E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Quadflieg / Veigel Frei
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95890-248-0
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95890-248-0
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roswitha Quadflieg wurde in Zürich geboren und wuchs in Hamburg auf. Nach dem Kunststudium gründete sie 1973 die Raamin-Presse, eine eigene Verlagswerkstatt, in der sie bis 2003 Texte der Weltliteratur mit eigenen Bildern druckte. Seitdem ist sie als Schriftstellerin tätig. Seit 2012 lebt sie in Berlin. Sie schrieb Romane, Essays, Theaterstücke, Hörspiele und Drehbücher und erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Preise und Auszeichnungen.#Burkhart Veigel, geboren in Thüringen und aufgewachsen in Schwaben, studierte Medizin in Westberlin. Nach einer Facharzt-Ausbildung zum Unfallchirurgen und Orthopäden führte er 30 Jahre eine eigene Praxis in Stuttgart. Seit 2007 lebt er wieder in Berlin. In den Jahren 1961 bis 1970 war er einer der erfolgreichsten Fluchthelfer in Berlin. Dafür wurde ihm 2012 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Das Verlangen nach Freiheit und eine deutsch-deutsche Amour fou
Autoren/Hrsg.
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West-/Ost-Berlin, 13. August 1961
DIE MAUER
Die Sonne ging auf über dem Studentendorf in Schlachtensee. Ein friedlicher Sonntagmorgen, der Wetterbericht hatte einen schwülen Tag vorausgesagt. Gefesselt von Gottfried Benns Wortkaskaden, hatte sich Janus Emmeran in dessen Briefen, Essays und Gedichten verlaufen. Erst weit nach Mitternacht hatte er seine Schlafcouch gerichtet, das Zimmer gelüftet und den Aschenbecher in den Abfalleimer der Gemeinschaftsküche entleert.
Plötzlich trommelte es an seine Tür. »Die machen die Grenze dicht!« Was? Wie spät war es? Janus fuhr hoch, schaute auf seinen Wecker – 6:15 Uhr –, sprang aus dem Bett und lief im Schlafanzug auf den Flur. »RIAS Berlin, eine freie Stimme der freien Welt!«, hörte er und rannte zu der offen stehenden Tür drei Zimmer weiter. »Panzerspähwagen und schwer bewaffnete Betriebskampfgruppen vor dem Brandenburger Tor.«
Zwei Kommilitonen saßen vor dem Radio, er rief ihnen zu: »Das müssen alle hören!«
Sie brachten Radio und Antenne in den Gemeinschaftsraum, öffneten die Fenster, drehten den Regler hoch und ließen die Meldungen durchs Dorf dröhnen. Bald saßen da fünf, dann acht, auch aus anderen Häusern kamen Kommilitonen angerannt.
Fassungslos folgten sie dem Dauerstakkato: »S- und U-Bahn-Verkehr unterbrochen«, »Oberbaumbrücke gesperrt«, »Das Pflaster am Potsdamer Platz wird aufgerissen, gerade werden Betonpfähle eingerammt«.
Janus war gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Ein hochgewachsener sportlicher Mann mit schwarzen Haaren und auffällig dunklen Augen. Vor einem halben Jahr hatte er seinen Studienort gewechselt, war von Tübingen – wo er geboren wurde und wo auch seine Mutter lebte – nach Berlin gezogen, dem Zentrum der freien Welt, dem Mekka der Kunst. Aufgrund seiner guten Noten im Vorphysikum hatte man ihm einen Studienplatz an der Freien Universität bewilligt.
Eigentlich hatte er vorgehabt, zusammen mit seinem Freund Fabian, den er von seiner Zeit bei den Gebirgsjägern in Mittenwald kannte, nach Berlin zu ziehen. An den Wochenenden hatten sie gemeinsam musiziert und darüber diskutiert, wie Fabian aus der Bürgerlichkeit seines Elternhauses ausbrechen und Janus sich aus der engen, aus selbstgerechten Gewissheiten zusammengekleisterten Welt seiner Mutter befreien könnte. Aber vier Wochen vor ihrem Umzug war Fabian bei einem Alleingang in den Bergen abgestürzt. Die Bergwacht hatte nur noch seinen Rucksack gefunden.
Janus’ Zuhause war jetzt eine zehn Quadratmeter große Bude – Schreibtisch, Bücherregal, Glastisch, Kleiderschrank mit Kasten für die Bettwäsche, ein Stuhl mit blauem Polster, vor dem Fenster Leinenvorhänge, auch die Schlafcouch war blau bezogen.
Das Dorf, ein lockeres Ensemble aus zwei- und dreigeschossigen Häusern im Südwesten der Stadt – eine Stiftung der Amerikaner, gedacht als Beitrag zur Reeducation der deutschen Jugend nach dem Ende des Nationalsozialismus –, hatte eine eigene Verwaltung und einen studentischen Bürgermeister; kleine Zimmer, große Gemeinschaftsräume und Gemeinschaftsküchen, um Kontakte zwischen den Studenten zu fördern, die Häuser streng getrennt nach Geschlechtern.
Der Sound der Großstadt – anfahrende und abbremsende Autos, rumpelnde S-Bahnzüge, quietschende Straßenbahnen, startende und landende Flugzeuge –, die auch während der Nächte hell erleuchteten Straßen, das Meer von Zeitungen an den Kiosken, die Mädchen in Nylons und wippenden Petticoats faszinierten den jungen Mann aus der Provinz. Janus besuchte Kinos, Kabaretts und Konzerte im Westen, Opern und Theater im Osten, amüsierte sich, wenn die Ost-Berliner in den Pausen ihre Butterbrote auspackten und die West-Berliner mit schwarz getauschtem Geld protzig Sekt und Kaviar bestellten.
Mit einem amerikanischen Kommilitonen, einem Zwei-Meter-Riesen und Halbprofi, spielte er manchmal Tischtennis. Gemeinsam besuchten sie das erste Deutsch-Amerikanische Volksfest auf der Truman Plaza, ein Rummel, dessen größte Attraktion eine mobile Westernstadt war. Hier lernte er einen Offizier der amerikanischen Streitkräfte, Jim Stone, und dessen deutsche Frau Helga kennen. Gelegentlich luden sie Janus zu sich ein, Helga kochte für den armen Studenten, während Jim ihm die Fotosammlung sämtlicher Autos zeigte, die er in den USA und in Berlin gefahren hatte. Wegen dieser naiven Offenheit und ihrer Lässigkeit liebte Janus die Amerikaner. Aber auch wegen ihres bedingungslosen und dollarträchtigen Engagements für Berlin und die Freiheit auf der ganzen Welt.
Den Meldungen in den Tageszeitungen und im Rundfunk, dass täglich Tausende Bauern, Facharbeiter, Ärzte und Jugendliche aus dem »Arbeiter- und Bauernparadies« in den Westen flüchteten, schenkte er kaum Beachtung, die Spekulationen, wann die DDR-Regierung der Massenflucht einen Riegel vorschieben würde, beschäftigten ihn nicht.
Janus hatte geplant, trotz der Semesterferien den August über in Berlin zu bleiben, um sich auf das Gespräch mit dem Theologen vorzubereiten, der Ende des Monats über seine Aufnahme in die Studienstiftung befinden sollte. Dessen große Liebe galt, wie Janus erfahren hatte, Gottfried Benn, ein Anlass, sich intensiver mit dessen Werken zu beschäftigen. Außerdem musste er noch für den ersten öffentlichen Auftritt seines Quintetts am 2. September üben. Im Rahmen der Einweihung des Osteuropa-Instituts sollte er zusammen mit vier Freunden vor den Delegationen der Ford und der Rockefeller Foundation, die das Institut gestiftet hatten, das Schumann-Klavierquintett spielen. Gleich danach wollte er nach Griechenland fahren. Den Entschluss zu dieser ersten großen Reise seines Lebens hatte er schon nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium gefasst; damals war ihm aber die Bundeswehr dazwischengekommen. Sechs Wochen lang würde er auf den Spuren der Minoer, Mykener, Athener und Spartaner wandern, den Olymp besteigen, wie einst die Götter aus dreitausend Meter Höhe die Sonne über dem Meer aufgehen sehen und in Olympia auf der ehemaligen Rennbahn die zweihundert Meter laufen. Zur Vorbereitung hatte er während des Semesters Neugriechisch gelernt; jetzt, in den Semesterferien, übte der Dozent freundlicherweise täglich mit ihm eine Stunde Konversation.
All das spielte im Moment keine Rolle. Gebannt lauschte Janus, zusammen mit seinen Kommilitonen, den sich überstürzenden Meldungen. Kurz nach acht Uhr dann das Ungeheuerliche: »NVA in Ost-Berlin! Bruch des Potsdamer Abkommens!« Dazu die Kommentare der Reporter: »Ulbricht macht die Sowjetzone zum KZ« und »Mitten in Berlin zementieren sie die bolschewistische Mordgrenze«.
Während seines Wehrdienstes hatte sich Janus immer darüber amüsiert, wenn sein Kompaniechef mit strammen Worten die militärische Lage darstellte: Grün macht das, Rot jenes. Sandkastenspiele. Aber das hier war kein Spiel, das war Realität, mitten in Berlin.
Die Stimmen seiner Kommilitonen rissen ihn aus seinen Überlegungen: »Diese Verbrecher!« – »Das ist doch nur das Vorspiel. Als Nächstes besetzen sie West-Berlin!« – »Unsinn, das lassen die Amis niemals zu.« – »Wenn die Amerikaner zurückschlagen, gibt es Krieg, und wir sitzen mittendrin.«
Eigentlich, überlegte Janus, tangieren die Absperrungen nur die Ostdeutschen. Er mit seinem bundesrepublikanischen Personalausweis müsste doch unverändert nach Ost-Berlin ein- und auch wieder ausreisen können. Oder brauchte er jetzt ein Visum?
»Ich probier’s mal, ich fahr rüber«, sagte er.
»Sind Sie wahnsinnig?«, brauste einer auf. »Wenn die da drüben verrücktspielen …« Bevor Janus den Raum verließ, hörte er noch: »An Ihrer Stelle würd ich mich erst mal anziehen.«
Weil er nicht sicher war, ob man ihn nicht wieder aus Ost-Berlin herausließ, räumte Janus sein Zimmer auf, legte die Bettwäsche in den Kasten unter dem Kleiderschrank, sortierte seine Bücher und Papiere auf dem Schreibtisch und stapelte die alten Zeitungen in der Ecke. Dann schrieb er einen Brief an seine Mutter, frankierte ihn und legte einen Zettel dazu: .
Kurz überlegte er, was er anziehen sollte, und wählte ein buntes Sommerhemd. Das würde jedem Vopo zeigen, ich bin keiner von euch, mir könnt ihr nichts anhaben! Dann machte er sich auf den Weg.
Janus stieg in den Elf-Uhr-Bus, am Oskar-Helene-Heim wechselte er in die U-Bahn. Die Abteile waren fast leer.
Selbst notorische Kirchgänger saßen an diesem Sonntagmorgen zu Hause vor dem Radio, um keine der im Minutentakt eingehenden Schreckensmeldungen zu verpassen. Noch glaubte niemand, dass man eine Stadt wie Berlin in zwei Teile schneiden könne, ihre Verkehrsadern, ihre Seen, ihre Flüsse, die Kanalisation. Und jeder erwartete die Nachricht, dass die Amerikaner mit ihren Panzern die...




