E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Rathenow / Martin Trotzig Lächeln und das Weltall streicheln
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98568-051-1
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mein Leben in Geschichten
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-98568-051-1
Verlag: Kanon Verlag Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lutz Rathenow wurde 1952 in Jena geboren. Er schrieb Lyrik und Prosa für Kinder und Erwachsene. Als Journalist und Schriftsteller setzte er sich für die Aufarbeitung der SED-Diktatur ein und war von 2011-2021 Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Er lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 2
Die weite weite Welt
leben
Die rettende Insel suchen
um sie zu versenken.
So dass für die Flucht
nur eine Möglichkeit bleibt:
auszuharren
1979
Ohne Anfang
Die letzten Töne der Gruppe. Das Band ist zu Ende. Sie hat die Augen noch geschlossen. Er löst sich aus der Umarmung und geht zum Fenster. Jetzt stürz ich mich raus, sagt er. Mach mal das Joplinband, sagt sie, öffnet die Augen und hebt ihre Hände. Das Fenster klemmt. Ich lebe in einer Deutschen Demokratischen Republik, ruft er. Ihre Hände ballen sich zusammen, öffnen sich, werden Faust, auseinandergestreckt. Der Fenstergriff bewegt sich nicht, er pocht dreimal dagegen. Joplin, mach schon, sie betrachtet ihre Hände. Drei Stapel mit Bändern, er sucht die richtige Rolle. Morgen früh verschlafe ich, sie beobachtet ihre Hände, morgen früh werde ich nicht wissen, wer ich bin, beobachtet die Bewegungen der Hände, nicht wissen, wo wann ich wer zu sein habe, die Hände drehen sich in der Luft, wo wann ich was, die Hände schneiden Spiralen, wo wann ich wie was zu tun habe. Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz. Sein Kopf zuckt zurück, weil die Stimme plötzlich da ist. Oh Lord, won’t you buy me a color TV. Er tritt zum Fenster und kann es jetzt öffnen. Sie schließt wieder die Augen. Neben den Beinen wippen ihre Hände im Takt. Er sieht, dass es draußen dunkel wird. Es zieht, sie spricht leise. Die Deutsche Demokratische Republik ist der erste deutsche Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden in der deutschen Geschichte. Er bekreuzigt sich. Janis war doch die Größte, sie hebt das rechte Bein an, lässt es auf das Bett fallen. Er merkt, dass es draußen kühl ist. Janis, Lenin, Hendrix, Mao und Che, sie hebt das linke Bein und lässt es fallen. Cry Baby, singt Joplin. Und nun, er stützt die Arme auf den Fensterrahmen, nun werde ich mich abstoßen, werden meine Arme mich tragen über diese Stadt hinaus, er beugt sich vor, über dieses Land, alle Länder, hinweg über die Wolken, er schreit fast, fliegen irgendwohin, weg weg weg, er fällt in das Zimmer zurück. Du wirst dich erkälten, sagt sie. Er zögert, holt einen Stuhl, steigt auf den Stuhl, singt: Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint, denn es muss uns doch gelingen, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint, über Deutschland scheint. Ihre gespreizten Hände auf dem Gesicht: Ich möchte Königin sein und rote Fahnen werden auf meinen Palästen wehen. Wenig Arbeit werden sie mit mir haben, er steht noch auf dem Stuhl, ich bin so freundlich und bleibe nackt, ein kompakter Klumpen wird der Körper sein, sie müssen nicht erst die Sachen vom Fleisch ziehen. Bye, bye, Baby, o Baby, good bye. Mach lauter, sagt sie. Er steigt auf das Fensterbrett: Aus welchem Stock man wohl springen muss, um vorher ohnmächtig zu werden? Sie sieht das Plakat an der Decke, ihre Finger zeichnen die Umrisse nach. Er steht auf dem Fensterbrett, gebückt, weil es zum Aufrichten zu eng ist, er steht auf dem Fensterbrett und spricht: Ich bin ein Vogel, gleich werde ich ein Stein sein. Aber mach das Fenster noch zu, sagt sie, ich frier schon. Er bückt sich. Auf dem Band eine Pause, dann Summertime. Er beugt sich vor, dreht sich herum, versucht ihr ins Gesicht zu sehen. Sie hat die Augen geschlossen und liegt ganz ruhig. When the cotton is high. Diese Stimme, sagt er und springt neben den Stuhl. Er dreht das Tonbandgerät voll auf und legt sich neben sie. Warum nahm die bloß Rauschgift, ihre Hand kommt auf seine Brust. Why not, er lacht, dein Körper ist schön, er streichelt ihren Hals, eine verführerische Leiche könntest du sein. Sie richtet sich auf: Nein, jetzt liegst du unten. Als nächstes wird Janis Joplin Peace of my heart singen. Er liegt, bewegt sich nicht. Als nächstes werden wir mit der Weltrevolution beginnen, ihre Hände halten sein Gesicht. Und uns zuvor abwechselnd aus den Fenstern stoßen, seine Arme auf ihrem Rücken. Janis Joplin beginnt mit Peace of my heart. Er öffnet den Mund. Lass das jetzt, sagt sie und schließt die Augen.
Ein böses Ende
Der König verkaufte jeden Tag ein Stück seines Staates und kaufte sich für das verdiente Geld einen Soldaten.
Als er Tag für Tag Stück für Stück verschachert hatte, besaß er fast kein Land mehr, aber eine stattliche Armee. Mit dieser eroberte er sein ehemaliges Reich zurück und ein paar Quadratkilometer hinzu.
Das neu gewonnene Land hätte der König verkaufen können, um seine Armee zu vergrößern. Um mit dieser anschließend das Verkaufte zurückzuholen – und wieder ein Stück dazu … aber jeder würde ihn durchschauen.
Er verzichtete auf weitere Kriege und entließ die teure Armee. Jetzt verfügte er über ausreichend Land und genügend Geld. Nur die entlassenen Soldaten waren unzufrieden und stürzten den König.
Drei Generäle
1
Das hätte nicht kommen dürfen. Das nicht. Die Truppen lagerten zerlöchert zwischen den Sträuchern, lädiert und desertiert bei ihren Frauen. Er hatte Kampf bis zuletzt befohlen. Als der Fastletzte fiel, zog er sich zurück und sprengte den Geheimgang, durch den er geflohen war. Ein Schreckenstag. Die Sonne leuchtete unbarmherzig. Der General gähnte. Niederlagen ermüden. Dem Herrscher hatte er es gesagt. Gefechtslose Zeiten sind ein Übel, der Soldat verkommt, die Truppe verfällt. Langer Frieden zahlt sich jämmerlich aus. Ordentliche Kriege können nur geführt werden, wenn regelmäßig Kriege geführt werden. Der General seufzte und ging durch den Wald. Ihn schmerzte besonders, dass nicht einmal ein anständiger Rückzug, eine gelungene Kapitulation zustande gekommen war. Und er hatte auch nicht den Mumm aufgebracht, in hinterster Reihe entschlossen zu sterben. Dem eigenen Herrscher konnte er so nicht mehr unter die Augen treten, weil er nicht bis zum letzten Mann gekämpft hatte. Dem fremden Herrscher konnte er nicht unter die Augen treten, weil er bis zum fastletzten Mann gekämpft hatte. Beide ließen ihn sicher erschießen, des Reglements wegen, das dererlei vorschrieb. Das Volk murrte, etwas zu seiner Beruhigung musste getan werden, eine Besserung der Lage versprechende Geste. Dafür boten sich geschlagene Generäle geradezu an. Es blieb sein Versagen, die Konsequenzen galt es zu überdenken. Der General degradierte sich. Die Schulterstücke saßen – fester als erwartet und flogen mit dem zweiten Ruck in den Tümpel. Hier, in freier Natur, wenige hundert Meter vom Ende des zerstörten Geheimganges entfernt, muss eine Entscheidung getroffen werden, beschloss der General. Drei Uniformknöpfe fehlten, der Stoff war zerfetzt, die Naht an zwei Stellen aufgeplatzt – ein niederschmetternd unmilitärisches Aussehen. So konnte er nicht in die Öffentlichkeit und schon gar nicht zu seiner Hinrichtung. Ihm schauderte vor dem unakkuraten Anblick, den die Leiche bieten würde. Und möglicherweise erschoss der eigene Herrscher ihn nicht, weil er bis zum fastletzten Mann gekämpft hatte; vielleicht erschoss der fremde Herrscher ihn nicht, weil er nicht bis zum letzten Mann gekämpft hatte. Vielleicht, unter Berücksichtigung seines Alters, versetzte man ihn in den Ruhestand. Diese Schande, ihn fror. Er war General und brauchte Soldaten. Lieber sterben wie ein Hund als leben wie ein Mensch. Er nickte.
»Still – gestanden!«, befahl der General. »Abteilung – kehrt!« Die Wendung kam präzise. Er freute sich, dass die Stimme den forschen Klang behalten hatte, nur das Echo vom Exerzierplatz fehlte, was sonst seinen Worten nachdrücklich Wirkung verlieh.
»Ohne Tritt – marsch!«
Es klappte. Die Stiefel befanden sich glücklicherweise noch in einwandfreiem Zustand. »Abteilung – halt!« Der General fühlte sich besser. Er war stolz, dass es noch jemanden gab, der prompt seine Befehle ausführte. Keine Niederlage vermag das zu vernichten, dachte er.
»Gewehr – über!«
Er überlegte, wie man sich stellen musste, dass mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit der Körper ins Wasser fiel. »Legt – an!« Das Knacken beim Entsichern der Waffe.
»Gibt es Fragen?«, brüllte der General. »Nein«, antwortete er.
Der General träumte einen letzten Wunsch: Trommelwirbel, Exekutionskommando, standesgemäße Verrichtung der Hinrichtung.
»Feuer!«
Als er zögerte, bestrafte er sich wegen Befehlsverweigerung mit dem Tod durch Erschießen und drückte ab.
2
Er zuckt zusammen, verschüttet etwas Tee, trinkt hastig den Rest, ehe dieser noch den Einband beschmutzen könnte. Bevor er die leere Tasse auf dem Tisch absetzt,...