E-Book, Deutsch, Band 2, 148 Seiten
Reihe: Polarnächte
Rafaelsen Polarnächte - Das letzte Schiff
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-594-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman | Polarnächte, Band 2
E-Book, Deutsch, Band 2, 148 Seiten
Reihe: Polarnächte
ISBN: 978-3-98952-594-8
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ellinor Rafaelsen ist eine norwegische Autorin und Journalistin, die 1945 geboren wurde. In ihrer über drei Jahrzehnte währenden schriftstellerischen Laufbahn hat sich Rafaelsen als renommierte Autorin historischer Romane und Liebesromane etabliert. Inspiriert von ihren Reisen und ihrem siebenjährigen Aufenthalt in Spitzbergen hat Rafaelsen über 100 Bücher geschrieben, die die Leser mit lebendigen Beschreibungen und fesselnden Handlungssträngen in ihren Bann ziehen. Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre »Polarnächte«-Reihe mit den Bänden »Das Lied des Schicksals«, »Das letzte Schiff«, »Ein Leben voller Neuanfänge«, »Eine neue Hoffnung« und »Herzen in Aufruhr«.
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Kapitel 1
An Bord der »Isfjord«, Anfang September 1918
Der Schoner mit den Passagieren, die nach Spitzbergen reisen wollten, war kaum losgefahren, da wünschte Tora sich bereits, die Isfjord wäre ein größeres, stabileres Schiff. Der weiß gestrichene Dreimaster hatte kaum mehr als hundert Tonnen und kämpfte sich durch die Wellen, die mit jeder Seemeile, die sie sich von der blau schimmernden Küste entfernten, höher wurden.
An der Spitze des mittleren Mastes befand sich die Eistonne, von der Mannschaft als Krähennest bezeichnet. Von dort oben hatten die Unerschrockenen, die sich beim wüsten Geschaukel des Schoners hinauftrauten, einen guten Blick in alle Richtungen, um nach Eis Ausschau zu halten, das auf der Fahrt Richtung Norden ein Hindernis sein konnte.
Hätte sich Tora vor Antritt der Reise Zeit zum Nachdenken genommen, hätte sie die Isfjord vielleicht genauer inspiziert und festgestellt, dass der Schoner zu klein war, um ihr Sicherheitsbedürfnis zu erfüllen. Doch sie hatte sich schleunigst davonmachen müssen. Sie musste so schnell wie möglich weg von zu Hause, jetzt, wo ihr Vater sie fortschicken wollte. Vier Tage und Nächte würde sie es schon aushalten auf dem weiß gestrichenen Kahn. Länger würde die Überfahrt ja wohl nicht dauern.
Auf dieser Tour waren nur wenige Passagiere an Bord. Die meisten, die auf Spitzbergen überwintern wollten, waren längst abgereist. Die Pelztierjäger steuerten bereits ihre Jagdhütten an, und außerhalb der Sommermonate trauten sich nur vereinzelte hartgesottene Touristen in das arktische Gebiet.
Nachdem sie an Bord gegangen war, wandte sich Tora sofort an den Kapitän. Sie hatte befürchtet, ihre Ersparnisse könnten nicht reichen und atmete erleichtert auf, als sie für die Überfahrt nur hundertachtzig Kronen bezahlen musste und noch etwas Geld übrig behielt.
Der Kapitän teilte ihr mit, Matrose Evensen, der bärtige Seebär, mit dem sie zuvor schon gesprochen hatte, werde ihr einen Platz an Bord zuweisen. Evensen führte sie eine steile fünfstufige Treppe hinunter in einen beengten Salon mit einer Tür, hinter der sich ein schmaler Gang erstreckte. Auf beiden Seiten waren vier kleine Kabinen, die nur durch einen Vorhang vom Gang abgeteilt wurden. Hinter den Vorhängen befanden sich eingebaute Kojen, die wie Kommodenschubladen wirkten. Ein winziges Bullauge am Schott ließ ein wenig Licht herein und bot Aussicht auf die See, die an der Längsseite des Schiffes entlangströmte. Das Bullaugenglas war durch das Meerwasser jedoch so stark mit Salz verkrustet, dass man kaum hindurchsehen konnte.
Die Koje, die Tora zugeteilt wurde, lag anderthalb Meter über dem Boden. Es gab kein Bettgitter und sie konnte nur hoffen, dass sie nicht im Schlaf herausfallen würde.
Die Luft unter Deck war stickig und roch nach einem ekelerregenden Gemisch aus Tabak, Öl, Teer und Schimmel, als wäre seit dem Bau des Schiffes kein einziges Mal sauber gemacht worden. Wer sich in seine Kabine zurückziehen wollte, so dachte Tora, musste in seine Koje kriechen und dort bis zur Ankunft in Spitzbergen liegen bleiben, denn in dem schmalen Gang zwischen den Kojen konnte man sich kaum bewegen, geschweige denn umdrehen.
Deshalb ging sie zurück in den Salon, wo die anderen Passagiere saßen: ein Trondheimer, der nach Longyear City wollte, um am Bau einer Rohrleitungsgasse mitzuarbeiten, die die Stadt mit Wasser versorgen sollte; ein Schmied und ein Steiger. So nannte man die Vorarbeiter im Bergwerk, wie Tora später erfuhr. Mit Erleichterung sah sie, dass unter all den Männern auch eine Frau war, eine junge Frau – nur ein paar Jahre älter als sie selbst. Auch wenn die Reise deshalb nicht sicherer oder bequemer wurde, tat es doch gut zu wissen, dass sie nicht das einzige weibliche Wesen an Bord war. Sie befürchtete zwar keine Probleme mit den männlichen Passagieren und Besatzungsmitgliedern, aber es konnte nicht schaden, eine Art Verbündete zu haben.
Tora hielt es jedoch nicht lange genug unter Deck aus, um die andere Frau zu begrüßen. Wegen der schlechten Luft im Salon und ihrer Schwangerschaft wurde ihr so übel, dass sie schnell ihren Mantel holte, um nach draußen zu flüchten.
Das Schiff schaukelte bedrohlich, aber Tora schleppte sich auf das hintere Deck und klammerte sich am Schott und an anderen robusten Gegenständen fest. Die Reling war so niedrig, dass sie sich fragte, wieso man überhaupt eine angebracht hatte. Ab und an schwappte eine Welle darüber hinweg, strömte über das schräg liegende Deck und dann durch eine Öffnung unter der Reling wieder zurück ins Meer. Auf den Wellenkämmen waren Schaumkronen zu sehen. Der kalte Wind zerrte an Toras Kleidern, riss an ihrem Schal und ließ die Mantelschöße um ihre Beine flattern. Nach kurzer Zeit fror sie ganz erbärmlich, scheute jedoch davor zurück, wieder unter Deck zu gehen. Den frischen Wind im Gesicht, den Blick auf die nach und nach verschwindende Küste gerichtet, war die Übelkeit etwas erträglicher als im Salon.
»Ist es Ihnen nicht zu kalt hier oben? Sie sind so leicht gekleidet.«
Eine tiefe, angenehme Frauenstimme mit kehligem Bergener Akzent unterbrach Toras Gedankengänge – Gedanken an Anton und das ungeborene Kind, das unter ihrem Herzen heranwuchs.
Tora drehte sich langsam zur Seite und sah, dass die weibliche Mitreisende sich neben ihr in den Wind gestellt hatte.
»Ich hasse die Kälte, deshalb kann ich es hier draußen nicht lange aushalten«, fuhr die Frau fort und schlug den Kragen ihres langen, dicken Pelzmantels hoch, um ihr Gesicht vor dem eisigen Wind zu schützen.
»Wenn Sie die Kälte hassen, warum fahren Sie dann ausgerechnet nach Spitzbergen?«, fragte Tora und lächelte.
Was sie von der Bergenserin sah, gefiel ihr gut. Zwei freundlich dreinblickende braune Augen lugten unter der Pelzmütze hervor und betrachteten sie mit unverhohlener Neugierde, und zwischen den fein geschwungenen Lippen blitzten ebenmäßige weiße Zähne auf. Sie lächelte und streckte Tora ihre in hübsch gemusterten Strickhandschuhen steckende Hand entgegen.
»Ich heiße Benedikte Havre und komme aus Bergen«, stellte sie sich vor.
»Tora Lyngvik«, erwiderte Tora und zog ihre Fäustlinge aus, um ihrer neuen Bekannten anständig die Hand schütteln zu können. »Aus Tromsø.«
»Wollen Sie auch zu Ihrem Mann?«, fragte Benedikte Havre und zog fröstelnd die Schultern hoch.
»Ich … ja«, murmelte Tora unsicher. »Ich … wir sind bis jetzt nur verlobt, Anton und ich.«
»Ach so. Habt ihr denn eine Unterkunft, damit ihr zusammenwohnen könnt?«
»Nein …«
»Was für eine Anstellung hat denn Ihr Verlobter?«
»Er ist Grubenarbeiter.«
»Hmm.« Benedikte zuckte mit den Achseln. »Ich dachte, den Arbeitern sei nicht gestattet, ihre Verlobten oder Ehefrauen nachkommen zu lassen. Da habe ich mich wohl geirrt.«
»Und Ihr Mann, was hat er für eine Arbeit?«, fragte Tora und nahm Pelzmantel und -mütze der Bergenserin in Augenschein. Ihre Kleidung, der lange, dicke Wollrock, der sie bis zu den Fußknöcheln warmhielt, und die dicken, pelzgefütterten Stiefel waren ein deutlicher Hinweis, dass sie keine Arbeiterfrau war. Dies war eine Frau aus der Oberklasse.
»Mein Mann ist Bergbauingenieur«, erklärte Benedikte.
Tora glaubte, nach der Antwort einen winzig kleinen Seufzer gehört zu haben, aber sie war sich nicht sicher.
»Dann werden Sie also …«
»Lass uns du sagen, schließlich werden wir tagelang die Kabine teilen und dort oben vielleicht Nachbarn sein«, unterbrach Benedikte sie.
»Ja, natürlich. Willst du deinen Mann besuchen?«
»Besuchen? Nein, ich werde zu ihm ziehen. Ich werde dort mit ihm zusammenwohnen, bis er sich entschließt, in die Zivilisation zurückzukehren«, entgegnete Benedikte und nun war der Seufzer ganz deutlich zu hören. Die junge Bergenserin schien sich nicht sonderlich auf das Leben in der eisigen Polarregion zu freuen.
»Bist du schon einmal dort gewesen?«, fragte Tora.
»Nein. Und du?«
»Nein.«
»Aber du kommst aus Tromsø und bist Kälte und Dunkelheit gewohnt. Für mich ist das etwas anderes.«
»Ich weiß nicht. Auf Spitzbergen ist es im Winter sicher noch viel kälter und dunkler.«
»Meinst du? Ich dachte, es wäre genauso dunkel wie in Nordnorwegen.«
»Nein …«
»Aber ihr habt in Tromsø doch auch Mitternachtssonne?«
»Ja.«
»Darauf freue ich mich«, sagte Benedikte und lächelte verträumt. »Ich habe gehört, die Mitternachtssonne sei sehr schön. Genau wie die Nordlichter. Aber alles andere …« Sie schüttelte sich. »Ich verstehe eigentlich gar nicht, warum ich dorthin fahre, aber … was tut man nicht alles aus Liebe?« Sie lächelte. »Ja, du weißt, wovon ich rede. Ich gehe davon aus, dass du auch wegen deines Verlobten nach Norden reist!«
»Ja …« Tora dachte an das Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs. Das war ihr Geheimnis, das brauchte sie weder Benedikte noch sonst irgendwem zu verraten. Nicht bevor man etwas sehen konnte. Und dann würden sie und Anton verheiratet sein, wenn sich ein Pfarrer fand, der sie trauen konnte. Dann würde es wohl keine Schande mehr sein.
»Es freut mich sehr, dass wir uns kennengelernt haben.« Benedikte schenkte Tora ein warmherziges Lächeln, das Tora guttat. Auch wenn sie mit der Frau nur ein kurzes Gespräch geführt hatte, fühlte sie sich schon nicht mehr so schrecklich allein.
»Ich glaube, dass man dort oben keine große Auswahl an Freundinnen hat«, fuhr Benedikte Havre fort und trat ein paar Schritte zurück, als die schäumende Gischt über die niedrige Reling gefegt wurde. »Ich...




