E-Book, Deutsch, Band 1, 166 Seiten
Reihe: Polarnächte
Rafaelsen Polarnächte - Das Lied des Schicksals
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-98952-447-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman | Polarnächte, Band 1
E-Book, Deutsch, Band 1, 166 Seiten
Reihe: Polarnächte
ISBN: 978-3-98952-447-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ellinor Rafaelsen ist eine norwegische Autorin und Journalistin, die 1945 geboren wurde. In ihrer über drei Jahrzehnte währenden schriftstellerischen Laufbahn hat sich Rafaelsen als renommierte Autorin historischer Romane und Liebesromane etabliert. Inspiriert von ihren Reisen und ihrem siebenjährigen Aufenthalt in Spitzbergen hat Rafaelsen über 100 Bücher geschrieben, die die Leser mit lebendigen Beschreibungen und fesselnden Handlungssträngen in ihren Bann ziehen. Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre »Polarnächte«-Reihe mit den Bänden »Das Lied des Schicksals«, »Das letzte Schiff«, »Ein Leben voller Neuanfänge«, »Eine neue Hoffnung« und »Herzen in Aufruhr«.
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Kapitel 1
Als unser Herrgott die Erde erschuf, hatte er am Ende eine Handvoll Kies und Sand übrig. Er beschloss, diese Überbleibsel möglichst weit nach oben auf den nördlichen Teil der Erdkugel zu befördern, damit sie niemandem im Weg waren. Also schleuderte er sie in Richtung des Nordpols in dem Glauben, dass sie dort niemanden stören würden, da kein Mensch jemals dorthin gelangen würde.
Unser Herrgott sollte sich irren …
Tromsø, Ende Mai 1912
Das Geräusch ihrer Schuhsohlen auf dem Schotter war der einzige Laut, der in der stillen, hellen Frühlingsnacht zu hören war. Tapp, tapp … tapp, tapp …
Tora rannte, bis sie Seitenstechen bekam und ihr Tempo drosseln musste. Zum Glück waren es nur noch ein paar Meter bis zum rot gestrichenen Haus der Hebamme unten am Wasser. Sie schleppte sich die Treppe hinauf und drosch mit den Fäusten auf die verwitterte blaue Tür ein. »Karen, Hebamme Karen!«, rief sie und hämmerte weiter gegen die Tür. »Du musst kommen! Sofort! Es ist wegen Mutter. Du musst mitkommen!« In der nächtlichen Stille der Straße hallten ihre schrillen Rufe zwischen den Hauswänden wider.
»Jesus Christus! Was ist denn los?« Die Tür schwang auf und eine schlaftrunkene Frau stand vor Tora. Sie war um die sechzig und hatte das lange graue Haar zu einem nachlässigen Zopf geflochten. Mit kleinen Augen blinzelte sie das Mädchen an und bemerkte rasch, dass es unter dem offenen Mantel nur ein Nachthemd trug. Das rotbraun gelockte Haar umrahmte das bleiche, verängstigte Gesicht.
»Du musst kommen, Karen«, schluchzte Tora. »Meine Mutter …«
»Johanna … jetzt schon?« Karen Grønnli, die in der Gegend nur unter dem Namen ‚Hebamme Karen‘ bekannt war, sah Tora erschrocken an. Entsetzen spiegelte sich in den grünen Augen des Mädchens. »Bist du sicher? Es könnten nur Senkwehen sein …«
»Du musst mitkommen!« Tora umfasste den Arm der Hebamme, um sie aus der Tür zu zerren.
Doch Karen schob ihre Hände weg. »Lass mich in Gottes Namen zuerst etwas anziehen!«
»Aber es eilt! Mutter … sie blutet so schrecklich.«
Die letzte Bemerkung brachte die ältere Frau auf Trab. Innerhalb von Sekunden hatte sie ihre nackten Füße in ein paar abgetragene Schuhe geschoben und sich einen Mantel übers Nachthemd geworfen. Dann folgte sie dem Mädchen mit raschen Schritten zur Vestregate, wo Toras Mutter jetzt dringend ihre Dienste brauchte.
Was Tora erzählte, verhieß nichts Gutes. Karen hatte alle fünf Säuglinge entbunden, die Johanna Lyngvik bislang zur Welt gebracht hatte. Tora war die Erste gewesen. Kaum zu glauben, dass schon zwölf Jahre vergangen waren, seit dieses hübsche Mädchen aus dem Leib ihrer Mutter geflutscht war, unter schrillem Wutgeschrei, als hätte sie am liebsten dorthin zurückkehren wollen, wo sie hergekommen war. Nach Tora folgten wie am laufenden Band vier weitere Kinder. Zwei Mädchen und zwei Jungen. Und jetzt … Karen hatte Johannas Schwangerschaft nicht durch regelmäßige Untersuchungen betreut, das war ihr unnötig erschienen bei einer Frau, die das ja schon viele Male ohne jegliche Komplikationen durchgestanden hatte. Als Johanna fünf Monate zuvor wieder schwanger geworden war, hatte Karen damit gerechnet, dass es irgendwann im Spätherbst so weit sein würde – Anfang November wahrscheinlich –, aber noch nicht jetzt. Und Blutungen … das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Tora war besser zu Fuß als Karen und traf vor ihr zu Hause ein.
»Karen … Wo ist Karen? War sie zu Hause …« Edna Rutholm, ihre langjährige Nachbarin, trat Tora im Flur entgegen.
»Sie kommt!« Tora war so außer Atem, dass sie kaum sprechen konnte. »Sie ist gleich da …« Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, als die Hebamme schon hinter ihr auftauchte.
»Wo ist sie?« Karens Stimme klang schroff und bestimmt. »Wo ist Johanna?«
»Sie liegt oben … im Schlafzimmer. Ottar ist bei ihr.« Edna Rutholm rang ihre aufgesprungenen roten Arbeitshände. »Das kann ein schlimmes Ende nehmen.«
Tora steuerte die Treppe an, doch Karen drängte sie beiseite und eilte an ihr vorbei.
»Bleib hier unten, Tora«, befahl die Hebamme. »Oben bist du nur im Weg.«
»Aber Mutter …«
»Bleib hier oder geh zu deinen kleinen Geschwistern, falls sie wach werden«, schnitt Karen ihr das Wort ab und verschwand nach oben.
Ratlos blieb Tora am Fuße der Treppe stehen, und Edna legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.
»Geh du zu den Mädchen. Ich kümmere mich um die Jungs, falls sie aufwachen.«
Tora sah das verschreckte Gesicht der Nachbarin und spürte, wie nackte Angst ihr die Kehle zuschnürte. Die Situation war ernst. Das war allen anzumerken. Sie hatte es im Gesicht ihres Vaters gesehen, als er sie geweckt und zur Hebamme geschickt hatte, sie hatte es in Karens kleinen, verschlafenen Augen gesehen, und jetzt sah sie es in Ednas Augen hinter den runden Brillengläsern. Das hier war ernst.
Leise schlich Tora die Treppe hinauf. Durch die geschlossene Schlafzimmertür ihrer Eltern drang gedämpftes Gemurmel, als sie das Zimmer ansteuerte, das sie mit ihren beiden jüngeren Schwestern Astrid und Ester teilte. Astrid war acht und Ester war sechs. In der kleinen Dachkammer über dem Vorbau schliefen die Jungen, der vierjährige Jens und der neunjährige Kristoffer. Mit ihren zwölf Jahren war Tora die Älteste der Geschwisterschar, worüber sie sich oft beklagte. Denn auch wenn Kristoffer nur drei Jahre jünger war als sie, war immer sie es, die der Mutter zur Hand gehen musste, sei es bei der Kinderbetreuung, bei der Hausarbeit oder anderen Pflichten. Kristoffer konnte sich immer drücken, weil er ein Junge war. Und die anderen Mädchen waren noch zu klein, um verantwortungsvolle Pflichten zu übernehmen – nur wenn Tora etwas anderes zu tun hatte, mussten auch sie leichte Aufgaben erledigen.
In den vergangenen zwei Jahren hatte besonders viel auf Toras jungen Schultern gelastet. Wegen der raschen Geburtenfolge war die Mutter häufig krank und erschöpft, weshalb Tora ihre Rolle fast vollständig übernehmen musste. In gewisser Weise machte diese Verantwortung sie frühzeitig erwachsen. Doch hinter der altklugen und manchmal neunmalgescheiten großen Schwester gab es auch noch die kleine Tora, die sich danach sehnte, ein Kind sein zu dürfen.
Tora konnte sich kaum daran erinnern, wie es gewesen war, als Kristoffer und Astrid geboren wurden. Da sie damals noch so klein war, hatte man sie zu Edna gebracht, während Mutter zu Hause in den Wehen lag. Aber sie konnte sich noch gut an die letzte Geburt erinnern, als der kleine Jens zur Welt gekommen war. Sie hatte das herzzerreißende Jammern und die gellenden Schmerzensschreie zwischen den Wänden widerhallen hören. Sie wusste noch, wie sie mit den Geschwistern bei Edna in der Küche saß und Mutter schreien hörte, obwohl das Fenster des Elternschlafzimmers und Ednas Küchenfenster beide geschlossen waren. Tora erklärte damals, dass sie niemals – niemals im Leben – ein Kind zur Welt bringen wollte. Edna hatte gelächelt und geantwortet, dass alle Frauen nach einer Geburt dasselbe sagen würden. »Nie wieder«, schworen sie. Aber das vergaß man, sobald das Kind auf der Welt war, und Tora würde bestimmt einen ganzen Haufen Kinder bekommen, wo sie doch so gut mit den Kleinen fertig wurde.
Edna sollte recht behalten. Mutters Schmerzensschreie waren vergessen, als Tora den kleinen Jens in den Armen halten durfte und das hübsche kleine Gesicht mit den dunklen Augen betrachtete, die fragend zu ihr aufblickten. Und in den vier Jahren seit Jens’ Geburt hatte sie kein einziges Mal gedacht, dass sie keine Kinder bekommen wollte, wenn sie erwachsen wäre. Edna hatte recht, so etwas vergaß man …
Trotzdem stand der Traum von einer großen Kinderschar nicht im Mittelpunkt, wenn Tora und ihre beste Freundin Kitty Antonsen über ihre Zukunft sprachen. Kitty wollte gern Krankenschwester werden. Sie wohnte in der Nähe des Krankenhauses, in dessen Keller ihre Mutter als Wäscherin beschäftigt war. Ab und zu durfte Kitty ihre Mutter dorthin begleiten, und der Anblick der jungen Krankenschwestern mit ihren blauweißen Uniformen und den gestärkten Hauben ließ Kitty davon träumen, eines Tages auch eine solche Uniform zu tragen und sich in den Fluren des Krankenhauses zu Hause zu fühlen.
Toras Träume waren weniger konkret. Mal wollte sie Lehrerin werden, ein andermal stand Verkäuferin ganz oben auf ihrer Wunschliste. Vielleicht würde sie aber auch in einer Bank arbeiten wie ihr Vater. Sie wusste nicht genau, ob das für Frauen möglich war, denn dort, wo ihr Vater arbeitete, gab es nur Männer. Doch ihr größter Traum, über den sie allerdings nicht laut reden mochte, erwachte immer im Sommer zum Leben, wenn Fremde in die Stadt kamen. Wenn es im Hafen von bekannten und unbekannten Booten wimmelte. Dann fuhren sie ein, die Fangschiffe aus dem Nordmeer, voll beladen mit wunderschönen weißen Fuchs- und Eisbärfellen – ja, und manchmal hatten sie sogar lebendige Eisbärjungen an Bord. Es war immer Leben und Trubel in der Stadt, wenn die raubeinigen Pelztierjäger die Bierstuben und Kaffeehäuser füllten und in schweren Stiefeln aus Seehundsfell und Anoraks mit pelzverbrämten Kapuzen umherwanderten.
Aber es waren nicht die Pelztierjäger und deren Schoner, die Toras Neugierde am allermeisten weckten. Es war das eher seltene, aber umso aufregendere Einlaufen ausländischer Kreuzfahrtschiffe. Große, schöne Segelschiffe – ja, es gab auch modernere Dampfschiffe – mit Touristen von weither, die jede Menge Geld und Abenteuerlust besaßen und etwas Exotisches auf ihren Reisen erleben wollten. Für Leute aus Frankreich, England und Italien waren Tromsø und die...