E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Raab / Altenhöfer / Pilz Polyfantastisch?
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95405-077-2
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Nichtmonogamie als emanzipatorische Praxis
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
ISBN: 978-3-95405-077-2
Verlag: Unrast Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Bedeutet ›Liebe zu dritt‹ auch ›Spülen zu dritt‹? Oder räumen die beteiligten Frauen einfach mehreren Männern hinterher?«
›Polyamory‹ ist mittlerweile in aller Munde, weil sie eine Befreiung aus traditionellen und einengenden Beziehungs- und Familienformen verspricht. Doch nicht nur individuell, auch gesellschaftlich bilden Liebesbeziehungen und Familien zentrale Lebensbereiche. Hier werden soziale Normen und gesellschaftliche Strukturen aufgegriffen und mehr oder weniger eigensinnig modifiziert. Daher ist Beziehungsführung ein hochpolitisches Thema. Dahinter steht die Frage: Kann eine Veränderung von Liebesverhältnissen den Menschen befreien?
Der breitgefächerte Sammelband lotet unterschiedlichste Möglichkeiten der Emanzipation und Subversion in der Beziehungsführung aus.
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Vorwort
Michel Raab und Cornelia Schadler Einvernehmliche Nichtmonogamie ist heute als ›Polyamory‹ in aller Munde und verspricht eine Befreiung von traditionellen und einengenden Beziehungs- und Familienformen. Das Versprechen ist nicht neu: Schon in den 1970er-Jahren hofften manche, durch Beziehungsexperimente die neue Gesellschaft und den neuen Menschen zu schaffen. Die Hoffnung gründet auf der Beobachtung, dass Beziehung und Familie gesellschaftlich bedeutsame Lebensbereiche sind: Hier werden soziale Normen sowie gesellschaftliche Strukturen aufgegriffen und stabilisiert – und/oder mehr oder weniger eigensinnig modifiziert. Vor diesem Hintergrund ist Beziehungsführung ein wichtiges politisches Thema für die Linke. Gerade angesichts des Scheiterns vieler Beziehungsexperimente von 1968 ff. (wir werden darauf noch zu sprechen kommen) stellen sich aber viele Fragen bezüglich der Reichweite und der Ethik von Lebensformenpolitik[1]. Die ›freie Liebe‹ war für die Beteiligten eine krasse Überforderung, sie war oft naiv und mechanistisch begründet, oft sehr sexistisch und für die Gesellschaft ein produktiver Modernisierungsschub. Steht hinter der Progression der Beziehungen eine nicht haltbare Fortschrittserzählung? Wird das Private nicht völlig überfrachtet, wenn es als Vehikel für gesellschaftliche Befreiung dienen soll? Steht es nicht dem guten Leben (im Hier und Jetzt) entgegen, wenn private Beziehungen ständig auf ihren emanzipatorischen Gehalt abgeklopft werden? Ist entschiedene Lebensformenpolitik nicht mit einer unverantwortlichen Härte gegen die Beteiligten verbunden? Auf theoretischer Ebene ist zudem offen, ob es vom Einfluss sozialer Strukturen und Normen befreite soziale Beziehungen überhaupt geben kann. Ist es daher nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, schon am gemeinsamen Frühstückstisch die Welt retten zu wollen? Ein pauschales Abstempeln der Veränderungen der letzten Jahrzehnte als ›neoliberal‹ wird der Gewalt und Diskriminierung, die Menschen in nicht-normativen Beziehungsformen erfahren haben, nicht gerecht. Die Möglichkeiten, die in feministischen und queeren Bewegungen erkämpft wurden, müssen sichtbar bleiben. Trotzdem stellt sich die Frage: Sind alternative Lebensweisen tatsächlich emanzipatorisch? Wir denken: »Ja, aber«. Dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, allerdings nicht aus freien Stücken, sondern unter vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen (so Marx), ist klar. In unserem einleitenden Text nähern wir uns dem schwierig zu bestimmenden Verhältnis von Selbermachen und den gegebenen Umständen gesellschaftstheoretisch. Wir (Raab/Schadler) fragen: Ist eine »Weltrevolution am Küchentisch« möglich? Dieses Thema wird uns auch weiterhin in diesem Band beschäftigen. Obwohl Verhältnisse starr und übermächtig zu sein scheinen, finden Menschen immer wieder Möglichkeiten, sich neue alternative und widerständige Räume zu schaffen. In einem ersten Teil, nach unserer Einleitung, beschäftigen sich die Autor*innen unseres Bandes mit Beziehungsdefinitionen und -relationen (Mayer, En, Ossmann) sowie mit Alltagen in polyamoren (En, Betaversion, Krüger), queeren (En, Altenhöfer) und freundschaftszentrierten Lebensweisen (Kruppa, Altenhöfer). Gesa Mayer bespricht in ihrem biografischen Text, der gleichzeitig Begrifflichkeiten und Definitionen vorstellt und die Breite dessen, was Polyamory heißen kann (und warum viele den Begriff auch gar nicht so gerne verwenden), absteckt, wie die Worte ›Beziehung‹, ›mein Freund/meine Freundin‹, ›Liebe‹ Vorstellungen des Sozialen formen, die mononormative Schubladen öffnen. Der Text reflektiert die Schwierigkeit, solche Begriffe trotzdem zu nutzen, sowie die Möglichkeiten, die mit einer resignifizierenden Aneignung entstehen. Sie schließt mit der Frage nach der Möglichkeit, neue Begriffe zu (er)finden. Boka und Michael En (gemeinsam mit David En-Griffiths, Felix Pilz, Mer Pöll & Max Rosenthaler) illustrieren in ihrem persönlich theoretisierenden Text Probleme und Glück im queeren und polyamoren Alltag und somit auch die Politik des alltäglichen Seins. Intersektionale Identitäten und Strukturen werden täglich neu überschritten und reformuliert oder müssen einfach ertragen werden. Eingebettet in alltägliche Episoden des Zusammenlebens werden die Kategorisierungen und deren Geschichte umschrieben. Es zeigt sich die Verquickung von Definitionen von Familie, Sexualität, Freundschaft und Beziehung und es wird ersichtlich, wie dabei im Alltag multiple normative Linien und Brüche entstehen. Damit verbunden sind Ausgrenzung und Gewalt, genauso wie Lust und Freude. Im Text erscheint eine sich ständig transformierende Beziehungsformation mit losen Grenzen, fest und flexibel zugleich. Es entstehen neue Strukturen, und doch ist diese Formation eingebettet in neoliberale Strukturen mit ganz spezifischen Konsequenzen für die Individuen. Wie viele (manchmal auch scheinbar unvereinbare) verschiedene Perspektiven in einem Polykül aufeinandertreffen können, zeichnet Stefan Ossmann in seinem Beitrag nach. In seinem Forschungsprojekt hat er sechs Personen eines Polyküls befragt. Ganz nüchtern stehen deren Selbst- und Netzwerkdefinitionen in diesem Artikel nebeneinander. Dabei zeigen sich unterschiedliche Vorstellungen über Liebe, Sexualität und Hierarchien in den Beziehungen. Am Ende steht auch hier die Frage, ob sich feste Definitionen überhaupt lohnen und woran diese festgemacht werden sollten. Erkennbar wird auch, welche Mühen in der Kommunikation aufgenommen werden, um die Beziehungen am Funktionieren zu halten. Dass nicht-monogame Alltagpraxis nicht immer mit Sexualität und Liebe verbunden sein muss, zeigt Doreen Kruppas Artikel zu freundschaftszentrierten Lebensweisen. Füreinander da sein, Intimität und körperliche Nähe muss nicht als romantische Beziehung definiert sein, sondern kann auch in Gruppen von Freund*innen eingebettet sein. Polyamory ist somit nicht die einzige Chiffre, mit der sich Beziehungen umschreiben lassen, die die heterosexuelle Kleinfamilie überwinden möchten und offene Formen des solidarischen Zusammenseins zelebrieren. Es folgen zwei Beiträge, die sich mit der Suche nach Partnerschaften auseinandersetzen. Die Betaversion sucht online nach Sexualpartner*innen und findet sie manchmal auch. Sie erzählt von den Menschen, auf die sie trifft, und wie Poly-Sein in jedem dieser Treffen wieder neu erklärt, verhandelt und performiert wird. Katja Krüger berichtet von ihrer Partnersuche auf Tinder und ebenfalls davon, wie ein Konzept von Polyamory immer und immer wieder erklärt werden muss, einerseits jenen, die es noch nicht kennen, andererseits jenen, die sich auch darüber definieren, aber eine völlig andere Vorstellung davon haben. Dabei kommt eins an keinem Klischee vorbei und es ergibt sich eine lange Liste intersektionaler Schubladisierungen, mit denen eins konfrontiert wird. »Mit wem verbringst du Weihnachten?« Mit dieser Frage sind (nicht nur) polyamore Menschen manchmal konfrontiert. Gwendolin Altenhöfer bespricht in ihrem biografischen und literarischen Text verschiedene Möglichkeiten, dem Terror der Pärchen- und Romantik-Normen auszuweichen, und welche anderen Formen von Solidarität und Zusammensein sich dadurch ergeben. Ein zweiter Block von Beiträgen bespricht aktuelle Diskussionen rund um Strukturierung von Sexualität (Klesse), Konsens (Meyerbeer) und häusliche Aufgabenteilung (Raab) in Poly-Communitys. Dass Dekonstruktion, Kapitalismuskritik, Lust und widerständige Alltagspraxis einander nicht ausschließen müssen, bespricht Christian Klesse in seinem Beitrag mit Bezug auf Paul B. Preciados Kontrasexuelles Manifest (2000), welches immer noch Antworten auf aktuelle Fragen in einigen Poly-Communitys zu bieten hat. Die in der Einleitung besprochene (De-)Stabilisierungsthese wird hier nochmals eindrücklich diskutiert hinsichtlich der Frage, ob die »Proletarier*innen des Anus« nicht nur Geschlechter- und Monogamiedefinitionen, sondern auch kapitalistische Gesellschaften revolutionieren können, indem andere – kontrasexuelle – Gemeinschaften gebildet werden, mit entsprechenden Gesellschaftsverträgen. Unter dem Titel »Grauzonen des Konsensuellen« bespricht Karl Meyerbeer, dass Konsensualität unter Umständen Herrschaft verschleiern kann, wenn bestimmte subjektive und strukturelle Bedingungen nicht gegeben sind. Machtverhältnisse betreffen nicht nur Sexualitäten. Was ist mit der simplen Aufteilung von Haus- und Fürsorgetätigkeiten? Michel Raab hat sich in seiner Forschung mit der Verteilung von Care und den damit verbundenen Machtstrukturen beschäftigt. In vielen Polykülen bilden sich Verteilungen von Arbeit heraus, die stark an die Geschlechterrollen in der heterosexuellen Kleinfamilie erinnern. Trotzdem schaffen es manche, diese Strukturen zu überschreiten. In den Artikeln von Meyerbeer, Raab und Klesse sehen wir Probleme vieler Polyküle angesprochen, die weitere Kritik an vielen Konzepten und Begriffen der Polyamory notwendig macht. Im letzten Teil des Bandes widmen wir uns explizit den amatonormativen (Pöll), autoritären (Robert),...