesieperformances.

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DUSJA


Tosko Lantuschok mag keine Menschen.

Als er ein Kind war, töteten sie vor seinen Augen seinen Vater. Angeblich hatte er sich an fremdem Hab und Gut vergriffen, doch in Wirklichkeit … Wer weiß das schon. Sie demütigten ihn nach Strich und Faden, spießten dann eine Heugabel in seine Brust, und aus war’s mit ihm.

»Dieb!«, brüllten sie wie besessen. »Dieb! Dieb!«, zeterten an jenem Tag drei, vier, fünf Männerstimmen am Himmel über Matschuchy, »Dieb!«

Der kleine Tosko begriff damals nicht, wofür der Vater bestraft wurde, er hielt sich die Ohren zu, versteckte sich unter dem Ganok und zitterte vor Angst. Seine Knie versanken im feinen Sand auf dem Boden, er spürte sein Herz nicht mehr schlagen, ihm stockte der Atem.

»Dieb!«, hämmerte es auf seinen Kinderkopf und fraß sich unterm weißblonden Haarschopf, unterm Schädeldach fest. »Dieb!«, schoss es hervor wie eine Nadel aus grobem Sacktuch, um von der anderen Seite her gleich wieder einzustechen, diese menschliche Ameise zu durchbohren, die eine Zuflucht gefunden hatte für ihren bebenden, kleinen Körper, aber ihre Ohren so fest gar nicht zuhalten konnte, dass sie das Geschrei nicht mehr hätte anhören müssen. »Dieb!«, noch einmal brandete es heran, dann war alles so plötzlich vorüber, wie es losgebrochen war. Nur des Vaters schwächelnde Stimme röchelte nicht weit entfernt …

Tosko, achtjährig, horchte, krabbelte langsam aus seinem Versteck und noch immer auf den Knien, rutschend auf den Knien los in die Mitte des Hofes, wo, durchbohrt von den spitzen Gabelzinken, sein Vater Jaso Lantuschok da schon bei Gott war. Über dem Körper des Vaters fand ihn am Abend Awgustyna, seine Mutter. Tosko hatte da schon keine Tränen mehr, er hatte sich auf Lebenszeit leer geweint.

Deswegen mag Tosko keine Menschen.

Die, die seinem Vater das Leben nahmen, hat er nie kennengelernt, aber auch alle übrigen schätzt er gering. Er schaut jeden und jede an, nicht, wie man einen Menschen anschaut, sondern als sei da leerer Raum, und wenn er mit jemandem spricht, klingt es, als würden seine Lippen Sand verblasen. Für gewöhnlich schweigt er, als hätte er dein Todesurteil schon gefällt. Schon zur Hälfte seines Lebens ergraute sein Haar und er ging ein wenig gebeugt, aber wurde keinen Deut milder. In Matschuchy kann niemand ihn leiden. Nur die braune Stute, selbst alt und immer für einen Tritt gut, hat sich ihm angeschlossen. Er ist ihr Gott, ihrem Tosko gehorcht sie aufs Wort. Sonst erträgt auch sie keine lebende Seele.

Tosko ist ein böser Mensch, kauzig und rabiat. Immer hat er eine Heugabel in der Hand, ist gleichsam jederzeit bereit, sich zu verteidigen. Worauf, auf welchen Feind er da sein Leben lang wartet, weiß ich nicht. Gern nimmt er auf dem Bänkchen unter dem Kirschbaum Platz, sitzt dann so da, blinzelt in die Sonne, ein Insekt krabbelt durch seinen grauen Bart … Scheinbar ruht da einer, aber die Gabel ist an seiner Seite, er hält sie an den Baumstamm gepresst und seine Hand wie angeklebt um ihren Stiel.

Die Lantuschoks waren Omas Nachbarn, jetzt sind es unsere. Sie wohnen auf der einen Seite, auf der anderen wohnt die kinderlose Warwara Lebedka. So lange ich denken kann, sind Omas Hühner immer auf den Hof der Lantuschoks gerannt. Was haben wir den Zaun nicht nach Löchern abgesucht, aber kaum hatten wir eins geflickt, hatten sie schon ein neues gefunden. Die Frauen stutzten ihnen die Flügel, bewachten sie den halben Tag, scheuchten sie ständig mit Gezische – nur um beim Heimkommen die Hühner erneut im fremden Garten vorzufinden. War das Gras in ihren Augen dort besser? Eines Tages, als Omas Hahn schon wieder bei den Lantuschoks die jungen Karotten ausgezogen hatte, sagte Tosko kein Wort, schwang nur seine Gabel, stach sie dem Hahn zwischen die Beine, lupfte ihn auf und warf ihn auf Oma Sankas Hof zurück. Dies alles schweigend, kein Laut drang dabei über seine Lippen.

Ich war damals noch klein, stand im Hof und aß Kirschen von einem Zweig, den Papa mir abgeschnitten hatte. Der Hahn segelte geradewegs über meinen Kopf hinweg, und ein Tröpfchen Blut spritzte in mein Gesicht. Es mag auch Kirschsaft gewesen sein, ich weiß es nicht. Jedenfalls bekam ich damals Angst vor Omas Nachbarn. Diese Angst ist bis heute keineswegs kleiner geworden.

Als 1931 die Kommunisten nach Matschuchy kamen, verleibten sie Tosko mit seinem Wagen, der Stute und seiner Gabel der Kolchose ein. Sie räumten den ganzen Hof aus, nahmen den Pflug mit, den Grubber, die Egge. Er widersetzte sich nicht. Er glaubte, jetzt käme das Paradies, wo »Männer und Frauen unter einer Decke schlafen«, und verschrieb sich ganz der Kolchose. Man trägt ihm auf, den Mist unter den Kühen abzufahren, er tut’s, dann sind Rote Bete zu fahren, er tut’s, dann sind die Bugsierer unterwegs und durchwühlen die Häuser der Kulaken, und Tosko steht geduldig am Tor bereit und erwartet die Säcke mit den geplünderten Sachen. Selbst hungert er, ist schmutzig, sein Haus ist verwahrlost, Awgustyna, seine Mutter, völlig entkräftet. Niedergelegt hat sie sich, betet nur noch, mal laut, oft still, um ihn nicht zu verärgern, und er vergisst, ihr zu essen zu geben, kann den roten Schleier schon nicht mehr lüften von seinen Augen, Tosko dient den fremden Unmenschen. Er glaubt, es käme so, wie es die Propaganda verspricht, dass er endlich in einem Kulakenhemd gehen und das Kulakenglück schmecken wird. Manchmal kehrt er erst spätabends heim, umwabert vom Gestank nach Fusel, sogar wir riechen ihn, er geht ins Haus zu seiner schwachen Mutter und richtet kein Wort an sie, legt sich hin und schnarcht los.

Ihr altes Häuschen aus Lehmziegeln stammt noch aus des Großvaters Zeiten und verträgt die Vernachlässigung schlecht, mal stürzt hier was ein, mal bröckelt was da, das Dach leckt schon lange, es tropft einem auf den Kopf, doch Tosko lässt das kalt. Ihm ist alles egal. Er wartet allein darauf, dass sie ihn rufen und ihm sagen, wohin er fahren soll.

Es ist noch nicht lange her und schmerzt mich noch wie eine Nadel im Kopf. Es war vor dem Winter, das Dämmerlicht wurde schon dichter und schwerer. Mama war gerade aus der Kolchose gekommen. In ihren Taschen hatte sie ein paar Gerstenkörner. Wie hatte sie das nur geschafft? Am Tor werden doch alle gefilzt. Ich kann das wissen. Ich war am zweiten Tag wegen einer Handvoll Hafer bei »Roter Stern« rausgeflogen. Der Brigadier hatte gesagt, wenn er meinen Vater nicht so gernhätte, würde er mich sofort melden, so schnell könne ich nicht mal blinzeln. Aber so … Ich solle mich wegscheren und nie wieder blicken lassen. Andere Kolchosen nahmen uns gar nicht erst auf. Mamas Gerstenkörner hatten wir hastig auf dem Dachboden zwischen den Buchweizenspelzen versteckt, die den halben Boden bedeckten, sodass sie unauffindbar waren, keiner sie uns wegnehmen, keiner auch nur ein Körnchen herauslesen konnte.

Es wurde dunkel. Wir aßen die Seltenheit einer dünnen, mit viel Wasser gekochten Hirsesuppe, als Mama plötzlich den Löffel hinlegte und sagte:

»Hört zu, Kinder, ich kann nicht hier essen und nicht daran denken, wie sie drüben heult, das hört ihr doch auch.«

»Wer?« Ich begriff nicht gleich, wen Mama meinte.

»Awgustyna. Und er ist wieder … Tosko bringt ihr kein Essen, da bin ich mir sicher. Schon seit Tagen schläft er in der Kolchose, er arbeitet weniger, und so wie der säuft, geht er eh bald zum Teufel. Heute war er schon zur Mittagszeit so stockbesoffen, dass er nur noch lallte. Und gestern auch. Den Mist aus der Kolchose abfahren, das ist sein Lebenssinn. Und die eigene Mutter kann er darüber bald gleich mit in die Jauchegrube kippen. Der Mann hat nicht den Hauch eines Gewissens in sich, der schaut ja nicht mal mehr nach ihr.«

Wir fackelten nicht lang, nahmen den Suppentopf vom Tisch und die Öllampe und gingen in den Hof der Nachbarn. Ich war lange nicht dort gewesen, immer stand mir unser Hahn vor Augen, rot auf Toskos Gabel.

Ins Haus zu kommen war leicht.

»Awgusja!«, rief Mama an der Tür. »Bist zu zu Hause?«

Was soll die Frage, dachte ich, wir hören doch ständig ihr Wimmern. Ein abgerissenes Wimmern, mal schwoll es an, mal brach es ab … Da, da war es wieder:

»Essen! E-e-e-ss-e-e-en!« Mit diesem lang gezogenen Stöhnen antwortete uns die Not aus dem Inneren des Nachbarhauses, und es durchrieselte uns kalt. Wir gingen weiter hinein, unsere Augen versanken im dichten Dunkel. Es war kalt in der Stube. Unheimlich. Es roch nach Schwäche, Alter, einem ungewaschenen Körper, Urin … Dieser widerliche Hauch zwang uns fast in die Knie. Aber wir trotzten ihm.

Offenbar war die Alte schon eine Weile nur auf sich gestellt. Ein unsteter Luftzug ging zwischen den Lehmwänden um, sehnte sich nach einem Scheit im Ofen, das letzte war lange verbrannt. Das Licht unserer Öllampe flackerte schüchtern und fiel im Finstern auf etwas, das sich bewegte. Im Alkoven an der Wand neben dem kalten Ofen lag die alte Awgustyna in ihrem Urin. Auf dem Rücken lag sie und wimmerte leise vor sich hin:

»E-e-e-ss-e-e-en, E-e-e-ss-e-e-en!«

Das Stroh unter ihr war zerfleddert, die Rjadnyna zerknüllt und abgenutzt. Sie zog die Halme unter sich hervor und stopfte sie in den zahnlosen Mund:

»E-e-e-ss-e-e-en!« Sie mahlte nur mit den Kiefern, spuckte dann angewidert aus. Griff wieder nach dem Stroh, und wieder, und wieder …

Zunächst sahen wir entsetzt zu, dann fuhren wir zusammen und stürzten zu ihr. Mama hob ihr den federleichten Kopf etwas an: »Ist ja gut, Awgusja, gleich. Hab Geduld, meine Liebe. Da hast du zu essen. Nimm ein Schlückchen.«

»E-e-e-ss-e-e-en …« Der Körper der...



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