E-Book, Deutsch, 140 Seiten
Rastorgueva Das Russlandsimulakrum
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7518-0804-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland
E-Book, Deutsch, 140 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0804-0
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Irina Rastorgueva, 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren, studierte Philologie an der Staatlichen Universität Sachalin und arbeitete als Kulturjournalistin für mehrere russische Zeitschriften und Radiosender. 2006-2015 war sie Dozentin für Journalistik an der Staatlichen Universität Sachalin. Sie ist Autorin zahlreicher wissenschaftlicher Artikel über die Theorie und Geschichte der Literatur und des Journalismus des 20. Jahrhunderts. 2011 gründete sie das Kulturmagazin ProSakhalin. Von 2011 bis 2017 war sie Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin und künstlerische Produktionsleiterin des Far Eastern Theatre Forum / Theatre go round Festival in Sapporo 2015. Seit 2017 arbeitet sie frei als Dramaturgin und Regisseurin in Berlin und schreibt u. a. für die Berliner Zeitung, die FAZ und das Magazin Osteuropa. Seit 2021 hält sie Vorlesungen an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Department Design.
Autoren/Hrsg.
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2. Auf der Suche nach der nationalen Idee
Was man nicht alles wollte: hier die Verfassung, da Stör mit Meerrettich, hier irgendjemanden beleidigen.
SALTYKOW-SCHTSCHEDRIN, Kulturmenschen
Das gesamte Jahr 2021 hindurch kämpfte die russische Regierung unermüdlich gegen die Verwestlichung der Bevölkerung, bekämpfte Kundgebungen und Proteste, die nach Ansicht der führenden Politiker der machthabenden Partei »Einiges Russland« von ausländischen Agenten und anderen unerwünschten Organisationen initiiert wurden. Tausende Menschen wurden verhaftet, zu Geldstrafen verurteilt, verprügelt und in Gefängnissen gefoltert, weitere Tausende mussten aus Angst um ihr Leben aus Russland fliehen. Dutzende von Menschenrechtsorganisationen wurden aufgelöst. All das geschah unter dem Motto: »Nieder mit den prowestlichen Werten, Russland hat seinen eigenen Weg.«
Einer der Ideologen des Putinismus, Wladislaw Surkow, ein ehemaliger Berater des Präsidenten, führte 2006 das Konzept der souveränen oder gelenkten Demokratie ein, das den Schwerpunkt auf die Nichteinmischung anderer Staaten in die Innenpolitik Russlands legt und nach Surkows Definition eine andere Art von Demokratie als der Liberalismus ist. Die Verwendung des Begriffs im politischen Leben Russlands gab Anlass zur Wiederbelebung einer sowjetischen Anekdote: »Was ist der Unterschied zwischen Demokratie und souveräner Demokratie? Derselbe wie zwischen einem Stuhl und einem elektrischen Stuhl.«
Surkows zweites Ideologem war die Formel des »langwährenden Staats Putins«, benannt nach einem im Februar 2019 veröffentlichten gleichnamigen Artikel. Demzufolge sei Russland der Putinismus für eine lange Zeit gegeben, mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts, in Zahlen: bis 2100. Ungefähr. Deshalb, meint Surkow, »scheint es nur so, als hätten wir eine Wahl«.
Putins große politische Maschine nimmt gerade erst an Fahrt auf, also decken Sie sich mit Popcorn ein, denn: »Es steht eine Menge interessanter Arbeit bevor.« Surkow argumentiert, dass Putins Staat erst der vierte Staatstyp in der Geschichte des Landes sei: Der erste Typ war der Staat Iwans des Dritten, dann der Staat Peters des Großen, der Staat Lenins und jetzt der Staat Putins. In Surkows Konzept wird Putin zu einer sakralen Figur, einem Mythologem, einem Zaren, einem Sammler russischer Ländereien. Heute sei das Land »von der Ebene der UdSSR auf die Ebene der Russischen Föderation gesunken, aber dieses Russland hört auf zu zerfallen, beginnt sich wiederherzustellen und kehrt zu seinem natürlichen und einzig möglichen Zustand, dem einer großen, wachsenden und Länder sammelnden Gemeinschaft der Völker zurück« – das heißt, der Krieg im Donbass und die annektierte Krim sind nicht die Grenze. Surkow erklärt die Brutalität des Repressionsapparats damit, dass das Volk »die Friedfertigkeit nicht für einen Vorteil des Zaren hält«. Die Wählerschaft bezeichnet er als das »tiefe Volk«, das »seinen eigenen Kopf, außerhalb der Reichweite soziologischer Umfragen, außerhalb von Agitation, Drohungen und anderen Methoden direkter Untersuchung und Beeinflussung hat«. Und es hat auch eigene Qualitäten: »Mit seiner gigantischen Supermasse schafft das tiefe Volk eine unwiderstehliche kulturelle Schwerkraft, die die Nation zusammenhält und die Eliten, die von Zeit zu Zeit versucht haben, sich kosmopolitisch zu erheben, zurück zum Boden, zur Heimat, zieht.« So grenzt Surkow die Eliten und »das Volk« ab. »Und«, führt er weiter aus, »die Eliten brauchen das Volk als Balance, um sich an das Alltägliche zu erinnern.« In Wirklichkeit jedoch brauchen die Eliten niemanden in Russland. Sie haben eine schreckliche Volksphobie, sie haben Angst, überhaupt mit »dem Volk«, oder was immer sie dafür halten, zu sprechen. Nicht ein einziges Mal sind die derzeitigen Behörden auf die Demonstranten zugegangen und haben Verhandlungen angeboten oder aufgenommen. Nicht ein einziges Mal in den letzten zehn Jahren. Seit der Niederschlagung der Bolotnaja-Proteste 2012 ist der Dialog erstorben.
Surkow erschafft diese neue und völlig unbrauchbare ideologisierte Mythologie mithilfe bereits entmythologisierter Mythen. Er versucht, tote Ideen wiederzubeleben und in der Mitte dieser Nekropole Putin als Unumschränkten zu setzen. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist Russland zu einem Land der toten Helden und der toten Ideen geworden. Alles Neue wird sofort vernichtet, als zu fremd, zu revolutionär, zu gefährlich erachtet. Denn das Lebendige ist für jede Nekropole bedrohlich. Deshalb sind die Geschichte, der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, die Gräber der Soldaten, die toten Veteranen (um die lebenden kümmert sich die Regierung nicht), die religiösen Prozessionen, Lenin im Mausoleum und das Anhäufen von Blumen am Denkmal Stalins so wichtig. Die Verehrung der Toten erreicht im heutigen Russland ein noch nie dagewesenes Ausmaß, und vielleicht ist es das, was man als neue Ideologie betrachten sollte. Dann wird der Krieg nämlich zum natürlichen Zustand eines toten Landes. Deshalb wird der Krieg regelmäßig und akribisch vorbereitet, deshalb wird die mottenzerfressene, verfallene Siegerfahne mit solcher Sorgfalt getragen. Sie zeigt, dass der Krieg immer noch da ist, immer noch gewonnen wird. Neben dem endlosen Siegesrausch wurde im Jahr 2021 eine staatliche Norm für die dringliche Bestattung von menschlichen und tierischen Leichen in Kriegs- und Friedenszeiten verabschiedet. Angesichts der jüngsten Ereignisse wirkt dieses Dokument, als ob es auf die Zukunft der Einwohner des Landes in einem Massengrab hindeutet, und das, besonders rührend, zusammen mit ihren Tieren.
Diese Vorstellung von Russlands einzigartiger Entwicklung ist nicht neu und entstand zuerst als posttraumatische Reaktion nach dem Krieg mit Napoleon, als deutlich wurde, dass Europa nach anderen Gesetzen lebte, dass es fortschrittlicher und progressiver war. Dass das Leben zu weiten Teilen leichter, angenehmer war. Die Intelligenz war durch diese Informationen aufgewühlt. Der Philosoph Pjotr Tschaadajew war einer der Ersten, die sich deutlich und lautstark entsetzt zeigten. Er wurde für geisteskrank erklärt und mit einem Publikationsverbot im Russischen Reich belegt. Im ersten seiner »Philosophischen Briefe« schreibt er:
Wir Russen gehören zu keiner der großen Familien des Menschengeschlechts. Wir gehören weder zum Westen, noch zum Osten. Weil wir gleichsam außerhalb der Zeit stehen, wurden wir von der universellen Erziehung des Menschengeschlechts nicht berührt. Generationen und Jahrhunderte sind ohne Nutzen für uns dahingegangen. In der Welt vereinsamt, haben wir der Welt nichts gegeben, haben keine einzige Idee in die Masse der menschlichen Erfahrungen hineingetragen, haben durch nichts am Fortschritt der menschlichen Vernunft mitgewirkt und alles, was uns von diesem Fortschritt zuteilwurde, das haben wir entstellt. In unserem Blut ist etwas, was jedem Fortschritt feind ist. Wir sind eine Lücke in der moralischen Weltordnung!
In der posttraumatischen Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Nachfrage nach einer nationalen Idee logischerweise gestiegen. Und die Versuche, eine solche zu formulieren, dauern bis heute an, der Bedarf scheint immens. Moderne Ideologen verwenden dabei eine eher ungewöhnliche Terminologie. Der Publizist, Wirtschaftswissenschaftler und Politologe Dmitri Travin hat 2018 ein Buch mit dem Titel ?????? ???? ??????. ?? ???????????? ?? ????????????? (»Der besondere Weg Russlands: Von Dostojewski bis Kontschalowski«) geschrieben, in dem er eine Reihe nationaler Ideen analysiert. Der politische Philosoph und Religionssoziologe Alexander Schtschipkow beispielsweise habe den Begriff des »Genotyps der Nation« eingeführt und argumentiert, dass dieser durch eine tiefe russische Religiosität definiert sei. Der Historiker und politische Analyst Walerij Soloveij argumentiere, dass im Herzen der russischen ethnischen Besonderheit ein bestimmter »Archetyp der Macht« liege – die Russen hätten sich im Laufe der Geschichte immer gern regieren lassen. Und der Kulturwissenschaftler und Philosoph Igor Jakowenko behauptet, dass die russische Zivilisation »den kulturellen Code des Manichäismus« besitze – eine dualistische religiöse Lehre, die Elemente des Zoroastrismus, des Christentums, des Buddhismus und einer Reihe anderer alter Glaubensrichtungen vereint. Der Versuch, das »Russentum« zu entdecken und zu spezifizieren, es in einer Art Code, Archetyp oder Genotyp zu fixieren, zeigt, dass die Ideologen des »besonderen Weges« versuchen, ihre Vorstellungen in den wissenschaftlichen Diskurs einzupassen und...




